2013 11 16 Impulsreferat Prof. Roth

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GERHARD ROTH
INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG
UNIVERSITÄT BREMEN
BILDUNG BRAUCHT PERSÖNLICHKEIT:
WIE LERNEN GELINGT
 G. Roth, 2013
Folgende Faktoren bestimmen aus Sicht der
Lernpsychologie und Hirnforschung wesentlich den
Lern-und Schulerfolg:
•
Persönlichkeit, Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit des
Lehrenden
•
Persönlichkeitseigenschaften des Lernenden: Intelligenz,
Motivation und Fleiß
•
Aufmerksamkeit, Vorwissen und Anschlussfähigkeit des
Stoffes
•
Darbietung des Stoffes durch den Lehrenden
•
Systematische Wiederholung des Stoffes
AUSGANGSSITUATION
Es besteht eine tiefgreifende Verunsicherung der Lehrerinnen und
Lehrer hinsichtlich ihrer eigenen Rolle. Sie werden zunehmend mit
Konzepten „selbstorganisierten“ oder „eigenverantwortlichen“
Lernens konfrontiert, die ihre Mitwirkung scheinbar überflüssig
machen.
Was sollen Lehrer sein:
Technokratischer Wissensvermittler?
Ersatzvater/-mutter, Coach, Psychotherapeut?
Bildungsmanager?
Aufpasser?
Diese Verunsicherung ist aber gänzlich unbegründet. Vertrauenswürdigkeit, fachliche und pädagogisch-psychologische Kompetenz
des Lehrers sind nämlich unabdingbar für den Lehr- und Lernerfolg, und dies gilt unabhängig von der Art des Unterrichts, also
Frontalunterricht, Gruppen- oder Einzelarbeit.
Merkmale erfolgreichen Unterrichts nach Hattie 2009/2013
Effektstärke
Glaubwürdigkeit des Lehrers
Rückmeldungen an die Schüler und von ihnen
Schülerdiskussion im Unterricht
Klarheit und Verständlichkeit der Lehrperson
Gegenseitiges Unterstützen der Schüler
Problemlösender Unterricht
Kooperatives statt konkurrierendes Lernen
Selbstwirksamkeits-Überzeugung der Schüler
Erwartungshaltung der Lehrer
Angstreduktion beim Lernen
Nachgewiesene Effekte der Lehrerausbildung
0.90
0.90
0.82
0.85
0.74
0.61
0.54
0.47
0.43
0.40
0.12
Zu vernachlässigender Effekt: 0-0.2; kleiner Effekt: 0.21-0.4;
moderater Effekt: 0.41- 0.6; starker Effekt: 0.61 und größer
LEHREN UND LERNEN SIND EINE SACHE DES
VERTRAUENS
LEHRERPERSÖNLICHKEIT
Wissensvermittlung ist eine Sache des Vertrauens in den
Lehrenden:
Soll ich mich darauf verlassen, dass das, was der Lehrende
erzählt, stimmt?
Nur derjenige Lehrer, der vertrauenswürdig und kompetent wirkt,
ist ein guter Lehrer.
Die Vertrauenswürdigkeit eines Menschen hängt von
wenigen, automatisierten und mehrheitlich unbewusst
wirkenden Faktoren ab:
• Blick und Länge des Blickkontakts
• Augenstellung und Mundwinkelstellung
• Gestik
• Schulter- und Körperhaltung
• Stimme, Sprachmelodie und Sprachführung
Gesichtererkennung und
Einschätzung der
Vertrauenswürdigkeit (i.W.
rechtshemisphärisch):
FG: Fusiformer Gyrus
STS: Superiorer
temporaler Gyrus
AM: Amygdala, links
explizit
INS: Insulärer Cortex
(R. Adolphs, TICS
3, Dezember 1999)
Aktivierung des Motivationssystems
durch Blickkontakt mit einem freundlichen Menschen
Aron et al., J. Neurophysiol., 2005
DIE BEDEUTUNG DER „ERSTEN BEGEGNUNG“
Wenn der neue Klassenlehrer vor seine neue Klasse tritt, dann
vollzieht sich in den ersten Stunden eine teilweise unbewusst
verlaufende emotionale Abstimmung, die gelingen oder auch
scheitern kann und für die nächsten Jahre positive oder negative
Rahmenbedingungen schafft. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die
sich für diese erste Phase der emotionalen Abstimmung
einschließlich der Frage, wer neben wem sitzt, wochenlang Zeit
lassen, und diese lange Zeit scheint äußerst gut investiert zu sein.
Auch muss der Lehrer in der Lage sein, die Persönlichkeiten der
Schüler ebenso wie ihre Interessen, Begabungen und Begabungsunterschiede hinreichend zu erfassen und auch Lernbehinderungen
und psychische Störungen zu erkennen, die bei Kindern nicht selten
sind.
WIE WIRD MAN GEGENÜBER DEN LERNENDEN
VERTRAUENSWÜRDIG?
Vertrauenswürdig wird man, indem man
• Vertrauen in die eigenen Kräfte entwickelt,
• fachliche und pädagogische Kompetenzen erwirbt,
• auf die individuellen Eigenheiten der Lernenden eingeht,
• auch bei Kritik aufbaut und nicht den Schüler „niedermacht“,
• gerecht und verlässlich ist,
• einen klar strukturierten Unterricht mit klar formulierten
Ansprüchen durchführt
• Qualifizierte Rückmeldungen gibt und einfordert.
Der Lernerfolg des Lernenden hängt ab von:
• Intelligenz
• Motivation
• Aufmerksamkeit
• Fleiß
• Anschlussfähigkeit des Stoffes
• Darbietung des Stoffes
• Wiederholung des Stoffes
DEFINITIONEN VON INTELLIGENZ
Neubauer und Stern (2007): „Intelligenz ist die Fähigkeit,
sich in neuen Situationen aufgrund von Einsicht zurechtzufinden, Aufgaben mithilfe des Denkens zu lösen, wobei
nicht auf eine bereits vorliegende Lösungen zugrückgegriffen werden kann, sondern diese erst aus der
Erfassung von Beziehungen abgeleitet werden muss“.
Oder kürzer: Kreatives Problemlösen unter Zeitdruck
Heute wird im Anschluss an Cattell eine „generelle Intelligenz“ (g-Faktor, „fluide Intelligenz“) und eine bereichsspezifische Intelligenz (Expertenwissen, „kristalline
Intelligenz“) unterschieden.
VERTEILUNG DER INTELLIGENZLEISTUNG (IQ)
Normal intelligent: IQ 85-115 (68%)
Begabt: IQ > 115 (14%)
Hochbegabt“: IQ > 135 (1%)
INTELLIGENZ, GENE UND UMWELT
Nach heutigen Erkenntnissen, vor allem der Zwillingsforschung, ist
Intelligenz in hohem Maße (50-60%) angeboren. Die Intelligenz
eineiiger, kurz nach der Geburt getrennter Zwillinge korreliert mit
einem Korrelationskoeffizienten zwischen 0,6–0,8. Andere
Persönlichkeitsmerkmale und Begabungen sind weniger deutlich
genetisch bedingt.
Die Entwicklung der Intelligenz stabilisiert sich schnell und ist mit ca.
15 Jahren weitgehend abgeschlossen. Die Intelligenz einer Person
mit sechs und mit vierzig Jahren korreliert mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,6, was relativ hoch ist.
Man nimmt an, dass Umwelteinflüsse eine maximale Auswirkung im
Bereich von +/-15 IQ-Punkten haben.
Bedeutet dies, dass die Umwelt einen nur geringe Rolle spielt?
Nicht unbedingt, da die Intelligenz von ca. 2 Dritteln der Bevölkerung im Bereich eines IQ von 85 und 115 eng beieinander liegt
und deshalb geringfügige Unterschiede einen großen Effekt
haben können:
Beispiel: Ein „angeborener“ IQ von 100 kann sich unter optimalen
Bedingungen zu einem IQ von 115 entwickeln (ca. Abiturientendurchschnitt) oder unter negativsten Bedingungen auf 85 zurück
fallen.
LANGFRISTIG WIRKSAME MASSNAHMEN
BZW. FAKTOREN
Positive frühkindliche Bindungserfahrung und frühe sensorische, kognitive und kommunikative Erfahrungen.
Psychosozial und sensorisch vernachlässigte Kinder (z.B. russische
oder rumänische Waisenhauskinder) lagen in ihrem IQ um durchschnittlich 20 Punkte unter dem IQ normal aufgewachsener Kinder.
Diese Beeinträchtigung ist später nur schwer oder gar nicht kompensierbar.
Langjähriger Schulbesuch verbunden mit vielseitiger kognitiver,
musischer und körperlicher Anregung und nachhaltigem Üben.
Jeder einzelne Schulmonat erbringt einen Intelligenzzuwachs von
ca. einem drittel IQ-Punkt, zumindest im mittleren IQ-Bereich.
MOTIVATION UND FLEISS
Neben Intelligenz sind Motivation und Fleiß die wichtigsten
Bedingungen für den Lernerfolg.
Motivation zum Lernen und Fleiß sind wie Intelligenz teils abhängig von der Persönlichkeit (Gewissenhaftigkeit, Ausdauer,
Zielorientierung, Belohnungserwartung), teils sind sie umweltabhängig, insbesondere von prägenden Faktoren in Kindheit und
früher Jugend wie einem lernbegünstigenden und intellektuell
offenem Familienklima, dem Vorbild der Eltern, Ermutigung und
frühen Lernerfolgen. Dies erklärt, warum Motivation und Fleiß
signifikant mit dem Bildungsgrad der Eltern korrelieren.
Die Einstellung zum Fleiß ist in Deutschland deutlich geschlechtsspezifisch ausgeprägt: bei Mädchen wird Fleiß „toleriert“, bei
Jungen gilt er als „uncool“. Dies drückt signifikant die Schulleistung der Jungen.
DIE PROBLEMATIK „BILDUNGSFERNER“
ELTERNHÄUSER
Intelligenz und Persönlichkeit eines Menschen werden neben
einer genetischen Veranlagung stark geprägt durch eine
bildungsnahe, ermutigende und tolerante familiäre Situation.
Deshalb überrascht es nicht, dass die PISA-Studien einen engen
Zusammenhang zwischen familiärer Bildungsnähe und schulischer
Leistung feststellen.
Dies ist dadurch leicht zu erklären, dass insbesondere die frühen
psychosozialen Verhältnisse in den Familien einen großen Einfluss
von rund 20-30 IQ-Punkten haben, der allerdings ab der Jugendzeit auf rund 10 IQ-Punkte absinkt. Je früher man ansetzt, desto
wirkungsvoller sind also die Maßnahmen.
HERAUSFORDERUNG UND ANSTRENGUNG
Eine herausforderungs- und anstrengungsfreie Schule ist eine
populäre, aber sehr problematische Forderung. Lernen ist nur im
Kleinkindalter anstrengungsfrei, danach geht der Grad der Anstrengung direkt in den Lernerfolg ein: Je mehr geistige Energie ich für die
Aneignung eines Wissens aufgewendet habe, desto besser beherrsche ich es später; Inhalte dagegen, die leicht erscheinen, verschwinden schnell, weil das Gehirn feststellt „ Kenne ich schon!“
Anstrengung ist nicht zu verwechseln mit psychischem Stress und
Angst, die Lernen und Gedächtnisbildung blockieren. Bei der Balance
zwischen Herausforderung und Angst ist die Feinfühligkeit des
Lehrers in hohem Maße gefordert. Die psychischen Belastungen der
Schülerinnen und Schüler durch das gegenwärtige Schulsystem
werden meist erheblich unterschätzt.
STRESS/HERAUSFORDERUNG UND LERNERFOLG
C. Sandi, Trends Cogn. Sci. 34 (2011)
Die Art der schulischen Wissensvermittlung ist
äußerst ineffektiv.
Hier herrscht der behördliche Wahn, deutsche Schülerinnen und
Schüler wüssten und könnten zu wenig, und deshalb müsse der Stoff
erhöht werden – und dazu noch in 12 statt in 13 Jahren. Wissenschaftliche Erkenntnis sagt uns hingegen: „Weniger ist mehr!“, Dies
bedeutet eine radikale Verschlankung des Unterrichtsstoffes.
Ein solcher Unterrichtsstoff, optimal vermittelt, erzeugt mehr bleibendes Wissen als ein unter Druck durchgezogener Stoff. Das bedeutet
aber, dass jedes Schulfach seine Inhalte auf das beschränkt, was der
junge Mensch tatsächlich im späteren Leben braucht. Dazu gehört
keineswegs nur „praktisches“, d.h. naturwissenschaftlich-technisches
Wissen, sondern Bildung im geistig-kulturellen Bereich und Befähigung zu eigenständigem Denken. Vieles jedoch, was an deutschen
Schulen gelehrt wird, gehört weder zum einen, noch zum anderen.
ANSCHLUSSFÄHIGKEIT
Anschlussfähigkeit wird hergestellt durch
• Bezug zu bereits erworbenem Wissen („Einbettung“)
• Bezug zu individuellen Erlebnissen der Lernenden
• Lebens- und praxisnahe einfache Beispiele
• Beleuchtung eines Inhalts aus unterschiedlichen
Perspektiven
Lernen geschieht primär über das episodisch-kontextuelle
Gedächtnis, d.h. über Inhalte, die mit mir und meiner Umgebung zu tun haben. Abstraktes Wissen ist kontextlos und
deshalb schwer direkt zu vermitteln, z.B. Namen, Zahlen,
Formeln usw.
Abstraktes Wissen entsteht normalerweise über eine Filterung
episodischen Wissens durch zunehmenden Fortfall des
Kontextes.
ZEITSTRUKTUR DES DEKLARATIVEN GEDÄCHTNISSES
AUGENBLICKSGEDÄCHTNIS: Spanne 1-2 Sekunden. Kapazität
extrem begrenzt (ca. 2 Items), sehr störanfällig. Nicht wesentlich
verbesserbar.
KURZZEITGEDÄCHTNIS/ARBEITSGEDÄCHTNIS: Spanne von 2 –
30 Sekunden. Kapazität sehr begrenzt (ca. 7 Items). Störanfällig.
Verbesserbar durch Wiederholung und einfache Assoziationen.
INTERMEDIÄRES GEDÄCHTNIS: Spanne von 30 Sekunden bis 30
Minuten. Kapazität begrenzt. Kann durch Mnemotechniken verbessert
werden.
LANGZEITGEDÄCHTNIS: Spanne von 30 Minuten bis Jahrzehnte.
Kapazität unbegrenzt. Kann durch Mnemotechniken wesentlich
verbessert werden.
Seitenansicht des menschlichen Gehirns
Arbeitsgedächtnis als Integrationszentrum
Expertenwissen
Arbeitsgedächtnis
Der „Flaschenhals“ der Gedächtnisbildung ist das Arbeitsgedächtnis / Kurzzeitgedächtnis. Es ist in seinen Ressourcen und seiner Geschwindigkeit hochgradig beschränkt und
anfällig für Störungen.
Allgemeine Intelligenz korreliert am besten mit der Effektivität des Arbeitsgedächtnisses. Untersuchungen zeigen,
dass intelligente Menschen ein effektiver arbeitendes
Arbeitsgedächtnis haben als weniger intelligente.
Das Arbeitsgedächtnis selbst lässt sich nicht verbessern,
jedoch sind intelligente Personen besser in der Lage, mit
den typischen Beschränkungen des Arbeitsgedächtnisses
besser umzugehen (intuitive oder erlernte Tricks, Denk- und
Merkhilfen sowie Routinisierung.)
„HIRNGERECHTE“ DARBIETUNG DES STOFFES
DURCH DEN LEHRER
• Weniger Stoff, sorgfältig aufbereitet und kompetent vermittelt,
ist besser als mehr Stoff, der unter Druck vermittelt wird!
• Genaue Überprüfung des individuellen Wissensstandes
• Kurze Einführung in den Inhalt
• Unterteilung des Stoffes in kurze, inhaltlich zusammenhängende Abschnitte von maximal 5 Minuten. Dann eine
„Denkpause“, in der kurz geklärt wird, ob alles verstanden
wurde („was haben wir gerade gelernt?“. Dann erst weiter.
• Zum Schluss Zusammenfassung des Vorgetragenen bzw.
gemeinsam Erarbeiteten
• Anschließend genügend Raum zu Selbst-Aneignung des
Stoffes durch den Lernenden
NOTWENDIGKEIT DER SYSTEMATISCHEN
WIEDERHOLUNG
Neben Aufmerksamkeit, Anschlussfähigkeit und Motivation ist
Wiederholung ist das A und O der Verankerung im Langzeitgedächtnis. Außer stark emotionalen Erlebnissen wird nichts im
einem Mal gelernt.
Jeder Stoff sollte in etwas abgewandelter und zunehmend
komprimierter Form in zunehmenden Intervallen (Tagen, Wochen,
Monaten) wiederholt werden.
Dabei ist vornehmlich das zu behandeln, was noch nicht „sitzt“
VIELEN DANK FÜR IHRE
AUFMERKSAMKEIT!