21.03.2013 Energieartikel

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Delegiertenversammlung vom 8. Juni 2013
Energiestrategie 2050
Die verfassungsrechtliche Perspektive
Dr. iur. Reto Müller
21.03.2013
Zur Person
• Leiter wissenschaftliches Sekretariat
zur Herausgabe des St.Galler Kommentars
zur Bundesverfassung (3. Aufl.)
am IRP-HSG
• Stromversorgungsrecht.ch
Der Sprechende gibt seine
persönliche Meinung wieder.
12.10.2012
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Inhalt
1.
2.
3.
4.
5.
6.
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Verfassungsrechtliche Vorbemerkungen
Volksrechte & Kernenergie
Recht & Politik
«Ausstieg»: Relevantes Verfassungsrecht
Beurteilung
Fazit
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1. Verfassungsrechtliche
Vorbemerkungen
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Funktionen der Bundesverfassung
• Normative Konstituierung der staatlichen Organisation
• Beschränkung der staatlichen Macht
• Garantie der grundsätzlichen Rechtsstellung des Individuums
• Grundlage der staatlichen Rechtsordnung
• Materiale Grundordnung
=> In der Schweiz schwierig, einen «materiellen Verfassungsbegriff» zu definieren
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2. Volksrechte & Kernenergie
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Rückblick: «Ausstiegs-Initiativen»
• 1979: Volksinitiative zur Wahrung der Volksrechte und der
Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen (abgelehnt)
• 1981: Volksinitiative für den Stopp des Atomenergieprogramms
(gescheitert)
• 1983: Volksinitiative für eine sichere, sparsame und
umweltgerechte Energieversorgung (abgelehnt)
• 1983: Volksinitiative für eine Zukunft ohne weitere
Atomkraftwerke (abgelehnt)
• 1990: Ausstieg (abgelehnt) & Moratorium (angenommen)
• 2003: Ausstieg (abgelehnt) & Moratorium Plus (abgelehnt)
• Ausstiegsinitiative/Cleantech/Ökosteuer/Energieeffizienz
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Wichtige Behördenvorlagen
• 1979: Ergänzung damaliges Atomgesetz (Bundesbeschluss)
• 1983: Energieartikel
(abgelehnt; Ständemehr)
• 1990: Energieartikel
(angenommen)
• 1999: Neue Bundesverfassung
(angenommen)
• 2003: Kernenergiegesetz (indirekter Gegenvorschlag)
(kein Referendum; Kompromiss [Wiederaufbereitung])
• Aktuell: Umsetzung Energiestrategie 2050
(gleichzeitig indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiativen)
=> fakultatives Referendum oder
obligatorische Volksabstimmung?
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3. Recht & Politik
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Rechtliche Entwicklungen seit 2011
unverändert
•
•
•
•
•
Bundesverfassung
Staatsverträge
Kernenergiegesetz
Energiegesetz*
Stromversorgungsgesetz*
*Kleine Änderungen (EnG: Fahrzeuge,
Verbrauchwerte; StromVG: Leistungsaufträge)
Entwicklung
Aber (Beispiel):
CVP Schweiz, 9-Punkte-Programm
vom 25. August 2012:
«Die Energiewende in der Schweiz hat
längst begonnen: und zwar in den
Gemeinden und Kantonen. Die
Schweizer Bevölkerung steht hinter der
Energiewende, denn diese schafft
Perspektiven für die Regionen. Im
Herbst wird der Bundesrat auf
Bundesebene aufzeigen, wie der Weg
aus der Kernenergie finanziell tragbar
und technisch machbar ist.»
?
?
• Rechtsprechung
(Mühleberg/Grundversorgung/Tarife)
• (Pläne) Erhöhung KEV
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Blick ins nahe Ausland
(faktische Entwicklung)
EU
Belgien
• Strombedarf wird weiter steigen
• Kernenergie als Mittel zum
Klimaschutz
• Angst um Versorgungssicherheit und
Kosten
• CREG: Prüfung einer Verlängerung
der Laufzeiten der beiden KKW
Frankreich
• Stillegung Fessenheim bis 2016
• ABER Bau Flamanville
(2 EPR à 1600 Mw)
Deutschland
• Schneller Ausstieg
• Hohe volkswirschaftliche und
soziale Kosten
• Fehlende Trassen
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Tschechien
• Ausbau Solar seit 2003; nun Stopp
• Stellungnahmen (Warnungen) ERU
• Pläne für KKW nahe der dt. Grenze
Vereinigtes Königreich
• «Ausstieg» der dt. Wirtschaft
• Einstieg asiatischer Unternehmen
• Rahmenbedingungen für neue KKW
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Zwischenfazit
• Rechtsentwicklung durch Rechtsprechung
• Vorwiegend politische Aussagen Bundesrat und Parlament
• Rechtliche Rahmenbedingungen für Branche gelten weiter;
aber: KKW-Rahmenbewilligungsgesuche sind vom BR sistiert
(Sistierungsgrund noch vorhanden?)
• Europäische Entwicklung geht in eine andere Richtung
(Marktöffnung/Entkarbonisierung/Klimaschutz)
• Stimmungsbilder ersetzen keine demokratischen Verfahren
=> Ein «Ausstieg» ist noch nicht beschlossen
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4. «Ausstieg»:
Relevantes Verfassungsrecht
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Wichtigste Verfassungsartikel (1/3)
Willkür und Handeln nach Treu & Glauben (Art. 9 BV)
„Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.“
Energieartikel (Art. 89 Abs. 1 BV)
„Bund und Kantone setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten
ein für eine ausreichende, breit gefächerte, sichere,
wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung
sowie für einen sparsamen und rationellen Energieverbrauch.“
Kernenergie (Art. 90 BV)
„Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Kernenergie ist
Sache des Bundes.“
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Wichtigste Verfassungsartikel (2/3)
Steuern (Art. 131 BV)
„1 Der Bund kann besondere Verbrauchssteuern erheben auf:
a. Tabak und Tabakwaren;
b. gebrannten Wassern;
c. Bier;
d. Automobilen und ihren Bestandteilen;
e. Erdöl, anderen Mineralölen, Erdgas und den aus ihrer
Verarbeitung gewonnenen Produkten sowie auf Treibstoffen.
2 Er kann auf der Verbrauchssteuer auf Treibstoffen einen
Zuschlag erheben.
3 (…).“
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Wichtigste Verfassungsartikel (3/3)
Grundsätze der Wirtschaftsordnung (Art. 94 BV)
„1 Bund und Kantone halten sich an den Grundsatz der
Wirtschaftsfreiheit.
2 Sie wahren die Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft
und tragen mit der privaten Wirtschaft zur Wohlfahrt und zur
wirtschaftlichen Sicherheit der Bevölkerung bei.
3 Sie sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für günstige
Rahmenbedingungen für die private Wirtschaft.
4 Abweichungen vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit,
insbesondere auch Massnahmen, die sich gegen den Wettbewerb
richten, sind nur zulässig, wenn sie in der Bundesverfassung
vorgesehen oder durch kantonale Regalrechte begründet sind.
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«Ausstieg» gemäss Bundesrat (1/2)
Erläuternder Bericht zur Energiestrategie 2050 (28.09.2012)
• Ziele in Art. 89 BV, Energiepolitik => Ziele gleichrangig,
untereinander in einem Spannungsverhältnis
(ausreichende, breit gefächerte, sichere, wirtschaftliche und
umweltverträgliche Energieversorgung )
• Art. 90 BV, Kernenergie => umfassende
Gesetzgebungskompetenz, weiter Spielraum
• Sicherheitspolizeilich motivierter Ausstieg kann gesetzlich
angeordnet werden
• Auf S. 132 «(...) Art. 89 und 90 BV eine genügende Verfassungsgrundlage zur Änderung des KEG (Kernenergiegesetzes) bieten,
umso mehr als kein Verbot der Kerntechnologie gewollt ist.»
• Art. 74 BV, Umweltschutz => schädliche Einwirkungen auf
Mensch/Umwelt vermeiden/vermindern
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«Ausstieg» gemäss Bundesrat (2/2)
Änderung Kernenergiegesetz
• Art. 12 Abs. 4:
«Rahmenbewilligungen für die Erstellung von Kernkraftwerken
dürfen nicht erteilt werden.»
=> gilt auch für bestehende Standorte
• Art. 74a:
«Der Bundesrat erstattet der Bundesversammlung regelmässig
Bericht über die Entwicklung der Kerntechnologie.»
=> Hintertüre, aber im Grunde unsinnig (Entwicklungen bekannt)
• Art. 106 Asb. 1bis
«Rahmenbewilligungen für Änderungen bestehender
Kernkraftwerke dürfen nicht erteilt werden.»
=> Insbesondere Druckbehälter / grössere Leistungssteigerungen
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5. Beurteilung
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Beurteilung (1/4)
«S t r o m wende» ist materieller Grundentscheid
=> Langfristiger Umgang mit (politischen?) Restrisiken
=> Positionsbezug hinsichtlich materieller Wertordnung
=> Grosse politische & wirtschaftliche Bedeutung
=> «Jahrhundertentscheid» über Strom-Mix
& Energieaussenpolitik
=> Entscheid über Produktionspark weg von der
Energiewirtschaft («privat»/gemischtwirtschaftlich)
hin zur Politik («Staat»)
=> bislang keine demokratische Legitimation (Volk & Stände)
Willkür / Treu & Glauben (Art. 9 BV)
=> Keine Rückwirkung des Gesetzes
=> Vermeidung von Haftungsansprüchen
=> Aber: Auch keine Willkür in der Gesetzgebung!
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Beurteilung (2/4)
Energieartikel (Art. 89 Abs. 1 BV)
„Bund und Kantone setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten
ein für eine ausreichende, breit gefächerte, sichere, wirtschaftliche
und umweltverträgliche Energieversorgung (...).“
=> «Grundsatzentscheid» für Strom-Mix (inkl. Kernenergie)
=> Zielnorm; Schaffung von Rahmenbedingungen
=> Energieversorgung Sache der Branche
(Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit)
Kernenergie (Art. 90 BV)
„Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Kernenergie ist
Sache des Bundes.“
=> Umfassende Kompetenz (auch Forschung, etc.)
=> Zweck der Regelung, nicht Zweck des Verbots
=> Rahmenbewilligung für Druckbehälter notwendig, ergo ...
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Beurteilung (3/4)
«Teil 1»
• Totaler Wechsel in der Energie- und Umweltpolitik
=> neuer Wertentscheid & vollkommener Zweckwandel des
Energieartikels i.V.m. dem Kernenergieartikel
• 40 % der Stromproduktion sowie Branchenstruktur betroffen
=> Grundsatzentscheid mit grosser volkswirtschaftlicher Bedeutung
=> Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit
• Besondere Betroffenheit der kantonalen Energiepolitik
=> Kantone als Energieversorger / Eigentümer / Standortförderer
=> Föderalistische Komponente
• Langfristige Investitionen notwendig
=> Demokratische Legitimation & Beständigkeit des Entscheids
=> Bereits die Revision KeG ist verfassungsrechtlich nicht abgestützt
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Beurteilung (4/4)
«Teil 2 ff.»
• KEV als etabliertes Förderungsinstrument (Abgabe / Subvention)
=> keine genügende Verfassungsgrundlage (Votum SR Pfisterer)
• Neue eidgenössische Verbrauchssteuern oder Abgaben
=> Änderung der Verfassungsgrundlage
=> Spätestens bei Teil II müsste die BV sowieso revidiert werden
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6. Fazit
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Fazit
Ausstieg aus der Kernenergie ist noch nicht beschlossen
=> Demokratische Verfahren (nicht Umfragen) relevant
«Ausstieg» betrifft gesamte Schweizer Energiepolitik
=> Massiver Einfluss auf Branche (Subsidiarität / Wirtschaftsfreiheit)
=> Einfluss auf Privatwirtschaft (Wirtschaftsfreiheit vs. Lenkung)
=> Einfluss auf Volkswirtschaft (Kosten / Strukturpolitik)
Materiell geht es beim «Ausstieg» um die Änderung der BV
=> Von der Förderung zum Verbot künftiger Anwendung
=> Demokratische Legitimation
(Obligatorische Abstimmung & qualifiziertes Mehr)
=> Beständigkeit des Entscheids (Investitionssicherheit)
Bedeutung und Tragweite des Entscheides muss für
Stimmberechtigte überblickbar sein
=> «Paket» oder Gesamtabstimmung; keine «Salamitaktik»
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7. Backup
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Wer kann heute «aussteigen»?
Wer
Wann
Warum
Besonderes
Branche
Kurz-, mitteloder langfristig
• Sicherheit
• Wirtschaftlichkeit
• Eigene Politik
• Verantwortung
Stromversorgung
Kantone mit
Mittel- oder
Beteiligungen langfristig
• Eigentümerstrategie
(primär über VR)
• Grundsätze des Privatrechts
(OR für AG)
ENSI
Kurz- oder
Mittelfristig
• Sicherheit
(objektiv / konkret)
• Direkt oder indirekt
(Auflagen);
• internationale
wissenschaftliche Standards
Bundesrat/
UVEK
Mittel- oder
langfristig
• Entzug Betriebsbewilligung (mit ENSI)
• falls objektive Gründe
vorliegen (=> sonst SchaE)
Parlament
Langfristig
• Keine neuen
Rahmenbewilligungen
• Individuell-konkrete
Entscheide
=> Platz für «politische» Entscheide auf Stufe Bund erst bei neuen
Rahmenbewilligungsverfahren (Parlament); allerdings auch dort keine Willkür zulässig
(sachliche Begründung des Entscheides im Einzelfall).
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Wie wäre der politische Ausstieg
zu bewältigen?
Änderung der Übergangsbestimmungen der BV (Art. 197):
Text gem. Vorlage Bundesrat Revision KeG
«Rahmenbewilligungen für die Erstellung von
Kernkraftwerken dürfen nicht erteilt werden.
Der Bundesrat erstattet der Bundesversammlung
regelmässig Bericht über die Entwicklung der
Kerntechnologie.
Rahmenbewilligungen für Änderungen bestehender
Kernkraftwerke dürfen nicht erteilt werden.»
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Folgen einer Verfassungsänderung?
«Äusserlich»
 Verfahren der Verfassungsänderung
 Qualifiziertes Mehr von Volk und Ständen => Diskurs
Positiv
 Neue Auslegung Art. 89 und 90 BV; Revision Grundsatzentscheid
 Einschränkung in Wirtschaftsfreiheit möglich
 Einschränkung in Energiepolitik der Kantone möglich
 Demokratische Legitimation gegeben; «richtige» Diskussion
Negativ
 Perpetuierung des Ausstiegs
 Scherbenhaufen möglich
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Normtypen in der BV
• Ziele/Programmnormen
• Grundrechte
• Verbandkompetenzen
– Nach der Rechtswirkung der Aufgabenzuweisung:
• Konkurrierende = nachträglich derogierende Kompetenzen
• Ausschliessliche = ursprünglich derogierende Kompetenzen
• Parallele Kompetenzen
– Nach der Intensität der Aufgabenerfüllung:
• Umfassende Gesetzgebungskompetenzen
• Grundsatzgesetzgebungskompetenzen = Rahmengesetzgebungskompetenzen
• Fragmentarische Gesetzgebungskompetenzen
• Organkompetenzen
• Organisationsnormen
• Etc.
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Auslegung der BV
• Im Grunde: Sehr ähnlich wie Gesetzesauslegung
• Methodenpluralismus
–
–
–
–
Wortlaut (Ausgangspunkt der Auslegung)
Historische Methode (subjektiv-historisch / objektiv-historisch)
Systematische Methode (Verhältnis zu anderen Normen)
Teleologische Methode (Zweck der Norm)
Verfassungsrecht vs. Gesetzesrecht
•
•
•
•
•
Volkssouveränität (Souverän = Volk und Stände)
Grundsatz- & Wertentscheide («Strategie»)
Erhöhte demokratische Legitimation (Volk und Stände)
Erhöhte Beständigkeit (erschwerte Abänderbarkeit)
Normhierarchischer Vorrang gegenüber dem Gesetz
(eigentlich… aber es gilt Art. 190 BV)
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