Ausüben von häuslicher Gewalt und Erziehungsfähigkeit

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Transcript Ausüben von häuslicher Gewalt und Erziehungsfähigkeit

Häusliche Gewalt und
Umgang
Heinz Kindler (Deutsches Jugendinstitut)
Fachtag anlässlich mehrerer Projektjubiläen des Vereins
Frauen für Frauen, Ludwigsburg
Oktober 2011
Quelle: Lercher et al. (1997). Weil der Papa die Mama haut. Ruhnmark: Donna Vita.
Aufbau des Tages
• Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf
Kinder und das Kindeswohl
• Grundorientierung: Umgang und
Kindeswohl
• Häusliche Gewalt, Kindeswohl und
Umgang
• Fallerörterungen und Perspektiven
• Arbeitszeiten: 10-12:30, 13:30-16:00
Empirische Arbeiten zu Auswirkungen von
Partnerschaftsgewalt auf Kinder
- jährlicher Schnitt 6,7
7
6
5
4
3
2
1
1,2
0
0,15
0
1887-1973
1974-1987
1988-1998
1999-2008
Datenbank: Psychinfo, Suchbegriffe: domestic violence, woman battering, interparental violence & child development
Zusammenhänge zwischen dem Erleben
von häuslicher Gewalt und der
Entwicklung von Kindern
hauptsächlich untersuchte Bereiche:
• Verhaltensauffälligkeiten / psychische
Gesundheit
• Merkmale der schulischen Entwicklung
• Merkmale der sozialen Entwicklung
• Belastungserleben
Erleben von häuslicher Gewalt und
Verhaltensauffälligkeit
Raten klinischer Auffälligkeit im Vergleich zu Kontrollgruppen
Risk Ratio
2,3
5,6
Externalisierung (4 Studien)
Internalisierung (3 Studien)
mittlerer Unterschied in der Belastung durch Verhaltensauffälligkeiten
(Effektstärke, insgesamt mehr als 8.000 einbezogene Kinder)
d Statistik
Externalisierung
Internalisierung
0.43 - 0.61 (moderater Effekt)
0.40 - 0.81 (moderater bis starker Effekt)
(Meta-Analysen von Kindler, 2002; Kitzman et al., 2003; Wolfe et al., 2003;
Sternberg u.a., 2006; Evans u.a. 2008)
Schulische und soziale Entwicklung bei einer
Belastung durch häusliche Gewalt
Schulische Entwicklung:
mittlerer Unterdrückungseffekt auf IQ je nach Schwere der Gewalt:
zum Vergleich: mittlerer Fördereffekt bei intensiver Förderung:
mittlere Rate von Fähigkeitsrückständen von einem oder mehr
Jahren in Kernfächern
5-8 IQ Punkte
9 IQ Punkte
ca. 40 %
Soziale Entwicklung:
Mehrere Längsschnittstudien über 20 bzw. 21 Jahre zeigen Zusammenhänge
zwischen einem Erleben von Partnerschaftsgewalt in der Kindheit und der
Bereitschaft, Gewalt in eigenen Partnerschaften auszuüben bzw. zu erdulden
Häusliche Gewalt und körperliche
Verletzungen bei Kindern
• Verletzungen des Kindes während der
Schwangerschaft
• Verletzungen, wenn das Kind während der
Gewalt auf dem Arm gehalten wird
• Verletzungen, wenn das Kind zu intervenieren
versucht
• Medea Syndrom: zielgerichtete Verletzungen
um Partnerin zu kontrollieren oder zu bestrafen
• Psychneuroimmulogische Effekte
Häusliche Gewalt als Ursache von
Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung
Hinweise auf einen tatsächlich kausalen Effekt:
• Längsschnittstudien
• Dosis - Wirkungszusammenhang
• Ausschluss bzw. Kontrolle anderer
Möglichkeiten
• Aufklärung der Vermittlungszusammenhänge
Vorliegen eines Dosis - Wirkungs Zusammenhanges
Ausmaß an häuslicher Gewalt durch den Vater
Nie
Störung Sozialverhalten
3,7%
Angststörung
13,3%
Depression
17,9%
Alkoholabhängigkeit
14,7%
mehrere Gewaltstraftaten 8,2%
ein Vorfall
3,5%
19,4%
21,8%
23,9%
7,4%
zwei Vorfälle
11,1%
22,2%
31,8%
34,9%
19,1%
> zwei Vorfälle
17,0%
43,4%
60,4%
32,1%
24,5%
(Quelle: Fergusson & Horwood, 1998, Dunedin Längsschnittstudie, NZL)
Aufklärung von Vermittlungszusammenhängen
.
Schuldgefühle
.17*
.87**
Internalisierung
Partnerschaftsgewalt
Nicht signifikant
.69**
.54**
Gefühl des
Bedrohtseins
Grych et al. (2002)
Zwischenresümee zu Block 1
• Ein Erleben von häuslicher Gewalt des (sozialen) Vaters
gegen die Mutter oder beider Elternteile gegeneinander
geht bei betroffenen Kindern im Mittel mit deutlichen
Beeinträchtigungen einher, die in einem oder mehreren
Bereichen auftreten können.
• Bei einer substanziellen Minderheit der Kinder zeigen sich
behandlungsbedürftige Beeinträchtigungen und/oder es
kommt zu körperlichen Verletzungen.
• Das Miterleben von häuslicher Gewalt scheint auch selbst
eine ursächliche Rolle beim Auftreten von Belastungen im
kindlichen Entwicklungsverlauf zu spielen.
• International wächst in den westlichen Demokratien daher
der Konsens, dass Jugendhilfe, Gesundheitshilfe, Familiengerichtsbarkeit und Polizei häusliche Gewalt als
Kindeswohl-Thema aktiv aufgreifen müssen.
Grundorientierung: Interventionen
nach Partnerschaftsgewalt
• Gerichtliche Schutzanordnungen /
Strafverfolgung: im Mittel positive Effekte,
bei einer kleinen Gruppe Gewalteskalation
• Begleitung und Unterstützung betroffener
Frauen (Meta-Analyse Ramsay et al. 2009, pos.
Beispiele: Sullivan)
• Förderung der Erziehungsfähigkeit: Jouriles
et al. 2009
• Gewaltzentrierte Interventionen mit Männern
• Entlastende Angebote für Kinder (Rizo 2011)
Umgang und Kindeswohl
• Zum Kindeswohl gehört in der Regel der
Umgang mit beiden Elternteilen (§1626
Abs. 3 BGB)
• Empirisch belegbar vor allem bei
– Positiver Eltern-Kind Beziehung
– Einigermaßen verantwortungsvollem
Erziehungsverhalten
– Konfliktniveau kann begrenzt werden
• (Friedrich, Reinhold & Kindler 2011)
Das Gericht kann… (§ 1684)
• ..den Umgang vorübergehend aussetzen,
wenn es das Kindeswohl erfordert
• ..den Umgang für einen befristeten, aber
längeren Zeitraum ausschließen, wenn
andernfalls das Kindeswohl gefährdet
wäre
• ..den Umgang im Hinblick auf Umfang und
Ausübung regeln, Maßstab: Kindeswohl,
Aber: Ziel Vereinbarkeit der
Grundrechtspositionen
Weitere Vorschriften
• Das Gericht kann bei wiederholter und
erheblicher Verletzung der
Wohlverhaltensvorschrift eine
Umgangspflegschaft einrichten: § 1684
(3)
• Das Gericht hat eine beschränkte Pflicht
auf Einvernehmen hinzuwirken und
einvernehmliche Umgangsregelungen zu
billigen (§ 156 FamFG)
Kann im frühen ersten Termin nach §
155 FamFG keine einvernehmliche
Umgangsregelung erzielt werden
• ..hat das Gericht den Erlass einer eA zu
erörtern und zu prüfen
• ..soll das Gericht bei Anordnung von
Beratung / Begutachtung den Umgang
per eA regeln oder ausschließen und
davor das Kind anhören
Jedes zweite Wochenende …
• Empfehlungen vor 20 Jahren:
– Umgangsregelung soll der Mutter überlassen
bleiben (Goldstein et al. 88)
– Ein Sonntag im Monat (Albrecht & Bengsohn
83)
– Ein Wochenende im Monat (Arntzen 80)
– Ein langes Wochenende im Monat (Klußmann
82)
• Jetzt häufigste Regelung (JZWE), aber
durchaus besondere Regelungen und
erhöhte Anzahl an Ausnahmen bei
bestimmten Fallgruppen
Häusliche Gewalt, Umgang und Kindeswohl
• Eingeschränkte Übertragbarkeit der
Regelvermutung auf Kinder nach häuslicher
Gewalt:
– Besonders belastete Gruppe
– Schutzanspruch vor neuerlichen
Gewalterfahrungen
– Vorrang wenigstens einer positiven
Vertrauensbeziehung
– Teilweise gravierend eingeschränkte Beziehungsund Erziehungsfähigkeiten
• Einzelfallbezogene Entscheidungsfindung
unter Einbezug Risikoeinschätzung,
gewaltbedingte Belastung und
Kontaktfähigkeit
Anzeichen einer Traumatisierung nach
häuslicher Gewalt
Graham-Bermann & Levendosky, 1998, N=64, 7-12 Jahre:
• Ca. 50 % traumatisches Wiedererleben
• Ca. 40 % erhöhtes Erregungsniveau
• Ca. 20% Vermeidungsreaktionen
Levendosky et al., 2002, N=39, 3-5 Jahre
• Ca. 80% traumatisches Wiedererleben
• Ca. 90% erhöhtes Erregungsniveau
• Ca. 3% Vermeidungsraktionen
Derzeit 6 Studien: Insgesamt starker Effekt (d=1.54; Evans u.a. 2008)
Ähnliche ausgeprägte Traumatisierungsanzeichen wurden bei Kindern nach
Verkehrsunfällen oder Hundeattacken gefunden, höhere Werte nach dem
Miterleben eines gewaltsamen Todesfalls in der Familie
Unter Umständen Unvereinbarkeit Traumabehandlung und Umgang
Fortsetzung von Gewalt in
Trennungssituationen
• Relativ hohe Grundrate fortgesetzter
oder eskalierender Gewalt, wenn es vor
der Trennung bereits zu häuslicher
Gewalt gekommen ist
• Im Einzelfall risikoerhöhende oder
risikomindernde Faktoren
• Hohe Rate an Gerichtsstreitigkeiten,
daher evtl. Überrepräsentation im
Gerichtsalltag
Bindungsdesorganisation nach häuslicher
Gewalt
• Häusliche Gewalt scheint in der Hälfte bis der
Mehrheit der Fälle die Bindungsbeziehung zu beiden
Elternteilen beobachtbar zu desorganisieren.
• Desorganisation: Verlust emotionaler Sicherheit,
momentane Zusammenbrüche organisierten
Bindungsverhaltens gegenüber den Bindungspersonen
• Wenigstens eine organisierte Bindung ist für eine
gesunde psychische Entwicklung bedeutsam
• Umgang unter belastenden Bedingungen kann
desorganisierend wirken
• Unter Umständen Abkehr vom ansonsten sinnvollen
Prinzip der Erhaltung möglichst aller Bindungen
zugunsten der Möglichkeit zur Konsolidierung
zumindest einer Bindung
Ausüben von häuslicher Gewalt und
Erziehungsfähigkeit
• In der Praxis stellenweise Vorannahme:
Ausüben von häuslicher Gewalt und
Erziehungsfähigkeit seien unabhängig
• Aber 16 Studien: Starker
Zusammenhang zum Risiko von
Kindesmisshandlung, Risk Ratio 6-12,
deutlicher Dosiseffekt, risikoerhöhende
bzw. risikomindernde Faktoren im
Einzelfall beachten.
Ausüben von häuslicher Gewalt und
Erziehungsfähigkeit
• Moderate Zusammenhänge zu erhöhter
Selbstbezogenheit oder übermäßiger Strenge,
d.h. teilweise fällt eine kindbezogene
Kontaktgestaltung schwer
• Starke Zusammenhänge zu Einschränkungen
der Bindungstoleranz
• In manchen Fällen einer Geschichte
ausgeübter häuslicher Gewalt reicht es nicht
den Focus auf die Verhinderung fortgesetzter
Partnerschaftsgewalt zu richten
Was heißt das für den Einzelfall?
• Generell Einzelfallprüfung statt pauschaler
Regelungen
• Einvernehmen als riskantes und z.T. belastendes
Ziel (Kaspiew et al. 2009), stattdessen z.T.
stärkeres Auftreten von Institutionen als
Kindeswohlwächter
• Häufiger vertiefende Klärungsaufträge
• Entscheidungskriterien+: Gewaltrisiko, Ausmaß
Traumatisierung und Behandlungsbedürftigkeit,
Ziel: Traumasensible Jugendhilfe und Familienrechtsprechung
Zwei Fallbeispiele
• Zwei junge Eltern, 3-jähriges Mädchen,
verwickeltes Trennungsmuster,
gewalttätig eskalierende
Übergabesituationen
• Älterer deutschstämmiger Vater, junge
rumänischstämmige Mutter, 8-jähriges
Mädchen, 4-jähriger Junge, Mutter
nach Trennung sehr verängstigt, hat
sehr wenig Vertrauen zu Gericht und
Jugendhilfe
Und noch eins
• Elternpaar mit deutlichem Bildungsunterschied
zugunsten des Vaters, Trennung nach
ausgeprägter Kontrolle und nachfolgender
Gewalt des Vaters, Tochter z.Zt. Trennung 4
Jahre
• Standardmodell 5 Dimensionen
Erziehungsfähigkeit (Pflege, Bindung,
Erziehung, Förderung, Misshandlungsrisiko)
• Verlauf: Aufenthalt bei Mutter, UR Vater,
Vater nimmt keine Hilfe an, Kind psychische
Krise 3. Klasse, nachfolgend versuchter
Strategiewechsel, 3 Jahre später
Umgangsausschluss, Mutter zieht weg
Und ein letztes
• Mutter 24, Vater 31 Immigrant aus dem
nahen Osten, Tochter zum Zeitpunkt
der Trennung 3 Jahre,
verletzungsträchtige Gewalt vor dem
Hintergrund eigener Traumatisierung
des Vaters und hoher Traditionalität,
Trennung mit Hilfe Frauenhaus, danach
Kontaktabbruch, Kind psychosomatische
und Vermeidungsreaktionen
Unsere Perspektiven?
• Gedankliche Trennung Hochstrittigkeit
und Situation nach schwerer
Partnerschaftsgewalt
• Qualifizierung von Sachverständigen
und Gerichten
• Auflage zu gewaltzentrierter Beratung
• Vermehrte Prüfung der Notwendigkeit
weitergehender Behandlung bzw. Hilfe
zur Erziehung
• …?
Herzlichen Dank für Interesse
& Aufmerksamkeit