4. Beschlussverfahren

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Transcript 4. Beschlussverfahren

Europarecht I
Prof. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice
Humboldt-Universität zu Berlin
Pflichtvorlesung im Öffentlichen Recht
4. Studiensemester
Wintersemester 2010/11
§ 4 Rechtsquellen und
Beschlussverfahren
EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/E.N.E.L.
Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der
EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem
Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.
Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit,
die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit
internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus
der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der
Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die
Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben
die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre
Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper
geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.
EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991 I-6079 – EWR I.
„Dagegen (in Abgrenzung zum EWR-Abkommen) stellt
der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer
völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde,
nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer
Rechtsgemeinschaft dar... Die wesentlichen Merkmale
der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft
sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten
und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre
Staatsangehörigen und sie selbst geltender
Bestimmungen.“
Rechtsquellen
Primärrecht
Sekundärrecht
„Tertiärrecht“
= Grundlagen der EU
EUV
• AEUV
• Protokolle, Anhänge,
(vgl. Art. 51 EUV)
• Änderung,
Beitrittsvertr.
• Allgemeine
Rechtsgrundsätze
• Grundrechtecharta
• EMRK ? Vgl. Art. 6 III
EUV, Art. 52 III, 53
GRCh
=> „Verfassung“
der Europäischen Union
= Recht, das von den
Organen auf Grundlage der
Verträge erlassen wird
= Rechtsakte, die von
den Organen auf
Grundlage von
Sekundärrecht erlassen
werden
Art. 288 AEUV:
• Verordnung
≈ deutsche
Gesetze
• Richtlinie
• Beschluss
• Empfehlung/Stellungnahme
Art. 218 AEUV
:Völkerrechtliche Verträge
EU-Vertrag (GASP):
• Allg. Leitlinien (Art. 25 EUV)
• Standpunkte
• Völkerrechtliche Verträge
(Art. 37 EUV)
• Delegation Art. 290
AEUV
• Durchführung Art. 291
AEUV
≈ deutsche Rechtsverordnungen bzw.
Verwaltungsakte
Allgemeine Rechtsgrundsätze / EUGrundrechte
Art. 6 III EUV (Übernahme der EuGH Rspr.)
(3) Die Grundrechte, wie sie in der
Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten
gewährleistet sind und wie sie sich aus den
gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der
Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine
Grundsätze Teil des Unionsrechts.
Handlungsformen des Sekundärrechts
Artikel 288 AEUV
Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe
Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und
Stellungnahmen an.
Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen
verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird,
hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch
den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an
bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich.
Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich.
Handlungsformen des Tertiärrechts
Artikel 290 ff. AEUV
Rechtsakte ohne Gesetzescharakter:
1.
Art. 290 AEUV: Delegierte Rechtsakte. Bedingungen sind,
dass
- der Gesetzgebungsakt Ziel, Inhalt, Geltungsbereich und
Dauer der Befugnisübertragung genau festlegt Wesentlichkeitskriterium (Abs. 1, Uabs. 2).
- Eine Beteiligung des Europäischen Parlaments
sichergestellt ist (zwei Varianten nach Abs. 2)
2.
Art. 291 AEUV: Durchführungsrechtsakte, mit denen der
Kommission oder dem Rat Durchführungsbefugnisse
übertragen werden.
- Zweck: Einheitliche Bedingungen für die Durchführung
durch die Mitgliedstaaten
- Kontrolle: Komitologiebeschluss nach Abs. 291 III AEUV
(bisher: Beschluss 2006/512/EG v. 17.7.06)
Gesetzesinitiative und
Vorschlagsmonopol
1. Vorschlags-“monopol“ der Kommission Art. 17 II EUV,
Ausnahmen: etwa Art.
27 III EUV: EAD-Beschluss auf Vorschlag des HV,
76 AEUV: Justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit auch Mst
127 IV AEUV: Finanzaufsicht durch EZB (ohne Vorschlag: EZB?)
129 IV AEUV: Satzungsänderungen der EZB (Empf. EZB o. Kom)
219 I AEUV: Wechselkurssystem mit Drittstaaten (Empf. EZB o. Kom)
223 AEUV: Allg. Regeln für Europawahl, Abgeordnetenstatut (EP)
2. Allgemeine Initiativrechte zur Gesetzgebung der Union:
Europäisches Parlament (Art. 225 AEUV),
Rat (Art. 241 AEUV),
Unionsbürger durch Bürgerinitiative (Art. 11 IV EUV)
3. Bindungswirkung des Kommissionsvorschlags:
Änderung durch den Rat nur einstimmig: Art. 293 I AEUV
Rücknahmemöglichkeit durch die Kommission: Art. 293 II AEUV
Gesetzgeber und Verfahrensarten
1. Wer ist Gesetzgeber in der Union?
Grundsatz: Rat und Parlament (Art. 14 I, 16 I EUV)
Ausnahme 1: Kommission als Gesetzgeber (Art. 106 III AEUV)
Ausnahme 2: Durchführungsgesetzgebung (Art. 105 III, 290, 291 AEUV)
Ausnahme 3: EZB als Gesetzgeber (Art. 132 AEUV, mit Sanktionen)
2. Gesetzgebungsverfahren-Gesetzgebungsakte Art. 289 AEUV
- Ordentliches (Art. 294 AEUV): EP und Rat gleichberechtigt
- Besonderes (in der jeweiligen Kompetenznorm geregelt, vgl. Art. 352)
3. Verfahren der Vertragsänderung (Art. 48 EUV)
- Ordentliches Änderungsverfahren (Abs. 2-5) mit und ohne Konvent
- Vereinfachtes Änderungsverfahren (Abs. 6): keine Kompetenzerweitg.)
- Allgemeine Brückenklausel (Abs. 7): dazu Art. 23 I-Gesetz nötig
4. Zur Erinnerung Mitgliedstaaten als Unionsgesetzgeber bei
Richtlinien, Umsetzungspflicht: Art. 288 III AEUV iVm. Art. 4 III
EUV
Vorbereitung der Rechtsakte durch die
Kommission
Protokoll (2) zum Vertrag von Lissabon
(Subsidiaritätsprotokoll):
Artikel 2
Die Kommission führt umfangreiche Anhörungen
durch, bevor sie einen Gesetzgebungsakt vorschlägt.
Dabei ist gegebenenfalls der regionalen und lokalen
Bedeutung der in Betracht gezogenen Maßnahmen
Rechnung zu tragen. In außergewöhnlich dringenden
Fällen führt die Kommission keine Konsultationen
durch. Sie begründet dies in ihrem Vorschlag.
Ordentliches Gesetzgebungsverfahren:
Art. 289 I AEUV
1. Vorschlag der Kommission Art. 17 II EUV, Art. 294 II AEUV
2. Verfahren bis zur Billigung durch Rat und Parlament, ggf.
unter Einschluss des Vermittlungsausschusses:
1. Lesung: Art. 294 III-VI
2. Lesung: Art. 294 VII-IX
3. Vermittlungsphase: Art. 294 X, XI
4. Dritte Lesung: Art. 294 XIII, XIV AEUV
3. Beratende Funktion von Wirtschafts- und Sozialausschuss
sowie Ausschuss der Regionen: Art. 300 ff. AEUV
4. Begründungspflicht für alle Rechtsakte (Art. 296 AEUV)
5. Ausfertigung durch Unterzeichnung: Art. 297 I AEUV,
6. Veröffentlichung im Amtsblatt: Art. 297 I Uabs. 2 AEUV
7. Inkrafttreten zwanzig Tage nach Veröffentlichung Art. 297 I
Uabs. 2 AEUV
Mitentscheidungsverfahren nach Art. 294
AEUV - in drei Phasen
Kommission
Ministerrat
Europ. Parl
Vorschlag
Stellungnahme:
Erlässt Rechtsakt so
Zustimmung
Erlässt geänderten Rechtsakt
Änderungsvorschlag
oder
Gemeinsamer Standpunkt
Stellungnahme der
Kommission
In 3 Monaten
Kein Beschluss
Billigung
Rechtsakt nur einstimmig mögl.
Erlässt Rechtsakt qual.Mehrheit
in 6 Wochen
Anrufung
Ablehnung
Annahme nötig
in Rat und EP
Ablehnung
Stellungnahme
Einigung
2.
Änderung
Vermittlungsausschuss
Rat - Kom - EurParl
6 Wochen Frist
Keine Einigung =Ablehnung
in 6 Wochen
.
1.
in 6 Wochen
Ablehnung
Annahme nötig
In Rat und EP
3.
Verfahren mit anderer Form der
Beteiligung des EP - Art. 289 IV AEUV
Ausnahmsweise sehen die Verträge „ein besonderes Gesetzgebungsverfahren“ vor (vgl. Art. 289 II AEUV, idR. mit einstimmigem
Beschluss, ausnahmsweise mit QMV *, oder gar mit einfacher
Mehrheit ** des Rates und:
Anhörung (Art. 27 III, 41 III, 48 III, VI 2 EUV, Art. 21 III, 22, 23, 64 III, 74, 77 III,
78 III, 81 III, 87 III, 89, 95 III*, 103 I*, 109*, 113, 115, 118 II, 125 II*, 126 XIV 3*,
127 VI, 128 II*, 129 IV*, 140 II 1*, 148 II*, 150**, 153 I 3*, 4, 160 I**, 182 IV*,
188 I*, 192 II, 194 III, 203, 218 VI lit.b*, 219 I, 246 II, 262, 286 II*, 308 III, 311 III,
323 II*, 332, 333 II, 349 I*, AEUV)
Zustimmung (Art. 7 I, II, 48 III 2, VII 3, 49 I, 50 II EUV, Art. 19 I, 25 II, 82 II lit.d,
86 IV, 218 VI lit.a, 223 I 2, 311 IV, 312 II, 352, AEUV),
Beteiligung des EP an Entscheidung des Rates nicht vorgesehen: etwa Art.
342, 346 II AEUV
Beachte: Brückenklausel für Übergang zur QMV bzw. ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren: Art. 48 VII EUV und Spezialregelungen,
etwa Art. 31 III EUV