Der Fall Gustl F. Mollath und Konsequenzen für die Begutachtungspraxis Vortrag von Rudolf Sponsel am 10.

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Transcript Der Fall Gustl F. Mollath und Konsequenzen für die Begutachtungspraxis Vortrag von Rudolf Sponsel am 10.

Der Fall Gustl F. Mollath und
Konsequenzen für die Begutachtungspraxis
Vortrag von Rudolf Sponsel am 10. Juli, 18.15 Uhr
Im Rahmen des
Kolloquiums INTEGRATIVE PSYCHOLOGIE,
(Prof. Dr. Hans Werbik, Prof. Dr. Heinz Jürgen Kaiser)
Psychologisches Institut FAU Erlangen
Bismarckstr. 1, Raum A401
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Ein paar Hintergrundsplitter und Rahmeninformationen
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1971-76 Studium (Toman, Werbik)
Diplomarbeit über Neutralitätsmechanismen in der Kriminalität
Praktika Nervenklinik und
Sozialtherapeutische „Anstalt“
Seit 1977 als psychologischer
Psychotherapeut (VT, integrativ
orientiert) und forensischer
Psychologe, zunächst im Familienrecht tätig.
1984 erstes Gutachten mit sexueller
Missbrauchsfrage. Später im Missbrauchsprozess Flachslanden hinzugezogen.
1984 Promotion bei Toman, Matthes
(Soziologie), Baer (Psychopathologie)
1993 öffentlich vereidigter
Sachverständiger für forensische
Psychologie
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1.Geschäftsfähigkeitsgutachten 1998
1998 Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
Nach dem 100. politischen Mord im
August 2000 Rubrik Politische
Psychologie in der IP-GIPT
2008 Dokumentation der Finanzkrise,
jetzt im 31. Quartal
2009 Rubrik Unrecht im Namen des
Rechts. Kapitalrecht – Justizkritik
2009 1. Schuldfähigkeitsgutachten
7.10.2011 Michael Kasperowitsch in den
NN: „Ein gar nicht so fernes Unrecht“
12.04.2012 Besuch bei G. F. Mollath
Gründliche Einarbeitung in die Thematik
und Problematik forensisch-psychiatrischer Gutachten und
Dokumentation potentieller Fehler
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Am 7.10.2011 „Hast Du das schon gelesen?“
… fragte mich meine Frau. Nein, hatte ich nicht.
Aber dann! Als ich ihn gelesen hatte, suchte ich
am nächsten Tag Kontakt zu den Unterstützern.
Den inzwischen fast legendären Auftaktartikel zur „Affäre Mollath“ von
Michael Kasperowitsch in den Nürnberger Nachrichten am 7.10.2011
können Sie Online hier nachlesen.
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Es war gar nicht so einfach zum Unterstützerkreis vorzudringen.
Bevor man mich einlud wurde ich offenbar in Bezug auf meine
Internetveröffentlichungen auf Herz und Nieren geprüft. Aber dann
war es schließlich so weit: Am 2.12.11 kam ein Anruf von
Gerhard Dörner, dem Unterstützerkreis-Pionier, und ich wurde
zum nächsten Treffen eingeladen. So war ich denn ab Januar 2012
dabei.
Bei meinem beruflichen Hintergrund vor allem als forensischer
Psychologe war es naheliegend, dass ich mich besonders für die
Analyse von Gutachten, gutachtlichen Stellungnahmen, Attesten
und Berichten anbot.
Bevor ich mich allerdings öffentlich voll engagierte, wollte ich
Gustl F. Mollath aber erst mal kennen lernen, um einen persönlichen Eindruck in einer richtigen Begegnung zu gewinnen.
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70 Min Besuch bei Gustl F.
Mollath am 12.04.2012 im
BZK Bayreuth. Zusammen mit
Gerhard Dörner, der den
Unterstützerkreis für Gustl F.
Mollath 2006 gegründet hatte,
als ihn dessen Hilferuf vom
22.09.2006 aus der Forensik
Straubing ereilt hatte.
Danach trafen wir uns mit
Gudrun Rödel und ihrem Ehemann, die den Unterstützerkreis für Ulvi Kulac ins Leben
gerufen hatten, tauschten uns
aus und vereinbarten Zusammenarbeit.
Brief im Stern 48, 22.11.2012, S. 106
Lieber Gerhard,
In höchster Not schreibe ich Dir und bitte Dich um
Hilfe und Beistand.
Unglaubliche Umstände haben mich in diese Anstalt
der Irren verschlagen.
Ich werde seit 2002 nach allen Regeln der Kunst fertig
gemacht und wenn sich jetzt nicht möglichst viele
Menschen um Kontakt zu mir bemühen, bin ich
verloren. …
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Ich bat Herrn Mollath am 31.5.2012 um
Erlaubnis, seine Gutachten, Stellungnahmen etc. für meine Analysen zu verwenden, die er am 3.6.2012 erteilte:
„Erlaubnis
Sehr geehrter Herr Dr. Sponsel,
Vielen Dank Für Ihr Schreiben v.
31.5.2012
Ich erlaube Ihnen selbstverständlich
meine Daten für Beispiele, zur
Veröffentlichung zu Fehlern in
forensisch-psychiatrischen Gutachten,
gutachtlichen Äußerungen,
Stellungnahmen, zu verwenden.
…“
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Ich habe seit Frühjahr 2012 die forensisch-psychiatrische Literatur auf
der einen Seite und andererseits viele
forensisch-psychiatrische Gutachten
analysiert, besonders natürlich die
über Gustl F. Mollath. Ich habe das
auf meinen Internetseiten umfassend
dokumentiert und in dem Buch
Staatsversagen auf höchster Ebene
(2013, 110-119) eine Zusammenfassung in einem Artikel gegeben:
„Die grundlegenden Fehler der
forensischen Gutachter und des
Rechts: Worüber man nichts weiß,
darüber kann man auch nichts
sagen - und erst recht nicht
gutachten.“
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Wissenschaftlich begründete Gutachten müssen über
genügend Daten des Erlebens und Verhaltens verfügen.
Sonst kann man nicht gutachten, sonst kann man nur phantasieren,
mutmaßen, spekulieren und meinen. Daher gibt es auf jede Beweisfrage mindestens drei Standard Antworten: Ja, Nein, nicht feststellbar oder unklar („non liquet“). Die dritte ist natürlich für RichterInnen und StaatsanwältInnen die unbeliebteste, wenn auch sachlich
und fachlich gesehen häufig. Daher lieben RichterInnen und StaatsanwältInnen die PsychiaterInnen so und mögen die methodenkritischen
PsychologInnen nicht.
Die meisten forensischen PsychiaterInnen haben nämlich leider kein
Problembewusstsein oder Skrupel. Die Kurt Schneider Doktrin von
1948, wir wissen zwar nichts und werden auch niemals etwas über die
Einsicht und Steuerung wissen, aber meinen tun wir trotzdem, hat den
„wissenschaftlichen“ Okkultismus in der Psychiatrie begründet, bis der
BGH diesem Spuk ein Ende bereitete, was sich aber in der Praxis
immer noch nicht durchgesetzt hat. Bei Dr. Leipziger, Prof. Kröber
oder Prof. Nedopil zumindest bisher nicht.
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Das kann man schon daran sehen, dass der BVerfG-Beschluss
aus 2001 zum § 81 StPO, der die Mitwirkungsbereitschaft von
ProbandInnen verlangt, ignoriert wurde.
Ich fasse die Auswertung von BGH Entscheidungen (2000 - 2013) zur
Schuldfähigkeit zusammen (Belege): Diagnosen oder Feststellungen von
psychischen Störungen genügen nicht, um die Voraussetzungen für
Schuldunfähigkeit zu begründen. Es müssen konkrete, nachvollziehbare
und ausführliche Darlegungen erfolgen, zu welchen Eingangsmerkmalen
des § 20 StGB die einzelnen Störungen gehören und wie sie sich auf die
einzelnen Handlungen bei Begehung der Tat(en) auswirken. Daher darf
das Gericht ein Sachverständigengutachten nicht einfach übernehmen,
vielmehr muss es das Gutachten kritisch prüfen und kontrollieren. Das
geht natürlich nur, wenn das Gutachten in klarem Deutsch vorliegt und
sein Vorgehen übersichtlich deutlich macht und angemessen begründet.
Die Diagnosen, die den Eingangsmerkmalen zugeordnet werden, müssen
sicher sein und dürfen nicht als Vermutungen, Möglichkeiten,
hypothetische Erwägungen bzw. durch oder verknüpfte Alternativen
formuliert sein. Die näheren Umstände der Tat sind stets beachtlich,
aufzuklären und ausreichend zu erörtern. Im Einzelnen ist dazulegen, wie
die Störung sich bei der Tat auf Einsicht und Steuerung auswirkte.
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Obwohl die allgemeine Beweisidee sehr einfach ist und von jedem
verstanden werden kann, wird sie in der Forensik so gut wie nie
befolgt. Dabei ist ganz einfach Schritt für Schritt zu zeigen, wie man
ohne Lücken von einer Behauptung nach welcher Regel zur
nächsten und schließlich zur Antwort auf die Beweisfrage kommt (>
Beweisfragen-Fehler).
Stattdessen wird bei forensisch-psychiatrischen Begutachtungen
gemeint, gemutmaßt, gewähnt, phantasiert, was das Zeug hält.
Gutachten ohne persönliche Untersuchungen, ohne ausreichende
Datengrundlage (> Daten-Fehler), ohne schlüssige Nachvollziehbarkeit
und Begründung sind der unerträgliche Alltags-»Standard« - leider
gedeckt von RichterInnen, die nicht in der Lage oder gar willens sind,
die Sachverständigen kritisch und kompetent anzuleiten, zu kontrollieren und zu prüfen - wie es ihre Pflicht wäre. So herrscht inzwischen
fast reine Willkür, und der Fall Mollath ist nur die Spitze des Eisbergs.
Deshalb bedarf der § 63 StGB Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus dringend einer grundlegenden Reform.
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Das Recht kennt drei Unterbringungen:
zivilrechtliche (Stichwort Betreuung), öffentlich-rechtliche (Stichwort
Selbst- oder Fremdgefährdung) und die strafrechtliche Unterbringung,
die der § 63 StGB regelt. Der § 126a StPO regelt die vorläufige
Unterbringung.
Und es gibt noch den § 81 StPO, die Einweisung zur Beobachtung zur
Erstellung eines Gutachtens. Eine solche erfordert nach einem in der
forensischen Psychiatrieliteratur verleugneten BVerfG-Beschluss aus
2001 die Mitwirkungsbereitschaft des Betroffenen. Gustl F. Mollath
hätte gar nicht zur Beobachtung – Beugehaft träfe es wohl besser eingewiesen werden dürfen.
Hier und heute möchte ich mich nur mit forensischen Gutachten und
ihrer Rechtsumgebung beschäftigen, die die Voraussetzungen des § 63
StGB (Unterbringung) zur Beweisfrage haben, im Wesentlichen
Schuldfähigkeit§, Gefährlichkeit§, Prognose§. Das sind Begriffe, in
denen einige sehr schwierige Klippen und tückische Fallstricke
verborgen liegen, die ich als Erstes aufzeigen und klären möchte.
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Alltags-, Bildungs-, Fach- und Rechtsbegriffe
Worte sind die »Kleider« der Begriffe, die im Regelfall vieldeutig
sind (>Homonyme). Viele Menschen verstehen unter den gleichen
Worten nicht immer das Gleiche, nicht selten deutlich Unterschiedliches, auch ein und derselbe Mensch in verschiedenen Kontexten.
Die Sprache ist eine unendliche Quelle für Missverständnisse und
auch viele unnötige Streitereien, wie wir spätestens seit Aristoteles
wissen. Das zeigt sich ganz besonders im Umgang mit Gesetz, Recht
und Rechtsprechung. Ich möchte dies an folgendem Beispiel
deutlich machen.
In § 20 des StGB heißt es: »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung
der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer
tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder
einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das
Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«
Die hier fett-kursiv gesetzten Worte sind Rechtsbegriffe, über die
nur das Gericht entscheiden darf, nicht der Sachverständige.
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Das Problem unklarer Rechtsbegriffe
Recht und Rechtswissenschaft sind bislang nicht in der Lage, ihre
Rechtsbegriffe wissenschaftlich einwandfrei und praktikabel so darzulegen, dass Sachverständige wissen könnten, was die Justizorgane
genau darunter verstehen und wollen. Es fehlt an elementaren Entsprechungszuordnungen. Dieses begriffliche Sumpfgebiet bereits zu
Beginn eines Gutachtenauftrags trägt natürlich nicht zur Rechtssicherheit, einem fairen, gerechten Verfahren und zur Klarheit bei.
Und mit Wissenschaft hat das natürlich überhaupt nichts mehr zu tun.
Zeitgemäßes Beispiel: Der Vorsitzende des Hartmannbundes Dr. Klaus
Reinhardt wird im Ärzteblatt zitiert mit: „Bei der vermeintlich so
einfachen Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit des Patienten
treten in der täglichen Praxis Tausende Grenzfälle auf“, sagte der HBVorsitzende. Es sei inkonsequent und inakzeptabel, Ärzte
aufzufordern, die Einwilligungsfähigkeit der Patienten zu bestimmen,
ihnen aber als Grundlage dafür nur schwammige Rechtsbegriffe an die
Hand zu geben. [Original DÄB 23.7.2012]
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Das ungelöste Problem der Anknüpfungstatsachen
von denen der Sachverständige bei seinen Untersuchungen auszugehen hat.
Im deutschen Strafrecht gilt die Unschuldsvermutung bis zum
rechtskräftigen Urteil. Das gab es im Falle Mollath - nach Abweisung der
Revision durch den BGH - aber erst ab dem 14. Februar 2007, während Dr.
Klaus Leipziger, der Leiter der Forensischen Psychiatrie in Bayreuth, an
seinem Gutachten in der Zeit nach dem Beschluss vom 16. September 2004
bis 25. Juli 2005 arbeitete.
Also: Als Dr. Leipziger sein Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft
schrieb, gab es noch gar kein rechtskräftiges Urteil, selbst die zu dem
Zeitpunkt vorliegenden Tatvorwürfe lagen Jahre zurück, so dass der
Gutachter am 4. Mai 2005 bei der Staatsanwaltschaft weitere Taten
nachfragte, wahrscheinlich deshalb, weil ihm die Tatvorwürfe zu den
Tatzeiten 12. August 2001, 31. Mai 2002 und 23. November 2002 für das
gewünschte Ergebnis im Jahre 2005 nicht mehr ausreichend zu sein
schienen. Und so wurden sozusagen auf Verlangen die dubiosen
Reifenstechereien nachgeliefert – damit es reicht, insbesondere für die
Revision beim BGH. Ein unglaublicher Vorgang, aber in Bayern offenbar
kein Problem. Seit dem 24. April 1961 ist in Bayern sehr viel möglich,
Verrückt-Erklärungen auf Aktenbasis sogar schon seit 1886.
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Daraus folgt im Übrigen, dass Dr. Leipziger sich rein subjektiv gar nicht
befähigt sah, eine strafrechtsrelevante seelisch-geistige Verfassung bei
Mollath ohne die Tatvorwürfe festzustellen, was für sich schon Bände
spricht. Denn die Aufgabe des Sachverständigen ist ja nicht die
Bewertung von Tatvorwürfen oder die Begründung von psychischen
Störungen durch Tatvorwürfe – das wäre zirkulär – , sondern, wenn es
um die Frage der Schuldfähigkeit geht, die Erkundung des Befindens und
der Verfassung zu den Tatzeitpunkten, denn so verlangt es das Gesetz:
»bei Begehung der Tat«. Insgesamt zählt das Landgericht 10 „Tatzeiten“
auf: von keinem einzigen Gutachter, nicht einmal von Prof. Pfäfflin, vom
dem sich Mollath explorieren ließ, wurde auch nur bei einer einzigen der
10 Tatzeiten Befinden und Verfassung erkundet (hier).
Werden Taten geleugnet oder gelten sie nur hypothetisch, so kann ja
dennoch Befinden und Verfassung zu den Tatzeiten untersucht werden.
Aber auch das war kaum möglich, weil Mollath, der sich als gesund
erlebte, sich von Dr. Leipziger nicht untersuchen und explorieren ließ.
Damit möchte ich nun noch einmal auf die wichtigste Aufgabe bei
Beweisfragen zu §§ 20, 21, 63 StGB eingehen und Sie hierbei alle
zusammen mit einbeziehen.
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Der § 20 StGB Schuldunfähigkeit
ist sehr wichtig für die strafrechtliche Unterbringung. Daher möchte
ich, dass Sie den auf jeden Fall richtig verstehen:
Ich fasse für die folgende gemeinsame Übung die vier Eingangsmerkmale zu einem einzigen Eingangsmerkmal vereinfachend zusammen:
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer Störung
unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht
zu handeln.
Ich bitte sie nun, mit mir jeweils die fünf Textteile langsam und laut
nachzusprechen, wenn ich den linken Arm hebe. Ich spreche zunächst
vor, dann hebe ich den linken Arm, dann bitte alle mitsprechen:
Ohne Schuld handelt
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wer bei Begehung der Tat
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wegen einer Störung unfähig ist
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das Unrecht der Tat einzusehen
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oder nach dieser Einsicht zu handeln
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Standardmäßig gibt es für forensisch-psychopathologische Gutachten folgende Aufgaben:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Daten des Erlebens und Verhaltens erheben
Regelbegründete Zuordnung zu Symptomen
Regelbegründete Zuordnung der Symptome zu Syndromen
Erstellen des Befundes, also Zusammenstellung aller für die
Beweisfragen relevanter Daten und Informationen (auch
o.B. = ohne Befund)
Diagnose(n): Regelbegründete Zuordnung zu Störungen mit
Krankheitswert (seelische Krankheiten)
Herleiten der Auswirkungen von Befund und Diagnosen
auf Befinden und Verfassung zu den Tatzeiten oder, wenn
unbestritten, auf die Taten. (>Beweisfragen-Fehler).
Anmerkung: Die Gefährlichkeit§ hat den Zeitbezug Hauptverhandlung
unter Würdigung der Gesamtpersönlichkeit.
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Die meisten - nicht nur forensischen - Psychiatrielehrbücher gehen
von einer fatalen und grundlegend falschen Voraussetzung aus:
Nicht das Symptom, wie viele irrig meinen (z.B. Foerster & Winckler,
2009, S. 26; Payk, 2002, S. 44; Stieglitz & Freyberger, 1999, S. 53),
sondern die Daten des Erlebens und Verhaltens sind die Grundlage
aller Psychologie und Psychopathologie. Pinel, der Begründer der
wissenschaftlichen Psychopathologie, wusste das 1799 noch. Genau
dieses falsche Verständnis der heutigen Psychiatrie ist der Grund,
weshalb die Psychiatrie nach wie vor auf Sumpf und Treibsand
aufgebaut ist. Die Psychiatrie verfügt über keine wissenschaftlichen
Methoden für eine solide operationale terminologische Basis, wie z.B.
auch daran erkennbar ist, dass sie in 200 Jahren bis heute nicht in der
Lage war, eine gültige Wahn-Definition vorzulegen. Mollath war ein
Opfer, es dürfte aber noch Tausende mehr geben. Da helfen auch
Symptomsammlungen wie z.B. AMDP, ICD oder DSM so lange nicht,
bis klar und eindeutig geregelt ist, wie man von den Daten des Erlebens
und Verhaltens zu den Symptomen kommt.
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Was also ist die Arbeit der forensischen PsychopathologIn, ob
PsychiaterIn oder PsychologIn?
Nun, sie muss zeigen, dass die psychopathologischen Entsprechungen
der Rechtsbegriffe zum Zeitpunkt der Tat die ProbandIn gehindert
haben, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu
handeln.
Das geht bis auf extrem wenige Ausnahmen nur, wenn sich die ProbandIn auf eine gründliche Exploration zum Befinden vor, während und
nach der Tatzeit nicht nur einlässt, sondern auch hinreichend gehaltvolle
und zuverlässige Angaben zu ihrem Erleben und Verhalten machen
kann.
Die ProbandIn muss
1. über die Informationen verfügen,
2. sie mitteilen wollen und
3. sie auch mitteilen können.
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Hierzu ist Vertrauen das wichtigste und meist unverzichtbare
Mittel und damit kommen wir zum subjektwissenschaftlichen
Konzept forensischer Begutachtung.
In der traditionellen forensischen Psychiatrie ist die ProbandIn
kein echter Mensch und Forschungspartner, sondern meist bloßes
Erkenntnis-Objekt. Ob sie mitwirkt oder nicht, interessiert oft
nicht wirklich. Und Akten“gut“achten sind besonders beliebt,
weil es sich da am einfachsten meinen lässt. Diese unselige
Geisteshaltung ist beileibe nicht nur ein ethisches Problem, sondern ein handfestes wissenschaftliches. Denn in aller Regel lässt
sich über die Tatzeiten nur dann Relevantes herausfinden, wenn
es gelingt, das Vertrauen der ProbandIn zu gewinnen und in einer
partnerschaftlichen persönlichen Forschungssituation zu
erkunden.
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Hierfür sind einige Arbeiten von Werbik und von Kaiser und das
Beratungsprinzip der Erlanger Philosophie hilfreich und nützlich.
Halten wir zunächst fest: Die subjektwissenschaftliche Orientierung ist keine
bloße ethische Geste oder Nettigkeit, sondern grundsätzlicher Natur. Werbik hat
schon 1985 in "Psychonomie" und "Psychologie" auf diesen grundsätzlichen
Unterschied hingewiesen, ebenso Zitterbarth & Werbik im gleichen Jahr in
Subjektivität als methodisches Prinzip, wobei dieser Titel, wie der Name
"Subjektwissenschaft", leider einen ungünstigen Beigeschmack hat, insbesondere
bei WissenschaftlerInnen, die in der Subjektivität gerade das sehen, was als
unwissenschaftlich überwunden werden sollte. Es ist aber im Grunde ganz
einfach: man kann derzeit in aller Regel über das Erleben eines anderen
Menschen nichts wissen und herausfinden, ohne mit ihm sprechen. Das bedeutet,
ihn in den Erkenntnisprozess einzubeziehen. Nur er kann auf meine Fragen, die
er verstehen und annehmen muss, antworten und diese im Dialog weiter klären.
Ein bedeutsamer Teil aller Erkenntnisse geht daher auf die dialogische
Klärungsarbeit der Exploration, die gelernt und gekonnt sein will, zurück. Und
die Basis für diese Arbeit ist Vertrauen, leider ein Fremdwort in der forensischen
Psychiatrie, wie ein Blick in die Sachregister der großen forensischpsychiatrischen Standardwerke zeigt.
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Jetzt ahnen Sie vielleicht, weshalb ich heute hier bin
Als mir die enorme Bedeutung der subjektwissenschaftlichen Orientierung am Ende meiner Recherchchen zur forensisch-psychiatrischen
Begutachtung klar wurde, fiel mir natürlich einmal mehr wieder ein, wo
und bei wem ich studiert hatte.
Ich schrieb daher am 20.01.14 Prof. Kaiser, dessen erste Hilfskraft ich
mal war und bei dem ich eine qualifizierende Weiterbildung für mein
Zertifikat als Verkehrspsychologe 1999 erwerben konnte, eine Mail:
„ich hatte neulich eine Anfrage an Sie und Prof. Werbik über das
Kontaktformular Ihrer Website geschickt und möchte
sicherheitshalber nachfragen, ob die registriert wurde. Es geht um
subjektwissenschaftliche Orientierung, wo ich kühn behauptet habe,
diese sei auch im Umfeld von Prof. Werbik schon gepflegt worden“
Für die forensische Psychiatrie-Reform und die subjektwissenschaftliche
Orientierung brauchen wir dringend Unterstützung aus der Wissenschaft
und der Universität. Deshalb also bin ich heute hier.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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