Lehrpersonen - Kindgerechte Schule

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Transcript Lehrpersonen - Kindgerechte Schule

Das Bild des Lehrberufs
im Lichte des gesellschaftlichen Wandels
der Schule
Roland Reichenbach, Universität Basel
Allgemeine Thesen zum Bild der Lehrperson
• Das Bild der Lehrperson und der Grad der gesellschaftlich
verankerten Achtung der Schule als Institution stehen in einem
engen Zusammenhang.
• Die Anerkennung der Leistungen des Bildungssystems bzw. der
daran beteiligten Personen ist ein Ausdruck der Anerkennung der
kulturellen Bestände (Wissen, Können, Einstellungen), welche durch
Schule tradiert werden: „Zukunft braucht Herkunft“.
• Die Schwächung der Aura bzw. der pädagogisch-kulturellen
Autorität der Schule zieht eine Verunsicherung, Beliebigkeit,
Psychologisierung und Individualisierung des Lehrerbildes mit sich.
Bemerkungen zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung
• Lehrerinnen- und Lehrerbildung vermag vieles, nicht aber
gesellschaftliche Veränderungen verhindern oder limitieren.
• Doch es gilt immer noch (und kann empirisch untermauert werden):
Lehrpersonen spielen eine zentrale Rolle (nicht die
Lehrerpersönlichkeit etc.), d.h. v.a.
– ihr pädagogisches Rollenverständnis und
– ihr professionelles Können
• Unbelegte These: Der Diskurs um das dezidiert pädagogische
Rollenverständnis der Lehrperson ist in den – notwendigen Professionalisierungsbemühungen der letzten Jahre geschwächt
worden.
Zur Diagnose einer
„ent-auratisierten“ Schule: Problemfelder
1. Ent-Kanonisierung und Re-Kanonisierungsversuche des Wissens
und des Bildungserbes
2. Relativierung von Regeln und Normen: verstärkte
Begründungspflichtigkeit
3. Hinterfragung der Lehrperson in didaktisch-methodischer und
pädagogischer Hinsicht
4. Selbstdisziplin und Anstrengungsethos („Üben“)
5. Instrumentalisierung der Schule und Bildung (sog. „träges Wissen“
als Feind der guten Schule…)
6. Familie (Eltern) und Schule (Lehrpersonen): Loyalität, Kritik und
Ambivalenz
Spannungs- und Kampffelder der Schule
in demokratischen Gesellschaften…
„Kampfarena“ 1: Was soll gelehrt werden?
Generalisierung oder Spezialisierung?
„Kampfarena“ 2: Wer soll gefördert werden?
Breitenförderung oder Spitzenförderung?
„Kampfarena“ 3: Was ist Bildung?
Bildung als Gut oder Bildung als Wert?
Grundthese und Grundeinsicht
„Es gibt Dinge, über die man sich einigen kann, und wichtige Dinge“
(Max Planck zugeschrieben)
Probleme, die nicht zu lösen sind, kann (und soll) man auch nicht
lösen.
Reaktionen…
Ebene der (wissenschaftlichen) Analyse:
Normative Überdetermination des Schulsystems
„Man kann mehr auf Förderung der Individuen abstellen oder mehr
auf Herstellung von Chancengleichheit und Ausgleich von
Benachteiligungen durch Schichtung und Geschlecht. Man kann
mehr auf Förderung der Schulklasse Wert legen oder mehr auf
Förderung der Zurückbleibenden. Wie geht das System mit solchen
Inkonsistenzen um?
Auf der Ebene der Professionen mag man sie leugnen und in den
Geheimnisbereich des individuellen Könnens und der Erfahrung
hineinziehen. Die Lösung des Problems liegt in der Leugnung des
Problems...“ (Luhmann 2002, S. 165).
Die Ebene der pädagogische Rhetorik…
Beispiel «Wandel der Leitbilder in Schulen»
(zit. nach Seeger 2003 in Anlehnung an Miller 1993 und Voß u.a. 1998).
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Lebendiges Lernen statt Stoffvermittlung
Subjektive Wirklichkeiten statt objektive Wahrheiten
Wissenskonstruktion statt Wissensreproduktion
Vernetzung statt Linearität
Beziehung statt Erziehung
Vereinbarungen statt Durchsetzung
Kompetenz- statt Defizitorientierung
Unterstützung statt Belehrung
Team statt Einzelkämpfertum.
Die Ebene der zeitgenössischen Reformen
Abbildung 1: Hierarchisches Strukturmodell von Kompetenz
E. IV
E. III
E. II
E. I
American Evaluation Association (2006)
„Während die Defizite des gegenwärtigen Schulunterrichts
schwerwiegend sind, behindert die vereinfachte Auswertung
einzelner Tests oder ganzer Testbatterien, um folgenden reiche
Entscheidungen über Individuen und Gruppen zu treffen, das
Lernen von Schülern, statt es zu verbessern. Vergleiche von
Schulen und Schülern auf der Grundlage von Testergebnissen
fördern die Ausrichtung des Unterrichts auf den Test, insbesondere
in Formen, die keine Verbesserung des Lehrens und Lernens
erbringen…“
„Obwohl mehr als zwei Dekaden in Gebrauch, hat staatlich
verordnetes Testen mit einschneidenden Folgen (für Schüler, Lehrer
und/oder Schulen) die Qualität der Schulen nicht verbessert, noch
hat es die Disparitäten im Bildungserfolg zwischen den
Geschlechtern, Rassen oder Klassen beseitigt, noch hat es das
Land in moralischen, sozialen oder ökonomischen Begriffen
vorangebracht“
(zit. u. übers. nach R. Münch 2009, S. 38).
Currupting effects of high-stakes testing
(Nichols & Berliner 2005)
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Administrator and Teacher Cheating
Student Cheating
Exclusion of Low-Performance Students from Testing
Misrepresentation of Student Dropouts
Teaching to the Test
Narrowing the Curriculum
Conflicting Accountability Ratings
Questions about the Meaning of Proficiency
Declining Teacher Morale
Score Reporting Errors
Pädagogische Panik?
Monitoring, Evaluation, Kontrolle…
„Ich denke, was wir gerade erleben, ist eine pädagogische Panik,
die die moralische Panik maskiert, eine tiefe Panik in unserer
Gesellschaft, die nicht weiß, was ist und wohin es geht. Und das ist
eine Periode der pädagogischen Panik. Und es ist das erste Mal,
dass pädagogische Panik die moralische Panik maskiert bzw.
verschleiert“ (Bernstein, zit. u. übers. v. Sertl 2004, S. 26).
Die gesellschaftlichen Veränderungen, die widersprüchlichen
Erwartungen und die in letzter Zeit beschleunigten Reformschübe
destabilisieren die Institution der Schule und verunsichern das
Rollenverständnis der Lehrpersonen bzw. behindern die
Identifikation mit den (neuen, mitunter überflüssig erscheinenden)
beruflichen Anforderungen.
Stabilität und Normalität sind aber Voraussetzungen für die
pädagogische Qualität der Schule und das pädagogische
Selbstverständnis der Lehrperson.
Lernerfolg und Wirkungsfaktoren
• John Hattie (2008) „Visible Learning. A Synthesis of over 800 MetaAnalyses relating to Achievement“. London: Routlegde…
– 800 Meta-Analysen, 52‘637 Einzelstudien, mehr als 200
Millionen Schüler/innen
– 138 Einzelfaktoren, sechs Faktorengruppen
• Effektstärkste Faktorengruppe: die Lehrperson
(Schüler/innen, Familie, Schule, Lehrpläne, Unterricht)
„Teachers matter…“
• Die Lehrperson ist umso wichtiger, je schwieriger das soziale
Umfeld ist, in welchem die Kinder aufwachsen. In gut situierten
sozialen Umfeldern kommt es – sozusagen – weniger darauf an,
eine/n „gute/n“ Lehrer/in zu haben…
• Welche Lehrpersonen sind – nach Hattie – besonders wirksam?
Deren Unterricht geprägt ist von: Aktivität, hohe Lenkung und
Direktivität, häufige Lernkontrollen und Ergebnisrückmeldungen…
Erziehung und Unterricht als Zeigen
Klaus Prange (2005): Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss
der Operativen Pädagogik. Paderborn u.a.: Schöningh
Drei Grundformen des Zeigens
• Das ostensive Zeigen: Vormachen (gerichtet auf Erwerb von
Kenntnissen und Fertigkeiten), das Lernen als Üben.
• Das repräsentative Zeigen: Darstellen (gerichtet auf Wissens- und
Kenntniserwerb), Lernen als Einsichtig- und Wissend-Werden.
• Das direktive Zeigen: Anweisen (gerichtet auf Ausbildung von
Haltungen, Lernen als reflexive und urteilskräftige Tätigkeit.
Trend gegen das Zeigen?
• „Es darf begleitet und ausgehandelt, beraten und moderiert werden,
um in kommunikativer Bemühung der Lernfähigkeit zu entsprechen,
aber ‚Zeigefinger‘, das hört sich nach Bevormundung und
Forderung, eben nach ‚Erziehung‘ an“ (a.a.O., S. 71).
• „Insbesondere dem Lehrberuf wird die Grundlage entzogen, wenn
das Zeigen und der Zeigestock zusammen mit all den neueren
Hilfsmitteln für gutes, klares und verständliches Zeigen als
unstatthafte Bevormundung denunziert und dafür ein Lernmodus als
Äquivalent anempfohlen wird, der selbst das erst produzieren will,
was er rezipieren soll“ (ebd.).
Beschreibungen der Lehrperson...
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Tugenden
Fähigkeiten / Kompetenzen
Fertigkeiten / skills (hard skills & soft skills „heart skills“)
Einstellungen / Haltungen / Grundhaltungen
Charakter / Persönlichkeit / Temperament
Person / (berufliche) Identität
„Der berufene Lehrer“ (Schneider in Ackermann 1960)
„Ein sittlicher Charakter, ausgestattet mit vielen Tugenden, besonders mit
Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Milde, Liebe und Heiterkeit, begabt mit hoher
Intelligenz, einem treuen, umfangreichen, schnellbereiten Gedächtnis,
einer reichen Phantasie, einem tiefen Gefühl und der Fähigkeit zur
Unterdrückung der unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen, voller Aktivität
und Unternehmungslust, charakterisiert durch ein schnelles psychisches
Tempo, aber auch durch innere Ruhe und Bedächtigkeit, gekrönt durch
die pädagogische Anlage im engeren Sinne, nämlich: Neigung mit
Kindern umzugehen, mit ihnen zu spielen, sie zu belehren und zum
Guten zu leiten, unverwischte Jugendlichkeit, Mitteilungsbedürfnis und
Darstellungsgabe, Fähigkeit zur Erfassung der Schülerindividualität und
der Anpassung an dieselbe, pädagogischer Takt, Fähigkeit der ...
Klassenführung, wozu besonders persönliche Energie, Gefühl der
Überlegenheit und distributive Aufmerksamkeit gehören. Stellen wir uns
alle diese Eigenschaften vereinigt in der großen, für alles Gute und
Schöne aufgeschlossenen, wesenhaften Persönlichkeit vor, auf dem
Goldgrund einer tiefen Religiosität, so haben wir das Bild des idealen
Lehrers und Erziehers nach seiner geistigen Seite.
Körperliche Verfassung: Gesunder, kräftiger Körper,
Widerstandsfähigkeit gegen die Beschwerden des Berufes, also vor
allem gesunde Nerven und kräftige Atmungswege, normale Gestalt und
achtungswerte äußere Erscheinung, Leichtigkeit und Anstand der
Bewegung aller Gliedmassen und gesellschaftliche Gewandtheit“
(„Psychologie des Lehrerberufes“)
Zwei Formen von Verantwortung
In der Erziehung und Bildung von Kindern übernehmen die
Erwachsenen „die Verantwortung für beides, für Leben und Werden
des Kindes wie für den Fortbestand der Welt. Diese beiden
Verantwortungen fallen keineswegs zusammen, sie können sogar in
einen gewissen Widerspruch miteinander geraten“ (Hannah Arendt
1958/1994 S. 266f.).
- Das Kind vor der Welt schützen.
- Die Welt vor dem Kind schützen.