Fallbeispiel 1

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Transcript Fallbeispiel 1

Fallbeispiel Julia, 8 Jahre alt
Mutter, 45, Kosmetikerin, arbeitet nicht
Vater 44, Jurist, angestellt
Jan, 13, leidet an T-ALL (Akute lymphoblastische Leukämie der T-Zellen)
Mutter: „ Wir standen stundenlang unter Schock, als die Klinik nach der Knochenmarkspunktion die Diagnose
bestätigt hat: Jan hat Leukämie. Zuerst erklärte man uns, dass seine Chancen gut stehen. Es wurden Zahlen
genannt – zwischen 70-85% auf eine Heilung. Allerdings wurde er als Hochrisikopatient eingestuft, weil er mehr
als 25000 Leukozyten hat, älter als 10 Jahre ist und an T-ALL leidet. Nach dem ersten Block der
Chemotherapie, die Jan sehr gut vertragen hat, haben wir uns ein wenig beruhigt, hatten alle eine große
Gewissheit, dass er zu den 85% gehören würde. Nach drei Monaten kam die zweite Chemo – leider kaum
Reaktion. Weitere Chemotherapien folgten. Manchmal war es uns allen zum Heulen zumute, in Momenten der
Hoffnung haben wir vor Freude geweint. Es gab für eine kurze Zeit Besserung und Hoffnung! Wir dachten
immer - nach dem nächsten Block wird er bestimmt in Remission sein… Leider es ist so nicht gekommen. Die
Chemotherapeuten sind ratlos; die Resistenz, die keine ist, kann nicht erklärt werden. Es wurde uns grade
gesagt, dass eigentlich blind geschossen, statistisch experimentiert wird. Jetzt, vor der nächsten Chemo haben
wir Angst. Entzündungen im Körper und längere Klinikaufenthalte statt ausgelassener Heimgänge…Die letzte
Rettung?“
Julia: „Ich bin so traurig…mein Bruder hat Krebs!!!! Muss er sterben?“
„Meine Oma passt auf mich auf. Ich würde viel lieber mit Mama und Papa Jan besuchen! Mama liest ihm
Bücher vor. „Harry Potter und der Feuerkelch“! Ich möchte so gern dabei sein. Ich sage es aber nicht, lese
alleine in meinem Zimmer.“
„Oma kocht nur das, was Jan mag. Manche Sachen schmecken mir gar nicht. Manchmal kann ich gar nichts
essen. Ich sage, es schmeckt mir und werfe es weg, wenn die Oma die Küche putzt.“
„Mama sagte zu Oma, dass sie sich alt und müde fühlt. Die Abende und Wochenenden kommen ihr endlos lang
und still vor, als wir alle in ein Loch fallen würden. Ich habe Angst…“
„Ich mag nicht mehr mit meinen Freundinnen spielen. Ich lese nur noch, genau wie früher mein Bruder. Mein
Märchenbuch habe ich schon 13 mal gelesen.“
„Er hat´s gut. Er muss nicht in die Schule.“
„Wenn ich so krank wie Jan bin…ob sie dann auch immer bei mir im Krankenhaus sitzen und zu Hause
weinen?“
Ausgefüllter
Fragebogen
Mutter
1. Schritt:
Allgemeine
Risikogruppe
bestimmen
Belastung und Leiden
1. Schritt:
Allgemeine
Risikogruppe
bestimmen



Farben von Fragen L und B
ablesen
entsprechende Felder in Tabelle
ausfüllen
Zeile ablesen, in der zwei
Markierungen sind
Julias Mutter
2. Schritt:
Bereichsspezifische
Belastung bestimmen
Krankheitswissen
Familiäre Belastung
Geschwisterbeziehung
Schulkompetenz
Soziale Integration
2. Schritt:
Bereichsspezifische
Belastung bestimmen
Ausgefüllter
Fragebogen
Julia
Julia, 8 Jahre alt
Ausgefüllter
Fragebogen
Julia
1. Schritt:
Allgemeine
Risikogruppe
bestimmen



Farben von Fragen L und B
ablesen
entsprechende Felder in Tabelle
ausfüllen
Zeile ablesen, in der zwei
Markierungen sind
Julia
2. Schritt:
Bereichsspezifische
Belastung bestimmen
Otional: Auswertung Zusatzfragen
(nur für psychosoziales
Fachpersonal):
Verifizierung B und L
Thematisierung GB
Hinweis spezieller
Versorgungsbedarf
Hinweise zur
Belastungsverarbeitung
Hinweise zur
Belastungsverarbeitung
zur Abklärung
emotionale- und
Verhaltensprobleme
Auswertung Zusatzfragen Julia und ihre Mutter
Julia
4
0
4
2
3
2
4 = hoher Versorgungsaufwand; 0 = niedriger Versorgungsaufwand
Mutter
4
0
4
1
3
1
4 = hoher Versorgungsaufwand; 0 = niedriger Versorgungsaufwand
Vorbereitung auf das Elterngespräch
 Welche Risikogruppe?
 Welche Bereiche?
 Zusatzfragen
 Welche Ziele?*
 Unterschiedliche Aussagen Elternteil – Kind?**
 Welche Hilfen sind denkbar? Vernetzung
 Überlegungen zum Gesprächsablauf
*Im Gespräch Ressourcen, Prioritäten der Familie bei der Zielfindung besprechen
** „Kind (ge-) wichtiger!
Allgemeine Tipps vorweg
 Geschwisterangebote: Alle Geschwisterkinder profitieren von der
Teilnahme an speziellen Geschwisterangeboten. Spezielle Angebote für die
Geschwisterkinder (Seminare, Gruppenangebote, Freizeiten) können auf der
www. Initiative-familienbande.de recherchiert werden.
 Gesprächseröffnung: Viele Eltern reagieren auf manche Ergebnisse oder
Diskrepanzen bestürzt und voller Schuldgefühle. Aus diesem Grund drücken
Sie zuerst Ihre Wertschätzung aus. Worte wie z.B. „Vielen Dank, dass Sie sich
Zeit nehmen trotz ihrer vielen Sorgen! Ich finde es bewundernswert, wie viel
sie leisten!“ bilden einen guten Beratungsbeginn. Die Berater beginnen das
Elterngespräch mit den Themen, die ihrer Ansicht nach am wenigsten
problematisch sind, zuerst sagen z.B. „Die Auswertung hat gezeigt, dass keine
Probleme in den meisten Bereichen angezeigt werden.…“ (hier bitte lobend
hervorheben, was im „grünen Bereich“ liegt)“
 Die Vernetzung und Empfehlungen sollten schrittweise erfolgen um die
Familie nicht zu überfordern.
 Bei der Durchführung sollten die Ressourcen, Prioritäten und Tempo der
Familie beachtet und respektiert werden.
Vorbereitung auf das Elterngespräch
Welche Risikogruppe liegt vor?
Mutter
Julia
Bestimmung der Allgemeinen Risikogruppe Die Ergebnisse des
Fragebogens zeigen einen klaren Beratungs- und Hilfebedarf. Julias Mutter:
Einschätzung - rot; bei Julia auch rot; Risikogruppe III, hohes Risiko; keine
kritischen Lebensereignisse wurden angegeben. Fachkreise beachten den
Zusammenhang mit Zusatzfragen.
An dieser Stelle kann bereits (z.B. von den Niedergelassenen Kinderärzten, die keine
zeitlichen Kapazitäten für die ausführliche Beratung haben) vernetzt werden – etwa
zur psychosozialen Beratung, die weitere Analyse der LARES-Ergebnisse vornehmen
kann, z.B. die Einrichtung, die das kranke Kind betreut.
Vorbereitung auf das Elterngespräch
Welche Ergebnisse gibt es für die LARES-Bereiche?
Julia,
Mutter: Soziale Integration
Julia,
Mutter: Familiäre Belastung
Julia,
Mutter: Schulkompetenz
Julia,
Mutter: Krankheitswissen
Julia,
Mutter: Geschwisterbeziehung
Besprechung der einzelnen Bereiche Fall Julia
In dieser schwierigen Lage ist die Vernetzung an psychosoziale Fachkräfte richtig und wichtig.
Die Fachkraft plant die Vernetzung, Hilfen für die Familie: Beratung und Begleitung für Julia, Ihre Eltern und ihren
kranken Bruder. Spezielle Begleitangebote, Palliativ- und/oder Hospizbegleitung wären optimal.
Bereich Soziale Integration: Julia rot, Mutter gelb. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Klärung der
Zusammenhänge und Ursachen und schnelle Hilfe notwendig ist. Für Julia - Teilnahme an
Geschwisterkinderbetreuung und –Angeboten , spezielle Angebote der Onkologie, Palliativ; optimaler weise an
der behandelnden Klinik oder in der Nähe.
Bereich Familiäre Belastung: Julia rot, Mutter grün
Die Familie ist extrem belastet und überfordert. Der Fachkraft ist bereits bekannt, dass die Chemotherapie nicht
zu helfen scheint, die Nebenwirkungen bei dem kranken Jungen seien gravierend. Julia scheint sehr erwachsen
zu reagieren, zieht sich aber extrem zurück. Die Mutter glaubt, ihre Tochter ist gut aufgehoben und nicht sehr
belastet (grün). Julia leidet aber sehr (rot) und macht sich Sorgen über die Zukunft Ihrer Familie.
Bereich Krankheitswissen: beide gelb : Information, Beratung für die Eltern, Kindgerechte Aufklärung für Julia;
Hilfe: Ärzte, Psychologische Beratung der Klinik, Literatur, spezielle Angebote der Onkologie, Hospiz
Bereich Schulkompetenz: Mutter: grün, Julia gelb: Klärung, was Julia bedrückt
Bereich Geschwisterbeziehung: beide grün
Die Familie benötigt psychologische Beratung und Betreuung. Begleitung für Julia, Ihre Eltern und ihren
Bruder, Vernetzung an Palliativ- und/oder Hospizberatung notwendig.
Julia sollte an speziellen Geschwisterkinderangeboten teilnehmen, um sich auszusprechen, mit
betroffenen Kindern auszutauschen um u.a. am Modell zu lernen, wie die anderen Kinder schwierige
Situationen meistern.
Gespräch mit Mutter - direkt nach der Auswertung:
„Aktuell sehr große Sorgen um Jan. Die Schleimhäute seiner Speiseröhre lösen sich, er kann kaum noch essen und spuckt
ständig. Seine Bronchien schwellen an.“ Mutter ist mit der Vernetzung zu onkologischen Palliativ/Hospizangeboten für sich, den
Sohn und Julia einverstanden. Mutter sagt „unsere Tochter zeigt immer Verständnis“. Sie glaubt, Julia ist bei der Großmutter sehr
gut aufgehoben.
Julia ist bei dem Gespräch dabei. Sie sagt, „am liebsten bleibt sie in ihrem Zimmer und liest wiederholt ihr Märchenbuch und sie
will nicht in die Schule“. Das Mädchen leidet sehr und macht sich Sorgen. Sie traut sich aber nicht etwas zu fragen. Sie hört
Sätze wie …“die Ärzte würden „statistisch experimentieren“.. Sie hört, wie ihre Mutter die Ärzte fragt, ob mit der Besserung zu
rechnen sei? Gibt es aussichtsreiche Behandlungsoptionen oder ist Jan bereits „austherapiert“ und schon als Palliativpatient zu
bezeichnen? Was heißt das, wenn die Ärzte sagen, Jan sei „stabil“? Sie ist mit der Situation, wie die gesamte Familie, überfordert.
Umfassende Psychosoziale Begleitung für die Familie wird angenommen.
Nach 1 Monat:
Die Mutter berichtet, wie Jan gestorben ist. Es gab zunächst eine minimale Besserung, dann wurde auf seinem linken
Lungenflügel ein Pilz festgestellt. Weitere Vorgehensweisen/Behandlungen zeigten keine Wirkung. Jan ist gestorben. Die zweite
große Belastung kam hinzu – die Großmutter erkrankte an Brustkrebs. Die Mutter wird von der Psychologin des Hospizvereines
betreut. Sie findet Trost in ihrer Religion und Büchern über Nahtoderfahrungsberichten. Sie pflegt auch viele Kontakte mit
betroffenen Eltern über das Internet. Momentan kein weiterer Vernetzungsbedarf.
Julia nimmt an einer individuellen Trauerbegleitung für Kinder und Geschwisterkindergruppe teil.
Fußnote „Die individuellen Reaktionen der Hinterbliebenen sind so verschieden wie die menschlichen Fingerabdrücke. Das Gemeinsame
bleibt, dass ein wichtiger Mensch gestorben ist und dieser Verlust bei den Hinterbliebenen eine Fülle schmerzlicher psychischer und physischer
Reaktionen auslöst. Ein Wechselbad an Gefühlen, wie Wut, Verzweiflung, Schuld, Scham und Angst erzeugt bei den Betroffenen subjektiv
erlebte Unsicherheit: etwas geschieht mit mir, was ich nicht kontrollieren kann. (…)Die Folgen dieser tiefen Verunsicherung können schwerste
psychische Beeinträchtigungen bis hin zur Suchtentwicklung, tiefer Depression und schwerer Suizidalität sein. - Aber nicht nur psychische und
psycho-vegetative Störungen sind als Folgen der Trauer bekannt, sondern ebenso körperliche (Joraschky / Köhle 1981; Goldmann-Posch
1988): im mildesten Fall als erhöhte Infektanfälligkeit oder neurologische Beschwerden, insbesondere in den Armen; aber auch in Form
schwerer unheilbarer Herz-, Krebs- oder AIDS-Erkrankungen mit tödlichem Ausgang. Beeinträchtigungen, die uns im Lichte neuerer psychoimmunologischer Forschung allmählich verständlicher werden.“ http://christoph-student.homepage.t-online.de/41518/42364.html