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Lesen
Eine Kulturtechnik, ihre Geschichte und
ihr gegenwärtiger Standort
„Lesekompetenz (reading literacy) ist im Rahmen von PISA
definiert als die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen,
zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu
erreichen, das eigene Wissen und Potenzial
weiterzuentwickeln und aktiv am gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen. Diese Definition geht über die Vorstellung
hinaus, wonach Lesekompetenz in dem Entschlüsseln und
wörtlichen Verständnis von Texten besteht. Zum Lesen
gehört auch das Verstehen von Texten und das Nachdenken
darüber. Lesekompetenz beinhaltet die Fähigkeit des
Einzelnen, schriftliche Informationen so zu nutzen, dass
diese seinen jeweiligen Zielen dienen, sowie die
entsprechende Fähigkeit komplexer moderner
Gesellschaften, schriftliche Informationen so zu nutzen, dass
ihre gute Funktionsweise gewährleistet ist.“
(OECD: PISA 2000, S. 23)
Lesen nach Definition des PISA-Konsortiums:
ein „höchst komplexer Vorgang der Bedeutungsentnahme,
der aus mehreren Teilprozessen besteht. Lesen ist eine
aktive Konstruktion der Textbedeutung. Die im Text
enthaltenen Aussagen werden aktiv mit dem Vorwissen,
Weltwissen und Sprachwissen des Lesers verbunden.“
(OECD: PISA 2000, S. 71)
Eckhard Klieme-Expertise 2007:
Festlegung von nationalen Bildungsstandards,
„welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu
einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben
haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret
beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und
prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können.
Die Darstellung von Kompetenzen, die innerhalb eines
Lernbereichs oder Faches aufgebaut werden, ihrer
Teildimensionen und Niveaustufen, kommt in diesem
Konzept ein entscheidender Platz zu. Kompetenzmodelle
konkretisieren Inhalte und Stufen der allgemeinen Bildung.
Sie formulieren damit eine pragmatische Antwort auf die
Konstruktions- und Legitimationsprobleme traditioneller
Bildungs- und Lehrplandebatten.“
Baumert u.a. (2001, 82):
• textimmanenter Informationsgewinn, Arbeiten mit internen
‚Daten‘
• wissensbasierte, also von außen unterstützte Interpretation
• drei Kompetenzstufen:
Informationen ermitteln
textbezogen interpretieren
Reflektieren und Bewerten.
hierarchieniedrige Verarbeitungsprozesse:
automatisiertes Auffassen von Buchstaben, Lexemen,
Sätzen und deren Verknüpfung durch semantische und
syntaktische Bezugsbildung
passend zu Informations- oder expositorischen Texten,
Sachtexten
Kompetenzen/Bildungsstandards:
Stufenmodell von Bildung
Vorstellung eines Spiralcurriculums wird aufgegeben
Informationsentnahme als Ziel: kognitive Leistungen
ebenso eine Didaktik, die sich auch Zeit für Irrtümer nimmt
oder wenigstens: für spielerische Freiräume
Kritik: Dynastie von Schnell- und Richtigdenkern?
Problem: geschichtsloses Lesekonzept?
Lesetätigkeit der Mönche – lectio divina
Körpereinsatz: Textmurmeln, lautes Sprechen oder
wiederholend Aufsagen (‚ruminatio‘)
Andachtshaltung
‚Lesen‘ (legere) als ‚hören‘ (audire), Text zu Gehör
bringen
Oralität insgesamt stärker als Visualität
Mönchszellen, Pulte
Buchdruck und Lesen:
‚heißes Medium‘ (McLuhan):
Konzentration auf einen Sinn
entheiligte Schrift
massenhaft verbreitete Lektüre
Privatisierung des Lesens und des Interpretierens
‚legere‘:
Sammeln von Dingen und Buchstaben zu Wörtern
‚Lesen‘ bedeutete Auflesen oder Zusammenstellen von
kleinen, mit Runen eingekerbten Stäbchen beim Werfen
eines Loses
danach: Zusammenstellen der Buchstaben zu Wörtern
Gotisch ‚lisan‘: Sammeln von Dingen oder von
Herumliegendem
Lesen im Zeitalter der Aufklärung
• Anleitung zum Selberdenken
• Vorschule und Schule: Institutionalisierung des Lesens
• Aufmerksamkeitsforderung (Karl Philipp Moritz)
• Entkörperlichung (E. Schön)
• Solisierung (E. Schön)
• Flucht in fiktive Welten: poetische Imagination
Lesen im Netz: ‚switching‘, ‚navigieren‘, ‚browsing‘, ‚surfen‘
• interaktive Lektüre (Leser/Autor; Schüler/Lehrer)
• nonlineare Lektüre: Leserichtungen verändern sich
• strikte semantische Hierarchien geraten ins Rutschen
• prozessorientiertes, offenes Lesen
• intermediale Anschlüsse des Lesens
• Interpretationen als synthetische Wege
In den Sportarten und Gewohnheiten ändern sich die
Bewegungen. Lange haben wir mit der energetischen
Konzeption der Bewegung gelebt: Es gibt einen Ansatz, oder
man ist Quelle einer Bewegung: Laufen, Kugelstoßen etc.;
das ist Anstrengung, Widerstand, mit einem Ausgangspunkt,
einem Hebel. Heute sieht man jedoch, wie die Bewegung
sich immer weniger durch das Einschalten eines
Angelpunktes definiert. Alle neuen Sportarten – Surfen,
Windsurfen, Drachenfliegen (hinzufügen könnte man
Snowboarding, Bungee-Springen, Inline-Skating) sind vom
Typus: Einfügen in eine Welle, die schon da ist. Hier wird
nicht mehr vom Ursprung ausgegangen, sondern von einer
Bahn, auf die man gelangt. Man kann sich von der
Bewegung einer großen Woge annehmen lassen, von einer
aufsteigenden Luftströmung – wie kann man ‚dazwischen
gelangen‘, statt Ursprung einer Anstrengung zu sein, das ist
fundamental.“ (Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1993, S. 175)
Wir alle sind längst auf der Reise und gehen, wie das vor
langem schon Thomas Pynchon beschrieb, zwischen den
Matrizen eines riesigen Digitalrechners spazieren [...] Im
dunklen Licht des Bildschirms, abgekoppelt von der eigenen
Herkunft und vom eigenen Körper, umsummt von den
gesichtlosen Stimmen im Netz und vom Maskenspiel der
Chatter [...] Als hätte es alle Beruhigungen der Vernunft nicht
gegeben, haben wir uns im Netz wieder auf die Suche
gemacht: Neuland.
(Null, S. 58)
Lesen als Schreiben
„Der neue Dichter, der vor seinem Terminal sitzt und
gespannt darauf wartet, welch unerwartete Wort- und
Satzformationen auf dem Bildschirm aufleuchten
werden, ist von einem schöpferischen Taumel ergriffen,
der in nichts der Hitze des Kampfes des schreibenden
Dichters gegen die Sprache nachsteht.“
(Flusser: Die Schrift 1991, S. 69)
Online schreiben, schnell, schnell. War nicht von Anfang an
allen klar, als die Zeit im Netz noch teuer war. [...] Emails
sind Geständnisse an die Maschinen, in ihren neuen Raum.
Von vielen, denen ich maile, kenne ich noch nicht einmal die
Stimme. Aber eine eigene Stimme denke ich mir, lese ich
ihre Antworten. [...] Ich erfinde neue Geheimnisse. Das
Blinken des Cursors am Ende eines Satzes beruhigt mich.
Beim Schreiben hat man nichts zu verlieren. Beim WiederLesen schon. Es ist so, als gingen die ausgesprochenen
Geheimnisse der Antwortenden auf mich über. Speichern.
(The buch, S. 113)
PC, „geheimnisvolle Instanz“ (Rainald Goetz)
Optik der digitalen Schrift
NASA – MS-DOS
Windows: Ridley Scott
Immer geht es darum, den naturellmäßig zu verhakten,
verbohrten, auch zu konzentrierten Blick zu
DEZENTRIEREN, zu öffnen, den in ihm angelegten
Krampf zu lösen, Panik und Druck rauszunehmen, alle
äußeren Pflichten, Zusagen und Pläne abzusagen, um
dann endlich, von allem befreit, im Freien die Zeit ihre
Arbeit in einem tun lassen zu können (S. 353 f).
Was leisten die telematischen Augen?
Augenbewegungen: Messung durch gaze-tracker (in oder
vor dem Monitor platzierte Infrarottechnik zeichnet
Sakkaden und Fixationen auf)
Studien zur Tätigkeit des Auges am Bildschirm:
maximale Verweildauer auf Internetseiten
Mouseclicks messbar
relativ langsame Bildschirmlektüre (ca. 30% langsamer
als Papierlektüre
(Kontrastwirkung schwarz/weiß auf Papier günstiger)
Gedächtnis, Mnemotechnik des Arbeitens am Bildschirm
ist ungeklärt
Lesen ist Geschlechtersache
• Mädchen/Frauen lesen quantitativ mehr als Jungen/Männer
(Garbe 2008, 66)
• Geschlechter bevorzugen unterschiedliche Texte:
Mädchen/Frauen – fiktionale Genres, Biografien
Jungen – Abenteuergenres, spannungs- und
aktionsgeladene Bücher, äußere Ereignisse, Fantasy.
Männer eher Sachbücher (Garbe 2008, 67)
• Lesemodi unterschiedlich: Mädchen/Frauen empathisch,
emotional beteiligt, Jungen eher Abtauchen in die Fiktion,
Männer distanziert (Garbe 2008, 67)
• nach PISA lesen Mädchen besser als Jungen und sind sie
in den anspruchsvolleren Verstehensbereichen wie Werten
oder Kommentieren besser zu Hause (Garbe 2008, 67)
These:
„Die sozialen Kontexte und Institutionen sowie die medialen
Angebote im Printmedienbereich, die Prozesse der
Lesesozialisation in der Kindheit und Jugend modellieren,
bedienen heutzutage die Interessen von Mädchen besser als
die der Jungen. Die vielfach diagnostizierte Leseschwäche
und Leseunlust der Jungen ist eine Folge dieses
Sachverhaltes.“
(Garbe 2007, 73)
Ursachendiskussion:
Figuren in der KJL / Identifikation?
„Feminisierung der Erziehung“?
„Feminisierung der Bildungsarenen“?
(Schilcher 2003, Garbe 2008)
Lesen ist auch Familiensache
Lesesozialisation hängt mit davon ab, welche Einschätzung
und vor allem Praxis des Lesens im Elternhaus vorherrscht
(aktiver, engagierter oder erledigender Umgang)
Vorlesen:
• gerade die dialogische Anlage des Vorlesens prägt ein
engagiertes (oder im negativen Fall des Fehlens
gleichgültiges) Leseverhalten
• gemeinsame Bedeutungskonstitution zwischen Eltern und
Kind fördert Wortschatzbildung
• der Grad der Anschlusskommunikation entscheidet mit über
die Qualität des Vorlesens
Vorleseverhalten ist milieuspezifisch (Wieler 1997)
Lautleseverfahren
zielen auf Beschleunigung des Lesens, Erhöhung der
Leseflüssigkeit (fluency), wobei das Verbinden von Wortund Satzfolgen routinisiert werden soll:
Der Sichtwortschatz soll ausgebaut und Sätze sollen
sequenziert werden können (‚prosodic parsing‘)
100 Wörter/Minute
cross-age-reading
paired reading
(Rosebrock/Nix 2008, 31ff).
Vielleseverfahren
wollen insgesamt die Leseleistung auf allen Ebenen
verbessern
beinhalten kaum spezielle Lesestrategien, sondern zielen
auf Motivationssteigerung, auf das Selbstkonzept der
Lesenden und darauf, dass sie auf der Prozessebene ihr
Lesen steuern lernen
Quantität entscheidend
geläufige Hypothese:
Lesen lernt man vor allem durch viel Lesen
Leseolympiade
Antolin
Sustained silent reading
Lesestrategien
kognitive Lesetheorien
• beziehen sich auf das basale Erfassen von Textaussagen
• kognitives, strukturierendes Erarbeiten von Textverstehen,
für welches im Unterricht ein Werkzeugkasten erarbeitet
werden soll
• Selbstbeobachtung beim Lesen soll geschult werden
(metakognitive Steuerung)
• Wort- und Satzidentifikation, lokale Kohärenz
• globale Kohärenz, also die Makrostrukturen des Textes,
Superstrukturen
selbstreguliertes Lernen/Lesen
„Lernende, die ihr eigenes Lernen regulieren, sind in der
Lage, sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und
Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen
und sie auch einzusetzen […] Die Selbstregulation des
Lernens beruht demnach auf einem flexibel einsetzbaren
Repertoire von Strategien zur Wissensaufnahme und
Wissensverarbeitung sowie zur Überwachung der am Lernen
beteiligten Prozesse“
(Artelt, Cordula/Demmrich, Anke/Baumert, Jürgen: Selbstreguliertes Lernen. In:
Baumert/Klieme/Neubrand/Prenzel/Schiefele/Schneider/Stanat/Tillmann/Weiß 2001, S.
271-298; hier S.271)
Ordnende Strategien:
• Textstellen unterstreichen oder sonstwie highlighten
• für definierte Textpassagen Überschriften finden
• Kernsätze unterstreichen und deren Inhalt knapp in einem
Satz zusammenfassen
• semantische Markierungen oder Betonungen auffinden
(z.B. strukturgebende Signalworte
Lesen als selektiver Prozess:
zunächst primärer Wahrnehmungsprozess:
• Buchstaben (visuelle Analyse und phonologisches
Rekodieren)
• Identifikationen von Buchstaben und Wörtern mit
Bedeutung
• Syntaxebene ermöglicht eine Beziehungserstellung
(Vorgang semantischer und syntaktischer bzw. auch
Textanalyse)
Zusammenhangserstellung/Kohärenzbildung durch selektive
und schlussfolgernde Tätigkeiten:
Aufmerksamkeit und Relevanzfilterung
elaborierende Strategien
gehen über die Textebene hinaus:
• Vorwissen wird aktiviert, innere Bilder werden aufgebaut
und beschrieben
• Gefühle oder Meinungen artikuliert
• Vermutungen über den Textfortgang
• eigene Lesekommentare am Rand notiert
• kontroverse Ansichten per Stichwort festgehalten
• kritische oder ergänzende Einwürfe
• weiterführende Fragen
Inferenzen (elaborierende Strategie):
Herstellen von Beziehungen zwischen verstreuten
Textelementen sowie Hinzufügen von Informationen durch
den Leser – ein aktiver Vorgang, der für nötig Textverstehen
ist
(Inferieren als konstruktiver Leserbeitrag)
Wortebene (Ausdifferenzierung der Wortbedeutungen)
Satzebene (Instrumente, Folgen von Handlungen)
Textebene (Themabildung: Was ist das Thema? Was wird
passieren? Wie ist die Figur beschaffen? Was sind ihre
Gedanken/Gefühle?)
• textbasierter und
• wissensbasierter Vorgang
wiederholende Lesestrategien:
• Vergleich einer ersten und einer zweiten Lesevariante
• Differenz von Hypothese/Erwartung und vertieftem
Eindruck (besonders auffällig bei einer ambivalenten
Erzählweise wie bei Kleist)
• Abschreiben einzelner Textpassagen
(vgl. E. Paefgen: textnahes Lesen; (Gold 2007, S. 48f)
Leseanimation:
• Domäne der Leseförderung
• Motivation zum Lesen soll erhöht werden
• vor allem durch institutionell- kulturelle Veranstaltungen
• positive Wirkung auf das Selbstkonzept des Lesenden
• Tätigkeit des Lesens wird in soziale Kontexte erweitert
Lesen:
einsame Technik und/oder literarische Geselligkeit?
• Bücherkisten im Klassenraum einrichten
• Klassenbibliotheken einrichten
• Klassenzimmer lesefreundlich einrichten
• Einsatz von Hörbüchern
• Erstellung einer Leseliste/einer Leserolle/eines
Lesetagebuchs begleitend zu einer Lektüre
• Lesezeichen zum Buch erstellen (grafisch gestalten)
• Buchvorstellungen von aktuellen Büchern und
Lieblingsbüchern im Unterricht
• Literarische Talkshow veranstalten [literarisches
Gespräch]
• Events zu aktuellen literarischen Themen durchführen
• Hitlisten erstellen [Bewertung]
• Bücher tauschen
• Führen eines Lesepasses
• Vorlesen von interessanten Büchern im Unterricht
• ein längeres Projekt zu einem literarischen Thema/einem
Buch durchführen
• mit Filmen und Literaturverfilmungen arbeiten
• Eltern aktiv in die Leseanimation miteinbeziehen
• Einrichtung von Leseecken/Cafés
• Gründung von Lese- und Buchclubs
• Schulbibliothek nutzen [von Schülern aufbauen lassen, die
eine Systematik vorschlagen]
• Ausstellungswände/Postergalerien/Schaukästen/Bühnen
für buchbezogene Aktionen einrichten
• Lesenächte in der Schule
• Literaturseiten für die Schülerzeitung einrichten
• Buchmagazin gründen
• Bibliotheksbesuche
• Besichtigung von Buchmessen, Buchausstellungen,
Buchhandlungen, Verlagen, Druckereien
• literarische Spaziergänge in der Heimatstadt oder als
Exkursion
• Buchhandlungsgespräche
• Autor(inn)enlesungen, Lesewerkstätten mit diesen
• Gestaltung von Webseiten, Portalen mit Literaturseiten
literarisches Lesen
‚littera‘, ‚textus‘
Polyvalenzkonvention:
Mehrdeutigkeit
Ästhetikkonvention: Eintritt in
fiktive Welt
Empathie, Identifikationsfähigkeit
Distanznahme
ästhetisches Spiel
Genuss
Möglichkeitssinn, Perspektivenspiel
sachliche Urteilskraft
moralische Urteilskraft
Identitätsbildung
Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich
ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr
verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich
geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken
über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden,
ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus,
glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu
ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und
sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich,
„da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs auf, gibs auf“,
sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab,
so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
(Franz Kafka: Gibs auf. FaM 1970, S. 320f.)
ästhetische Wahrnehmung:
sinnlicher Eindruck
Einnahme eines bis dahin fremden Blickwinkels
andere Perspektive – kein festzuhaltender Standpunkt,
sondern „eine Meinung oder Möglichkeit, die man ins Spiel
bringt und aufs Spiel setzt und die mit dazu hilft, sich
anzueignen, was in dem Text gesagt ist“
(Gadamer: Wahrheit und Methode 1960, 268)
Literarische Bildung (Eggert 2002) will literarische Stoffe
zugänglich machen und poetisch-poetologische Einsichten
vermitteln
Kenntnis von Gattungen und Epochenbegriffen (Abraham
2008)
Poetische Kompetenz (Abraham 2008): weitergehende
Fähigkeit zur verstehenden Rezeption, welche eine
Lesefähigkeit nicht notwendig braucht. Sinnliche
Orientierung.
(Bsp.: Hören von Audiobooks, Besuch von
Theateraufführungen, Kinderlyrik)
Leseförderung soll zum Lesen animieren und ein
stabiles Leseverhalten ermöglichen (BertschiKaufmann 2003)
Lesetraining soll ermöglichen, Techniken des
Entziffern und Strategien des semantischen
Erfassung von Texten zu packen (Schnotz/Dutke
2004)
„So soll unser Schüler die Gedanken, die er entleiht, so
umgestalten und einschmelzen, daß daraus ein
Erzeugnis entsteht, das ganz sein Eigentum ist: ich
meine, sein eigenes Urteil. Dies zu bilden, das ist der
einzige Zweck seines Lernens, seines Arbeitens,
seines Studierens.“
(Montaigne: Essais, 1580)
Bildung: allgemein/speziell
Wanderjahre:
Wilhelm: Man hat aber doch eine vielseitige Bildung
für vorteilhaft und notwendig gehalten.“
Montan: „Sie kann es auch sein zu ihrer Zeit“,
versetzte jener; „Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur
das Element vor, worin der Einseitige wirken kann,
dem jetzt genug Raum gegeben ist. Ja, es ist jetzo
die Zeit der Einseitigen; wohl dem, der es begreift,
für sich und andere in diesem Sinne wirkt.“
(Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre)
Lesesozialisationsforschung:
• impliziert ein ästhetisches Verständnis von Lesen im
umfassenden Sinn
• Lesen als Motivations-, Erlebnis- und Bildungsfaktor
• Möglichkeit, emotionale Faktoren des Lesens zu stärken
• durch Wahrnehmung ästhetischer Modelle zu
Persönlichkeitsbildung / Identitätsgewinn beizutragen
aktiver und konstruktiver Leser beim literarischen Text:
hierarchiehöhere Prozesse spielen sich in
satzübergreifenden Analysen von Textstrukturen ab
(bzw. globale Kohärenz)
Textintentionen, Darstellungsformen, übergreifende
Zusammenhänge, Problematisierung
Interpretation also mit Kontexten und Bewertungen
dadurch möglich: Eintreten in weitergehende
Verständigung oder Diskussion über den Text in der
Schule oder privat (Anschlusskommunikation)
Lesenorm Nr. 1:
„Lesen dient der Befähigung des Individuums zur
rationalen Selbstbestimmung. Es hat durch die
wissensbezogene und sozialmoralisch orientierte
Rezeption von pragmatischen und literarischen Texten die
Voraussetzungen, für die eigene Fähigkeit zur
verantwortlichen Teilnahme an der Gesellschaft und deren
Fortentwicklung zu schaffen.“
(Groeben/Schroeder 2004, 311)
Lesenorm Nr. 2:
„Lesen literarisch-ästhetischer Texte dient der
existentiellen Persönlichkeitsentwicklung. Dabei soll die
Distanz künstlerischer Literatur zur Alltagssprache und zu
pragmatischen Alltagskontexten in Form von ästhetischer
Sensibilität, Selbstreflexion und Reflexion der Historizität
menschlicher Erfahrung für die persönliche
Weiterentwicklung der Leser/innen produktive gemacht
werden.“
(Groeben/Schroeder 2004, 311)
Lesenorm Nr. 3:
„Lesen dient der Erfüllung von motivational-emotionalen
Erlebnisbedürfnissen des Individuums. Es hat die
Fähigkeit zu entwickeln, aus der Rezeption jeglicher (auch
pragmatischer) Literatur Genuss als persönliches
Glückserleben bzw. Lebensfreude zu gewinnen, wobei die
ästhetische bzw. gehaltliche Qualität der Ausgangstexte
für die Erfüllung der ‚Erlebnisnorm‘ eine nachrangige
Rolle spielt.“
(Groeben/Schroeder 2004, 312)
noch einmal: Kompetenzen?
Weinert fasst unter Kompetenzen „die bei den
Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren
kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte
Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen
motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften
und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu
können“
(Franz Weinert 2001, 27 f)
Klieme: fordert klar formulierte Kompetenzerwartungen
(gegen einen Katalog von Lernzielen)
Diese ermöglichen, „den individuellen Lernweg zu
planen, Lernhindernisse zu erkennen und bestmögliche
Fördermöglichkeiten abzusprechen“
(Klieme 2007, 48)
Erwartung: Werkzeuge nach Stufenplan
prozedurales Wissen wird dem substanziellen
gegenübergestellt
Ästhetik des Lesens
Die Kraft einer Landstraße ist eine andere, ob einer sie geht
oder im Aeroplan drüber hinfliegt. So ist auch die Kraft eines
Textes eine andere, ob einer ihn liest oder abschreibt. Wer
fliegt, sieht nur, wie sich die Straße durch die Landschaft
schiebt, ihm rollt sie nach den gleichen Gesetzen ab wie das
Terrain, das herum liegt.
Nur wer die Straße geht, erfährt von ihrer Herrschaft […]
So kommandiert allein der abgeschriebene Text die Seele
dessen, der mit ihm beschäftigt ist, während der bloße Leser
die neuen Ansichten seines Innern nie kennen lernt, wie der
Text, jene Straße durch den immer wieder sich
verdichtenden inneren Urwald, sie bahnt: weil der Leser der
Bewegung seines Ich im freien Luftbereich der Träumerei
gehorcht, der Abschreiber aber sie kommandieren läßt.
(Walter Benjamin: Einbahnstraße IV, 90)