Springerklassen im Gymnasium als Beitrag zur Begabtenförderung

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Transcript Springerklassen im Gymnasium als Beitrag zur Begabtenförderung

Akzeleration
oder
adäquates
Anforderungsniveau?
Ergebnisse eines Schulversuchs in Hamburg
Dr. Mitra Anne Sen, Universität Rostock
Inhalt
Der Hamburger Schulversuch
„Schulzeitverkürzung in Springergruppen“
(2000-2005)
 Klassifikation schulischer Begabtenförderung
 Mehrdimensionales Modell von Hochbegabung
 Schulversuche in anderen Bundesländern
 Konzeption des Hamburger Schulversuchs
 Fragestellungen
 Ergebnisse
Resümee
2
Schulische Begabtenförderung
Beispiele für Begabtenfördermaßnahmen in der Schule:
Akzeleration
integrativ
separativ
vorzeitige Einschulung
Überspringen einer
Klassenstufe
Teilunterricht in höheren
Klassen
Drehtürmodell
Binnendifferenzierung
D-Zug-Klassen bzw.
Springerklassen
Spezialklassen
Spezialschulen
Frühstudium
Enrichment
Binnendifferenzierung
Drehtürmodell /SEM
Spezialschulen
Leistungskurse
besondere Lernprogramme
3
Theoretischer Hintergrund: Hochbegabung
Bsp.: Münchner (Hoch-)Begabungsmodell (Heller et. al., 1986)
Interessen
Leistungsmotivation
Arbeitsverh./
Selbstkonz.
Prüfungsorge
Ängstlichkt.
Kausalattribution
Mathematik
Intellektuelle
Fähigkeiten
Nichtkogn. Persönlichkeitsmerkmale
(Moderatoren)
Kreative
Fähigkeiten
Naturwissenschaften
Technik
Soziale
Kompetenz
Praktische
Intelligenz
Begabungsfaktoren (Prädiktoren)
Leistungsbereiche
(Kriterien)
Informatik,
Schach
Kunst (Musik,
Malen)
Künstlerische
Fähigkeiten
Sprachen
Umweltmerkmale
(Moderatoren)
Musikalität
Sport
Psychomotorik
Soziale
Beziehungen
Familiäre
Lernumwelt
Familienklima
Instruktionsqualität
Schulklima
Krit. Lebensereignisse
4
Schulversuche in anderen Bundesländern



BEGYS („Entwicklung und Erprobung von
Modellen der Begabtenförderung am
Gymnasium mit Verkürzung der Schulzeit“): Der
Modellversuch in Rheinland-Pfalz (vorher: DZug-Klassen), 1990-1995
„G8-Klassen“ in Baden-Württemberg, 1992-2001
Schnelläuferklassen in Berlin, seit SJ 1993/94
5
Befunde zur Akzeleration von Klassen (Vock
et al., 2007)





20-25% eines Gymnasialjahrgangs in der Lage, ohne
Leistungseinbußen das Gymnasium in kürzerer Zeit zu
durchlaufen
Separierung der Klassen: keine bedeutsamen Probleme
(sozial oder emotional)
Kein „brain-drain“
Keine negativen Auswirkungen auf Leistung oder
Selbstbewusstsein durchschnittlich oder
unterdurchschnittlich Begabter
Insgesamt positive Ergebnisse trotz Schwächen bei der
Auswahl geeigneter SuS
6
Empfehlungen zur Akzeleration von Klassen
(Vock et al., 2007)


•
•
Didaktische und methodische Abstimmung des
Curriculums auf die Bedürfnisse besonders Begabter
SuS (höhere Selbständigkeit, Aufgaben mit
anspruchsvollerem kognitiven Leistungsniveau)
Sorgfältige Auswahl, um Schwierigkeiten in zwei
Bereichen vorzubeugen:
Negativere sozial-emotionale Entwicklung geeigneter SuS in
Regelklassen
Ggü. Regelklassen schlechtere Ergebnisse bei nicht
überdurchschnittlich begabten und nicht überdurchschnittlich
leistungsmotivierten SuS in akzelerierten Klassen
7
Der Hamburger Schulversuch als Beispiel einer Akzelerationsmaßnahme:
Schuljahr
Springer
ab Kl. 7
Regelkl.
Springer
ab Kl. 6
Erhobene
Daten
2005/06
10
11
11
Interviews mit
Projektleitern
2004/05
9
10
10
FEES-Skalen**
Schulnoten
2003/04
8
8/9
9
Schulnoten
7
7/8
7/8
2002/03
CFT 20, WS, ZF
MHBT-Skalen **
Schulnoten
Beobachtungen durch
Lehrkräfte
(Auswahlkrit.,
Noten): Empfehlung*
2001/02
6
6/7
Regelklass
Regelklass
Regelklass
eSchulnoten
e
e
Beobachtungen durch
Lehrkräfte (Auswahlkriterien,
Noten): Empfehlung*
2000/01
5
8
Auswahlkriterien

Schulnoten: Kernfächer min. 2 x 2, max. 1x 3; Durchschnitt mind. 2,5
(ohne Sport) und keine 5 im Zeugnis

Kognitive/kreative Merkmale (hohe Intelligenz, schnelle Auffassungsgabe,
logisches Denken, Transfer- und Kombinationsfähigkeit, Detailwissen,
Regelkenntnisse, ungewöhnliche Lösungsansätze, kreatives Assoziieren)

Motivation und Arbeitshaltung (Leistungsmotivation, Ausdauer, Disziplin,
Fleiß, Selbständigkeit)

Soziale Kompetenzen (Integrationsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein,
Altruismus)

Emotionale Stabilität
9
Der Hamburger Schulversuch: Stichprobenbeschreibung
Gesamtzahl
SchülerInnen
davon Mädchen
davon Jungen
Gesamte Stichprobe
(31 Klassen an 7
Gymnasien)
638
342
296
Regelklassen
(24 Klassen)
514
277
237
Springerklassen
(7 Klassen)
124
65
59
Springerklassen ab
Klasse 6 (3 Klassen)
63
Springerklassen ab
Klasse 7 (4 Klassen)
59
10
Der Hamburger Schulversuch: Fragestellungen






Auswahl geeigneter Schülerinnen und Schüler für die
Springerklassen (Schulnoten, kognitives Potenzial, nicht-kognitive
Persönlichkeitsmerkmale, Umweltmerkmale)
Lernsituation und soziale Situation in den Springer- und
Regelklassen
Leistungsentwicklung in Springer- und Regelklassen
Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern vergleichbarer
Leistungsfähigkeit in Springer- und Regelklassen
Bewertung des Schulversuchs durch Springer- und Regelklassen
Bewertung des Schulversuchs durch die Schulen
11
Evaluation: Instrumente



Schulnoten
Grundintelligenztest CFT 20 (Weiß, 1998), inkl. Wortschatztest und
Zahlenfolgentest
Münchner Hochbegabungstestbatterie für die Sekundarstufe
(MHBT-S),

Skalen: Kreativität, Soziale Kompetenz, Erkenntnisstreben,
Leistungsmotivation, Arbeitsverhalten, Schulklima, Familienklima

FEES: Fragebögen zur Erfassung der Einstellungen zum
Modellversuch in Rheinland-Pfalz (Kaiser et al. 1997)

Skalen: Erfahrungen in der eigenen Klasse, Verhalten der anderen Klassen,
Abschließende Bewertung, Spaß an der Schule, Gerechtigkeit in der Schule
und Gerechtigkeit des Schulversuchs

Leitfaden-Interviews mit den Projektleitungen an den Schulen
12
Ergebnisse: Auswahlkriterien (Schulnoten)
Alle Mittelwertunterschiede zwischen Springer- und Regelklassen:
höchst signifikant
Mathematik
Deutsch
1. Fremdsprache
SK Jungen
Gesamtdurchschnitt
o. Sport
SK Mädchen
RK Jungen
RK Mädchen
6
7
8
9
10
11
12
13
Ergebnisse: Auswahlkriterien (kognitives Potenzial)
Alle Mittelwertunterschiede: höchst signifikant
14
Ergebnisse: Auswahlkriterien (kognitives Potenzial,
differenziert nach Niveau)
Springerklassen:

55 SuS mit IQ < 120, 61 SuS mit IQ ≥ 120 (darunter: 24 SuS mit IQ ≥ 130)
Regelklassen:

338 SuS mit IQ < 120, 141 SuS mit IQ ≥ 120 (darunter: 40 SuS mit IQ ≥
130)
- Effizienz der Springerklassen:
52,6 % besonders Begabte (IQ ≥ 120)
- Effektivität der Auswahl:
35,3% besonders Begabte identifiziert
(Springer und Nominierte mit IQ ≥ 120)
- β-Fehler:
ca. 65% mit IQ ≥ 120 nicht als besonders
begabt erkannt oder aus anderen Gründen
nicht für SK geeignet
15
Ergebnisse: Diskriminanzanalyse zwischen SK und RK
Kreativität, soziale Kompetenz, Erkenntnisstreben, Leistungsmotiviation,
Arbeitsverhalten, Schulklima, Familienklima: „Top Ten“
Merkmal (MHBT-Subskala)
MHBT-Skala
Diskriminanz
-koeffizient
p
Schülerverursachte Störungen
Schulklima
.77
***
Engagement der Mitschüler
Schulklima
-.58
***
Kooperativer Lehrer
Schulklima
-.46
***
Kooperative Mitschüler
Schulklima
-.38
***
Schulisches Selbstkonzept
Arbeitsverhalten
-.35
***
Wettbewerb/Konkurrenz
Schulklima
.35
***
Furcht vor Misserfolg
Leistungsmotivation
.26
**
Instabilität der Denkabläufe
Arbeitsverhalten
.26
**
Leistungsdruck
Schulklima
.24
**
Zusammenhalt
Familienklima
.23
**
16
Ergebnisse: Auswahlkriterien (Kreativität, Soziale
Kompetenz, Leistungsmotivation)
Merkmal
Springerkl.
Regelkl.
Signifikanz
Effektstärke
p
d
T-Mittelwert
s
T-Mittelwert
s
Kreativität
(KRT-S)
45,74
9,3
49,12
9,9
**
0,35
Soz. Komp.
(SK-S)
52,41
10,45
51,42
10,21
n.s.
./.
Hoffnung auf Erfolg
Furcht vor Misserfolg
Leistungsstreben
SK Jungen
Erkenntnisstreben
SK Mädchen
RK Jungen
RK Mädchen
40
45
50
55
60
17
Ergebnisse: Auswahlkriterien (Arbeitsverhalten)
Prüfungsangst
Prüfungssorgen
Allgemeine Angst
Instabilität der Denkabläufe
Schulisches Selbstkonzept
Allg. Selbstwert
Kausalattribution internal
Kausalattribution external
Arbeitseinteilung
Aufmerksamkeitssteuerung
SK
RK
35 37 39 41 43 45 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65
18
Ergebnisse: Lern- und soziale Situation (Schulklima)
Kooperativer Lehrer
Kooperation in der Klasse
Wettbewerb/Konkurrenz
Engagement der Schüler
Leistungsdruck
Störungen durch Schüler
SK
RK
35
40
45
50
55
60
65
19
Ergebnisse: Lern- und soziale Situation (Familienklima)
Zusammenhalt
Offenheit
Konfliktneigung
Selbständigkeit
Leistungsorientierung
Kulturelle Orientierung
Aktive Freizeit
Organisation
Kontrolle
SK
RK
35
40
45
50
55
60
65
20
Ergebnisse: Leistungsentwicklung in Springer- und
Regelklassen (alle Fächer ohne Sport)
2005
2004
2003
SK Jungen
2002
SK Mädchen
RK Jungen
RK Mädchen
6
7
8
9
10
11
12
21
Ergebnisse: Leistungsentwicklung in Springer- und
Regelklassen bei vergleichbarerer Leistungsfähigkeit
bei IQ ≥ 120 (alle Fächer ohne Sport)
2005
2004
2003
SK Jungen
SK Mädchen
2002
RK Jungen
RK Mädchen
6
7
8
9
10
11
12
22
Ergebnisse: Leistungsentwicklung in Springer- und
Regelklassen bei vergleichbarerer Leistungsfähigkeit
bei IQ ≥ 130 (alle Fächer ohne Sport)
2005
2004
2003
SK Jungen
2002
SK Mädchen
RK Jungen
RK Mädchen
6
7
8
9
10
11
12
23
Ergebnisse: Lern- und soziale Situation (Schulklima)
bei hoch begabten Schülerinnen und Schülern (ab IQ =
130) in Springer- und Regelklassen
(SK: N = 24, RK: N = 40)
Kooperativer Lehrer
Kooperation in der Klasse
Wettbewerb/Konkurrenz
Engagement der Schüler
Leistungsdruck
SK Jungen
SK Mädchen
Störungen durch Schüler
RK Jungen
RK Mädchen
35
40
45
50
55
60
65
24
Ergebnisse: Gerechtigkeitswahrnehmung

Ungerechtigkeit in der Schule:
Mittelwert SK 2,51 (s=1,04)
Mittelwert RK 2,81 (s= 0,88)
d=0.31*

Schulversuch ist gerecht/ungerecht: alle Mittelwertdifferenzen signifikant
(überwiegend mittlere Effekte)
Schulversuch ist ungerecht
Nachteile für Regelklassen
unabsehbare Folgen
Schulversuch ist gerecht
individuelle Förderung
gerechter Vergleich
Springerkl.
Regelkl.
Parallelkl.
0
1
2
3
4
5
25
Wahrnehmung von Gerechtigkeit





Gerechte-Welt-Glaube (Lerner, 1980; Schmitt
et al., 1995):
Beeinflusst soziale Urteile und Bewertungen
maßgeblich für eigenes Verhalten in sozialen
Situationen
wesentliche Voraussetzung für eigene
Bemühungen und Anstrengungen
mit Wohlbefinden und Leistungsbereitschaft
assoziiert
26
Stimmen von Schülerinnen und Schülern
der Springerklassen (2005)


„Früher fand ich den Versuch gut, weil es eine neue
Erfahrung und eine tolle Chance ist; heute finde ich den
Versuch eher gut, weil es toll ist, in einer Gruppe zu
arbeiten, die eigentlich nur aus Personen besteht, die
wirklich etwas lernen wollen und sich nicht dauernd
gegenseitig ablenken.“
„Früher fand ich den versuch gut, weil man die
Möglichkeit hat, eine Klasse zu überspringen, ohne in
den Ferien Stoff nachholen zu müssen; heute finde ich
den Versuch eher gut, weil man eine Klasse
übersprungen hat, ohne es aktiv zu merken und weil die
Klassengemeinschaft gut ist.“
27
Stimmen von Schülerinnen und Schülern
der Springerklassen (2005)


„Früher fand ich den Versuch gut, weil man ein Jahr
einsparen konnte und der Unterricht nicht viel
schwieriger war als in der anderen Klasse; heute finde
ich den Versuch eher schlecht, weil die Klasse etwas
von den anderen abgespalten wurde und die Zeit für den
vielen Stoff etwas zu kurz war.“
„Früher fand ich den Versuch gut, weil es eine
interessante Erfahrung sein würde; heute finde ich den
versuch eher schlecht, weil die Durchführung z.T.
ungeplant war.“
28
Positive und negative Aspekte aus
SchülerInnensicht

•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Positiv:
ein Jahr einsparen
weniger Wiederholung im
Unterricht
bessere Förderung
schnellerer Unterricht, höheres
Lerntempo
weniger Langeweile, intensiverer
Unterricht, viele Projekte
neue Erfahrung machen
guter Zusammenhalt der Klasse
kleine Klasse
neue Leute kennenlernen, Freude
finden
mit intelligenteren Leuten
zusammen sein

•
•
•
•
•
•
•
Negativ:
Notenverschlechterung bei
denjenigen, die gerade noch mit in
die Klasse konnten
allgemeine Schulzeitverkürzung;
zu junge Abiturienten
Akzeptanz-/Kontaktverlust bei
früheren Freunden
Lehrer nicht gut
Klasse nicht so toll
keine gelungene Integration in den
Jahrgang
zu hohes Tempo
29
Ergebnisse: Bewertung des Schulversuchs durch die
Schulen

Springerklassen:


Leistungsorientierung, Leistungsbereitschaft
Lernbegeisterung, Problemlösung, Wissensdurst, Vertiefung
Selbststeuerung, Selbstorganisation, Disziplin, Belastbarkeit
Gutes Sozialverhalten

Regelklassen:


Weniger Kreativität und Motivation als in Springerklassen
Schnelleres Aufgeben, kein Drang, voranzupreschen
Weniger positives Sozialverhalten
(Erhalten weniger positive Signale)

Vereinzelt Transfereffekt: Ansporn und Wettbewerb durch Springer




30
Resümee

Springerklassen:


Leistungsorientierte Auswahl
Gutes Arbeits- und Sozialverhalten
Positiver Leistungsverlauf
Positive Bewertung der Erfahrung durch SchülerInnen und Schule

Regelklassen:

Zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler mit überdurchschnittlichem
allgemeinem kognitiven Potenzial kamen nicht in die Auswahl für SK
Deutlich schlechtere Wahrnehmung des Schulklimas
Schwächeres schulisches Selbstkonzept, stärkere Misserfolgsorientierung
Schlechtere Bewertung der Gerechtigkeit von Schule und Schulversuch





31
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
32