Transcript Einheit 13

Staatshaftungsrecht
Einheit 13: Der unionsrechtliche
Haftungsanspruch
Priv.-Doz. Dr. Alexander Thiele
24/07/16
Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
A. Überblick
Mit der EU sieht sich der Einzelne neben der nationalen einer
supranationalen Hoheitsgewalt ausgesetzt.
Auch durch diese neue Hoheitsgewalt können dem Einzelnen
Schäden entstehen.
Die EU ist rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet. Daher muss
der Einzelne die Möglichkeit haben, diese Schäden von der EU
ersetzt zu verlangen.
Es kommt also notwendig zu einer Erweiterung der möglichen
Haftungsschuldner.
Die entsprechende Regelung für Ansprüche gegen die EU findet
sich in Art. 340 AEUV.
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24/07/16
Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Darin erschöpft sich die Auswirkung der neuen Hoheitsgewalt
jedoch nicht.
Denn die MS sind in vielfältiger Weise in den Vollzug des
Unionsrechts involviert.
In diesem Zusammenhang können auch sie Schädigungen durch
die Verletzung unionsrechtlicher Vorgaben hervorrufen.
Bsp.: Nichtumsetzung einer europäischen Richtlinie.
Hier muss dann aber auch die Haftung in Europa einigermaßen
einheitlich geregelt sein.
Es kommt insofern zu einer Modifikation der nationalen
Haftungsinstitute.
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24/07/16
Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Allerdings: Für diese unionsrechtliche Haftung der MS findet sich
im AEUV keine eigenständige Rechtsgrundlage. Sie ist daher vom
EuGH richterrechtlich entwickelt worden (in der Rs. Francovich).
Dies ist vor allem in Deutschland zunächst auf massive Kritik
gestoßen, da es sich um unzulässige Rechtsetzung durch den
EuGH handele.
Diese Kritik konnte aber zu keinem Zeitpunkt überzeugen und
überrascht gerade aus deutscher Perspektive, wo der Großteil des
Haftungsrechts ja richterrechtlich entwickelt worden ist.
Mittlerweile ist dieser Anspruch denn auch anerkannt.
Anspruch gegen die EU und Anspruch gegen die MS sind zudem
durch eine gewisse Kohärenz geprägt, haben also im Kern die
gleichen Voraussetzungen.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
B. Die Haftung der Union
Maßgebliche Norm ist hier Art. 340 AEUV.
Diese unterscheidet zwischen der vertraglichen und der
außervertraglichen Haftung.
I. Vertragliche Haftung
Diese betrifft die Haftung aus Verträgen, die die Union mit
anderen natürlichen oder juristischen Personen eingehen kann.
Die Haftung richtet sich jeweils nach dem Recht, welches auf den
Vertrag anwendbar ist.
Das kann im Einzelfall schwierig zu bestimmen sein.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
II. Außervertragliche Haftung
Diese umfasst alle Schädigungen durch die Union, die nicht auf
einem vertraglichen Verhältnis beruhen.
Hier besteht also eine gewisse Vergleichbarkeit zur nationalen
Amtshaftung.
Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV richtet sich diese Haftung nach den
allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der
Union gemeinsam sind.
Die einzelnen Haftungsvoraussetzungen werden also nicht
primärrechtlich vorgegeben, vielmehr wird deren Entwicklung
dem EuGH übertragen.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Die Rechtsvergleichung wird dadurch gewissermaßen zum
normativen Programm erhoben und ist nicht mehr nur eine
zusätzliche Erkenntnisquelle bei der Auslegung.
Aber: Rechtsvergleichung ist auf die Rechtsordnungen der Union
begrenzt.
Zum anderen: Es handelt sich um eine wertende
Rechtsvergleichung, so dass stets auch die Besonderheiten des
Europarechts zu berücksichtigen sind.
Dies hat der EuGH auch in der Rs. Schöppenstedt deutlich
gemacht.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Danach hat der Anspruch gegen die Union die folgenden
Voraussetzungen:
– Handlung eines Unionsorgans
– Hinreichend qualifizierte Verletzung einer drittschützenden
Rechtspflicht
– Ersatzfähiger Schaden auf Seiten des Geschädigten.
Ein Verschulden ist nicht erforderlich, kann allerdings bei der
„hinreichend qualifizierten Verletzung“ berücksichtigt werden.
Haftungsschuldner ist stets die Union als Ganzes unabhängig
davon welches Organ den Schaden verursacht hat.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Eine Haftung für rechtmäßiges Handeln kennt das Europarecht
(bisher) nicht.
Das EuG hatte dies für möglich gehalten, der EuGH hat dies nun
aber vorerst ausgeschlossen.
III. Haftung der Mitgliedstaaten
1. Überblick und Rechtsgrundlage
Hier fehlt eine primärrechtliche Grundlage.
Die MS kennen jeweils eigene Haftungsgrundlagen – etwa § 839
BGB iVm Art. 34 GG.
Die Anwendung führt aber zwangsläufig zu sehr
unterschiedlichen Ergebnissen.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Daher hat der EuGH im Wege der Rechtsfortbildung einen
übergreifenden unionsrechtlichen Haftungsanspruch entwickelt.
Wegweisend war hier die Rs. Francovich:
Ein italienischer Arbeitnehmer hatte aufgrund der Insolvenz seines
Unternehmens seine Arbeitsstelle verloren. Eine europäische
Richtlinie verpflichtete die MS für diese Fälle dafür Sorge zu
tragen, dass die Arbeitnehmer für mindestens drei Monate weiter
ihr Gehalt beziehen, ohne jedoch im Einzelnen vorzusehen, wie
dies zu erreichen war (Fonds, Versicherung etc.). Italien hatte diese
RL nicht rechtzeitig umgesetzt. F. klagte nun gegen Italien auf
Schadensersatz.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Vorfrage: Warum konnte dem F hier nicht mit der unmittelbaren
Wirkung der RL weitergeholfen werden?
EuGH bejahte im Ergebnis einen solchen Anspruch, was vor allem
in der deutschen Literatur auf erhebliche Kritik stieß.
Mittlerweile ist der Anspruch indes etabliert und allgemein
anerkannt. Streit besteht allenfalls noch bei Details der
Ausgestaltung.
Überzeugen konnte die Kritik zu keinem Zeitpunkt auch wenn die
Entscheidung des EuGH selbst sehr knapp ausfällt.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Der Anspruch selbst findet seine Grundlage zwar unmittelbar im
Europarecht.
Die Umsetzung erfolgt (dem Subsidiaritätsgedanken folgend)
jedoch „im Rahmen des nationalen Haftungsrechts“.
Dabei sind aber das Diskriminierungsverbot und der
Effektivitätsgrundsatz zu beachten.
Grds. folgt daraus, dass sich das Ob der Haftung nach
unionsrechtlichen, das Wie der Haftung aber nach nationalen
Grundsätzen richtet.
Letzteres betrifft etwa Art und Umfang des Anspruchs,
Haftungsgegner etc.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
2. Haftungsvoraussetzungen
Der Anspruch nach Art. 340 AEUV und der Anspruch gegen die
MS haben im Grundsatz die gleichen Haftungsvoraussetzungen.
Insoweit besteht also ein kohärentes unionsweit gültiges
Haftungssystem.
Gerade aus der Perspektive des Bürgers erscheint das auch
angemessen.
a) Verletzung einer Schutznorm
Zunächst muss eine mitgliedstaatliche Stelle eine unionale
Schutznorm verletzt haben.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Wichtiges Beispiel: Grundfreiheiten.
Beachte: Erfasst ist auch der fehlerhafte Erlass oder Nichterlass
eines nationalen Gesetzes. Es besteht hier also kein Ausschluss für
den Fall legislativen Unrechts.
Wichtigster Fall: Fehlerhafte Umsetzung einer EU-Richtlinie (Bsp.:
Verbrauchsgüterkaufrichtlinie). Aber Achtung: unmittelbare
Wirkung geht vor.
Und: auch judikatives Unrecht ist grds. erfasst (Köbler). Allerdings
sind hier bei der Prüfung gewisse Besonderheiten zu beachten.
Damit besteht im Ergebnis eine Haftung für Verstöße aller drei
nationalen Gewalten.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Der haftende Hoheitsträger wird dabei durch Unionsrecht nicht
bestimmt. Hier greifen also nationale Grundsätze (Stichwort:
Anvertrauenstheorie).
b) Hinreichend qualifiziert
Der Verstoß muss sich als hinreichend qualifiziert erweisen.
Das ist der Fall, wenn das handelnde Organ das ihm durch
Unionsrecht eingeräumte Ermessen offenkundig und erheblich
überschritten hat.
Bei der Ermittlung der Qualität des Verstoßes sind dabei
funktionsspezifische Besonderheiten des handelnden Organs zu
berücksichtigen.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
Im Falle judikativen Unrechts muss das jeweilige Gericht etwa
„offenkundig gegen das geltende Recht“ verstoßen haben, wobei
eine Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV für sich
genommen noch nicht reicht.
Ein Verschulden wird nicht verlangt, kann aber als zusätzliches
Indiz für eine hinreichend qualifizierte Verletzung herangezogen
werden.
c) Schaden und Kausalität
Es muss ein ersatzfähiger Schaden kausal und zurechenbar
hervorgerufen worden sein.
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Der unionsrechtliche Haftungsanspruch
3. Rechtsfolge
Die Rechtsfolgen ergeben sich grds. aus nationalem Recht.
Heranzuziehen sind insoweit die Grundsätze des
Amtshaftungsrechts.
Allerdings kommt hier auch eine Naturalrestitution in Betracht, da
es sich nicht um eine übergeleitete Haftung handelt.
§ 254 BGB ist anwendbar.
Das Verweisungsprivileg dürfte nicht anwendbar sein, ebenso
wenig wie das Spruchrichterprivileg.
Die Verjährung folgt allgemeinen Grundsätzen.
Zuständig sind (wohl) die ordentlichen Gerichte.
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