Fallbeispiel 4

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Transcript Fallbeispiel 4

Fallbeispiel Tim, 9 Jahre alt
Mutter, 38, Arzthelferin, zu Hause
Vater 36, Umwelttechniker, Angestellter
Paul und Erik, 3, Zwillingsbrüder: Paul leidet an Mukoviszidose (zystische Fibrose), Erik ist gesund
Vater: „ Wir waren sehr schockiert darüber, als bei Paul, dem erstgeborenen unserer Zwillingsjungs, aufgrund einer
Gedeihstörung und einer cholestatischen Hepatopathie im Alter von sechs Wochen die Diagnose einer zystischen
Fibrose (Mukoviszidose) gestellt wurde. Wir haben noch nie etwas von dieser Krankheit gehört, in beiden Familien
ist nie eine solche Erkrankung aufgetreten. Zu unserer Belastung, die Pauls Therapien und die ständige Suche
nach neuen Behandlungsmöglichkeiten mit sich bringen, kommt eine große Angst hinzu, dass seine Brüder auch
betroffen sein könnten…Von Anfang an halten wir diese Probleme von Tim fern. Er ist oft bei den Großeltern, auch
über die Wochenenden. Tim beklagte sich anfangs sehr und weinte, wenn er zu den Großeltern musste. Wir sorgen
uns jetzt um ihn, denn jetzt sagt er nichts mehr, will sogar lieber bei Großeltern sein. Letzte Woche hat er den
kleinen Jungs Haare abgeschnitten. Er ärgert sie oft bis sie weinen.“
Tim: „Am liebsten würde ich bei Oma und Opa bleiben, aber ich darf nicht. Ich finde es doof. Die Mama schaut mich
immer so komisch an und weint, wenn sie mich sieht.“
„Die Großeltern kümmern sich gut um mich, sie machen alles was ich will.“
„Ich finde es ungerecht, dass Mama keine Zeit für mich hat, wir können nicht mehr Dinge machen, die wir früher
gemacht haben.“
„Ich habe Angst um meine Mama. Sie muss ständig mit meinem Bruder ins Krankenhaus. So war das auch an
meinem Geburtstag!“
„Meine Freunde finden das alles nicht schlimm. “
„Papa redet am Telefon über „Symtome“. Ist das die Krankheit, die Paul hat? Er hat auch Symtome…Hat es auch
die Mama? Mama soll gesund sein…ja das wär´ schön.“
„Papa sagt, ich soll nicht so negativ sein.“
Ausgefüllter
Fragebogen
Vater
1. Schritt:
Allgemeine
Risikogruppe
bestimmen
Belastung und Leiden
1. Schritt:
Allgemeine
Risikogruppe
bestimmen



Farben von Fragen L und B
ablesen
entsprechende Felder in Tabelle
ausfüllen
Zeile ablesen, in der zwei
Markierungen sind
Vater
2. Schritt:
Bereichsspezifische
Belastung bestimmen
Krankheitswissen
Familiäre Belastung
Geschwisterbeziehung
Schulkompetenz
Soziale Integration
2. Schritt:
Bereichsspezifische
Belastung bestimmen
Otional: Auswertung Zusatzfragen
(nur für psychosoziales
Fachpersonal):
Verifizierung B und L
Thematisierung GB
Hinweis spezieller
Versorgungsbedarf
Hinweise zur
Belastungsverarbeitung
Hinweise zur
Belastungsverarbeitung
zur Abklärung
emotionale- und
Verhaltensprobleme
Ausgefüllter
Fragebogen
Tim
TIM, 9 Jahre
alt
Ausgefüllter
Fragebogen
Tim
1. Schritt:
Allgemeine
Risikogruppe
bestimmen



Farben von Fragen L und B
ablesen
entsprechende Felder in Tabelle
ausfüllen
Zeile ablesen, in der zwei
Markierungen sind
Tim
2. Schritt:
Bereichsspezifische
Belastung bestimmen
Auswertung Zusatzfragen Tim und sein Vater
Tim
4
2
4
2
2
2
4 = hoher Versorgungsaufwand; 0 = niedriger Versorgungsaufwand
Vater
3
1
4
0
2
2
4 = hoher Versorgungsaufwand; 0 = niedriger Versorgungsaufwand
Vorbereitung auf das Elterngespräch
 Welche Risikogruppe?
 Welche Bereiche?
 Zusatzfragen
 Welche Ziele?*
 Unterschiedliche Aussagen Elternteil – Kind?**
 Welche Hilfen sind denkbar? Vernetzung
 Überlegungen zum Gesprächsablauf
*Im Gespräch Ressourcen, Prioritäten der Familie bei der Zielfindung besprechen
** „Kind (ge-) wichtiger!
Allgemeine Tipps vorweg
 Geschwisterangebote: Alle Geschwisterkinder profitieren von der
Teilnahme an speziellen Geschwisterangeboten. Spezielle Angebote für die
Geschwisterkinder (Seminare, Gruppenangebote, Freizeiten) können auf der
www. Initiative-familienbande.de recherchiert werden.
 Gesprächseröffnung: Viele Eltern reagieren auf manche Ergebnisse oder
Diskrepanzen bestürzt und voller Schuldgefühle. Aus diesem Grund drücken
Sie zuerst Ihre Wertschätzung aus. Worte wie z.B. „Vielen Dank, dass Sie sich
Zeit nehmen trotz ihrer vielen Sorgen! Ich finde es bewundernswert, wie viel
sie leisten!“ bilden einen guten Beratungsbeginn. Die Berater beginnen das
Elterngespräch mit den Themen, die ihrer Ansicht nach am wenigsten
problematisch sind, zuerst sagen z.B. „Die Auswertung hat gezeigt, dass keine
Probleme in den meisten Bereichen angezeigt werden.…“ (hier bitte lobend
hervorheben, was im „grünen Bereich“ liegt)“
 Die Vernetzung und Empfehlungen sollten schrittweise erfolgen um die
Familie nicht zu überfordern.
 Bei der Durchführung sollten die Ressourcen, Prioritäten und Tempo der
Familie beachtet und respektiert werden.
Vorbereitung auf das Elterngespräch
Welche Risikogruppe liegt vor?
Vater
Tim
Interpretation der LARES-Ergebnisse als Vorbereitung auf das Elterngespräch
Bestimmung der Allgemeinen Risikogruppe Die Ergebnisse des Fragebogens zeigen einen
klaren Beratungs- und Hilfebedarf. Tims Vater: Einschätzung - grün; Tim: rot; es liegt also
Risikogruppe III vor, hohes Risiko; keine kritischen Lebensereignisse wurden angegeben.
Die Diskrepanz in der Einschätzung: Tims Einschätzung ist gewichtiger, allgemeine Risikogruppe
ist als hoch einzuschätzen. Für das Elterngespräch behutsames Ansprechen dieser Diskrepanz
vorbereiten; Wahrscheinlich wird Staunen oder Bestürzung des Elternteils sein. Fachkreise
beachten den Zusammenhang mit Zusatzfragen.
An dieser Stelle kann bereits (z.B. von den Niedergelassenen Kinderärzten, die keine zeitlichen
Kapazitäten für die ausführliche Beratung haben) vernetzt werden – etwa zur psychosozialen
Beratung, die weitere Analyse der LARES-Ergebnisse vornehmen kann, z.B. die Einrichtung, die
das kranke Kind betreut.
Vorbereitung auf das Elterngespräch
In welchen Bereichen gibt es Probleme?
 beide Krankheitswissen
beide Schulkompetenz
beide Soziale Integration
Tim,
Vater: Familiäre Belastung
Tim,
Vater: Geschwisterbeziehung
Besprechung der einzelnen Bereiche Fall Tim
Bereich Schulkompetenz: im grünen Bereich
Bereich Soziale Integration: im grünen Bereich
Bereich Familiäre Belastung: Tim geht es nicht gut, gelber Bereich, Vater schätzt es „grün“ ein
Die Familie ist belastet. Mukoviszidose ist nicht heilbar. Pauls Krankheit bestimmt Tagesabläufe, Eltern haben
keine Zeit für Tim.
Paul, der an Mukoviszidose erkrankter Bruder, muss täglich inhalieren. Seine Lunge ist von einem zähen
Schleim belegt. Er muss zu jeder Mahlzeit Enzymkapseln einnehmen, denn auch die Verdauungssekrete ganz
zähflüssig sind. Die Nahrung kann nicht ausreichend verwertet werden und es treten Mangelerscheinungen auf.
Paul ist sehr schlank und blass, entwickelt sich momentan aber altersgerecht. Regelmäßig muss Paul in die
Mukoviszidose-Ambulanz in der Nähe besuchen. Ein Physiotherapeut und Krankengymnast zeigt der Mutter
Übungen und Haltungen, die Paul beim Abhusten des zähflüssigen Schleims helfen. Inhalationen und Massagen
nehmen täglich mehrere Stunden in Anspruch. Viele Ängste begleiten die Familien mit Mukoviszidose-Kindern:
die größte Angst ist die davor, dass die Geschwisterkinder die Krankheit bekommen; Angst vor Entzündungen,
Allergien, Untergewicht, "Pseudomonas aeruginosa" einem Erreger, der für gesunde Menschen ungefährlich ist.
Bei Mukoviszidose-Kranken fördert er jedoch die fortschreitende Zerstörung der Lunge…
Tim wurde in die Obhut der Großeltern gegeben, fühlt sich ausgeschlossen.
Bereich Krankheitswissen: ROT : Information, Beratung für die Eltern, Kindgerechte Aufklärung für TIM
Bereich Geschwisterbeziehung: psychologische Beratung, nicht bagatellisieren. Diskrepanz in der
Einschätzung Vater-Sohn unter die Lupe nehmen. Mutter zu dem Gespräch einladen, wenn sie die
Hauptpflegende ist.
Zusammenfassung beratende Fachkraft: am Wichtigsten wäre es, die Einschätzungsdiskrepanzen VaterSohn zu klären und die Meinung der Mutter erfahren, um die richtigen Ratschläge und Veränderungen in Gang
zusetzen.
Elterngespräch direkt nach der Auswertung:
Vater schildert pragmatisch und nüchtern die Situation. Die Eltern wurden nach der Geburt der Zwillinge einer genetischen
Sprechstunde zugewiesen. Sie waren zutiefst nach der Diagnosestellung schockiert, denn in keiner der Familien
Mukoviszidose aufgetreten war. Bei Nachfrage stellte sich heraus, dass der Vater unter rezidivierenden Sinusitiden,
chronischer Sputumproduktion sowie unter einer primären Infertilität mit nicht obstruktiver Azoospermie leidet. Seine Söhne
wurden mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) gezeugt. Die Symptome des
Vaters sprechen für eine atypische Form der Mukoviszidose. Die Möglichkeit, dass die anderen Söhne auch Symptome
entwickeln könnten macht ihm größte Sorgen. Die Eltern wurden umfassend über die Krankheit und Therapien informiert. Den
Wunsch des Vaters, den Trägerstatus der beiden anderen Söhne zu ermitteln wurde abgelehnt (Stand 2010) Solange die
Brüder gesund sind besteht kein Anlass, bei ihnen die Lage aufzuklären. Der Vater wünscht sich ein möglichst normales
Leben mit seiner Familie; möchte aber die Probleme von Tim fern halten. Deswegen entschied er sich für die Lösung, dass
Tim sich sehr viel bei den Großeltern aufhält. Er sieht seine Strategie als erfolgreich und die Probleme bei der
Geschwisterbeziehung als vorrübergehend. Die Mutter sieht es anders, sie leidet darunter, dass Tim so oft weg ist und seine
jüngeren Brüder stets ärgert.
Während eines moderierten Gesprächs wurde zwischen den Ehepartnern eine Vereinbarung getroffen, Tim wieder in das
Familienleben zu integrieren und eine Beziehung zu seinen jüngeren Brüdern aufbauen können. Die Eltern wollen externe
Hilfe annehmen und sich mehr um ihren Sohn kümmern. Tim soll über die Krankheit kindgerecht informiert werden.
Die Mutter hat bereits Kontakt zu einer Mukoviszidose-Selbsthilfe-Organisation. Sie will sich Literaturtipps zur kindgerechten
Aufklärung für die Geschwisterkinder holen und mit Tim darüber reden. Sie möchte auch zu seinen Fußballspielen gehen
können und mit ihm Zeit verbringen. Hierfür werden externe Hilfen engagiert. Der Vater sieht ein, dass Tim und auch seine
Frau unter der Regelung leiden.
Tim soll an dem Geschwistertreff der Mukoviszidose-Selbsthilfe-Organisation teilnehmen, um sich mit Betroffenen
Geschwisterkindern austauschen zu können. Im Moment war er davon nicht so begeistert, willigte aber ein.
Nach 6 Monaten:
Es dauerte lange, bis Tim wieder Vertrauen gewonnen hat. Er wurde von einer Mitarbeiterin der genetischen Sprechstunde
über die Krankheit des Bruders und des Vaters aufgeklärt. Die von der Mutter besorgten Kinderbücher über Mukoviszidose
wurden für eine Zeit zum abendlichen Gesprächsthema und öffneten neue Wege der Kommunikation. Die Situation der
Familie hat sich wesentlich gebessert, Gespräche (auch über „schlechte“ Gefühle) finden zunehmend statt. Tim fällt es noch
schwer, seinen Brüdern mit Herzlichkeit zu begegnen, aber er ist liebevoller geworden. Mutter organisiert gemeinsame Spiele,
die Tim aussuchen darf. Er nimmt 1x im Monat an dem Geschwistertreff gerne teil und plant auch an weiteren Freizeiten für
Geschwisterkinder teilzunehmen. Eine Fachkraft kommt 1x die Woche, beschäftigt sich mit Paul; Oma und Opa kümmern sich
um Erik, damit Tim mit seiner Mutter etwas unternehmen kann. An manchen Wochenenden fährt sie zu Tims Fußballspielen
mit. „Es ist noch nicht ganz gut“ sagt sie, aber „auf dem Weg der Besserung“.