Xenophon und die Sophistìk

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Transcript Xenophon und die Sophistìk

Xenophon und die Sophistìk
Xenophon war Sokratiker mit antisthenischer Färbung^
die besonders in seiner scharfen Ablehnung jeder Art von
Üppigkeit (τρυφή) und in seiner Hochschätzung des πόνος als
Mittel der Erziehung zur Mannhaftigkeit (άνδρεία), Abhärtung
und Ausdauer (καρτερία) an den Tag tritt. Diese kynisierende
Richtung seiner Ethik steht im schönsten Einklang mit seiner
Vorliebe für die spartanische άγωγή. In religiöser ffinsicht
steht er, von Antisthenes abweichend, auf dem Boden des
polytheistischen Volksglaubens, den er allerdings mit dem Gedanken der Vorsehung (πρόνοια) durchdringt und so auf eine
höhere Stufe des Geistes zu heben sucht. Bei diesen seinen
Anschauungen ist bei ihm von vornherein gegenüber der Sophistik eine ablehnende Haltimg zu erwarten und es ist kaum
wahrscheinlich, daß sich aus seinen Schriften für ihre Kenntnis^
viel gewinnen läßt. Es mag dahingestellt bleiben, ob der heftige
Ausfall gegen die Sophisten im Kynegetikos, wo diese mit den
Philosophen scharf kontrastiert werden, während beide an
anderer Stelle unterschiedslos verbunden erscheinen, wirklich
von Xenophon stammt i). In den Memorabilien treten nur zwei
jüngere Sophisten, Hippias und Antiphon, als Gegner des Sokrates auf. Protagoras und Gorgias fehlen ganz und dem
Prodikos vrärd sogar die Ehre zuteil, von Sokrates beifällig
und ausführlich zitiert zu werden. Auch kam ja der dem
Kyn. 13,1ÉF. Poroi 6,4. Die Echtheit des Kynegetikos ist bekanntlich umstritten. L. R a d e r m a o h e r hat sie im Bhein. Mus. LI (1896),
S. 696ñ., L H (1897), S. 13£F. aus sprachlichen und etilietischen Gründen
verneint und M. P o h l e n z , Gött. G. A. 183 (1921), S. 24, 2, der den
Angriff auf die Sophistik aus Plat. Soph. 231D. 233 В herleitet, und
"W. S c h m i d , GLG.« I 516,2 haben ihm zugestimmt. G. K a i b e l dagegen im Hermes XXV (1890) S. 681 ff., L M e w a l d t im Hermes XLVI
(1911) S. 70ff. und K. M ü n s c h e r im Philol. Suppl. XIII (1920) L. 2
sind unter Preisgabe des Prooimons (I 1-17) für die Echtheit eingetreten.
Die Ansätze für die Abfassungszeit gehen um ein halbes Jahrhundert
auseinander: „spätestens 402" (Mewaldt), „nicht vor 363" (Eaibel), „zweiteHälfte des 4. Jahrhunderts" (Pohlenz).
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Wilhelm Nestle
Xenopbon náhestehende Antìsthenes aus der Schule des Gorgias
und hatte selbst Bhetorik gelehrt 2). Auch hat die neuere
Forschung erkannt, daß die vielgepriesene „Naivität" des
xenophontischen Stils manchmal „zum höchsten Eaffinement
wird" und daß seine Schreibweise deutliche Spuren des Einflusses rhetorischer Kunstlehre zeigt
Xenophon, der erst
etwa in seinem 30. Lebensjahr Athen verließ, hat also die
Sophistik jedenfalls gekannt und man wird seine kritische
Stellung zu ihr, die mit der Sokratik gegeben war, nicht zu
einer Verwerfung in Bausch und Bogen steigern dürfen. Den
Anzeichen, die dafür sprechen, daß er nicht nur in der Form,
sondern auch sachlich manches von ihr gelernt hat und dies
gelegentlich verwertet, soll im folgenden nachgegangen werden.
Von den vier großen Sophisten nennt Xenophon allein
den P r o t a g o r a s nie mit Namen und er scheint auch in der
Tat am wenigsten in seinen Gesichtskreis getreten zu sein, was
wohl damit zusammenhängt, daß Xenophon zur Zeit seines
Todes (415 oder 411) noch in sehr früher Jugend stand. Auch
seine Schriften scheint er, wenn überhaupt, jedenfalls nur ganz
oberflächlich gekannt zu haben. An den ja wohl rasch von
Mimd zu Mund gehenden Homomensurasatz des Sophisten
klingt eine Stelle der Kyrupädie (I 3, 18) an. Die Mutter
Mandane belehrt den Kyros, daß zwar τά δίκαια imter Medem
und Persem verschieden seien, sein Vater Kambyses aber das,
was gerecht sei, nach dem persischen Gesetz bestimme: μέτρο ν
ôè αύτψ ούχ ή ψυχή άλλ' ó νόμος έστίν. μέτρον bedeutet hier
,Maßstab' wie Prot. fr. 1 und Prise, med. 9 (41,20 Heiberg):
μέτρον òè ουτε αριθμόν обте σταθμόν άλλον, πρός δ άναφέρων
€Ϊση TÒ άκριβές, OÖK άν ίυροις άλλ' Ή τοΟ σώματος τήν αϊσθησιν*).
Mit der Anerkennung, daß τά δίκαια in Medien und Persien
„nicht dasselbe" sei, hätte sich Protagoras vollständig einverstanden erklären können; denn, was er beatritt, war ja nicht
Diog. L. VI 1 f. Beziehangen dee Ántisthenes zu Prodikoe und
Hippiae: Hen. Symp. 4, 62.
») E . N o r d e n , Die antike Kunetprosa (1898) I 101.
*) Ebenso noch spät bei Ps.-Plut. Cons. ad Ap. 17 p. I I I D : μίιρον
γάρ τοΟ βίου τό καλόν, ού τό τοΟ χρόνου μήκος. Dagegen noch nicht
Soph. El. 236: τί μίτρον κακότατος ίφυ; hier ist μέτρον Meßbarkeit im
Gegensatz zum Maßlosen.
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Xenophon und die Sophistik
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die Notwendigkeit des νόμος, sondern nur das Vorhandensein
eines allgemein gültigen Begriffs des δίκαιον»). Ein weiterer
schwacher Nachhall eines protagoreischen Gedankenganges liegt
vielleicht noch an einer anderen Stelle der Kyrupädie ( Ш 2,9 f.)
vor, wo davon die Rede ist, daß die Menschen von Natur (φύσει)
ebenso dazu veranlagt seien, sich zu wehren „wie das Rind
mit seinem Horn, das Pferd mit seinem Huf, der Hund mit
seinem Maul und der Eber mit seinem Zahn". Dazu bedarf
es keines andern Lehrers als der Natur selbst Ähnlich sagt
Protagoras in dem auf seine Schrift „Über den Urzustand"
(TTepi της év αρχή καταστάσεως) zurückgehenden Mythus, daß
Epimetheus, der hier nur die Personifikation der Natur selbst
ist, manche Tiere „bewaffnete" (ώπλιΖβ), wofür ein Bruchstück
des zeitgenössischen Ion von Chios zwei weitere Beispiele, den
Löwen und den Igel, wohl aus derselben Quelle anführte").
Wenn endlich in der gleichen Schrift (VI 3,16) Kyros von
Araspas rühmt, daß er αίσχροΰ ήττηθεία ούδενός sei, so hat
zwar auch Protagoras die Ansicht geteilt, daß man ήόονών
ήττάσθαι könne, aber sie gilt überhaupt als die populäre Anschauung und braucht daher auch bei Xenophon nicht auf
eine bestimmte Quelle zurückgeführt zu werden').
Viel sicherer als diese etwas unklaren Beziehwgen zu
Protagoras ist Xenophons Bekanntschaft mit G o r g i a s , der ja
bis tief in das 4. Jahrhundert hinein gelebt hat (c. 483-375).
Er wird zwar nicht in den Memorabüien, aber in der Anabasis
(II 6,16) als Lehrer des boiotischen Söldnerführers Proxenos
genannt, der als „alter Freund" den Xenophon zur Teilnahme
am Zug des jüngeren Kyros veranlaßte. Es ist daher nicht
einmal eine persönliche Begegnung Xenophons mit dem berühmten Sophisten ganz ausgeschlossen, etwa in Thessalien,
Plat. Protag. 320CD (Sohluß des Mythus). Theait. 167 C.
Ion, Phoinix Fr. 38 ; vgl. auch noch zu Prot. 321 В die Parallelstelle bei Herod. III 108, wozu Philol. LXVII (1908), S. 653 und mein
Herodotprogramm (Schöntal in Wbg. 1908, Nr. 766j, S. 16, sowie meine
Auegabe von Platone Protagoras' (1931), S. 22fí·. 69. 93. Zur obigen
Stelle auch S. 0. Dickerman. De argumentis quibusdam e structura
hominis et animalium petitis (Diss. Hal. Sax. 1909), p. 64 70. 72, der
auch auf Plat. Staat IX 586 В verweist. W. Theiler, Zur Geschichte
der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles (1925), S. .S6£f.,
hat die Stelle nicht berücksichtigt.
') Plat. Prot. 352 D ff.
Philoloeus XCIV (N·. F. XLVIII), 1/3
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Wilhelm Neetle
WO Menon aus Pharsalos und Kritias während seiner Verbannung, vielleicht auch Proxenos, mit ihm verkehrten®), oder
in Athen, wohin er ohne Zweifel auch nach 427 noch kam.
Man hat längst auf den scharfen Gegensatz zwischen der
Charakterschilderung des Proxenos und des Menon hingewiesen,
der diese beiden Männer als typische Vertreter entgegengesetzter
Lebensanschauungen erscheinen läßt"). Beide trachten sie nach
Herrschaft (ápxeiv), Ehre, Einfluß und Reichtum; aber Proxenos
will sein Ziel auf rechtlichem Wege (σύν τψ όικαίψ) erreichen,
während Menon als einer jener skrupellosen Immoralisten gezeichnet ist, deren Wille zur Macht vor keinem Frevel zurückschreckt und denen die Einhaltung der Grundsätze hergebrachter
Rechtschaffenheit als Torheit und Schwäche, ανανόρία, wie das
Schlagwort lautet, erscheint i®). Für das Verhältnis des Xenophon
als des Verfassers dieser beider Charakteristiken ist zweierlei
bemerkenswert: daß er die Lehre und die Schule des Gorgias
genau kennt, daß er ihn aber trotzdem nur als Lehrer des
Proxenos, nicht auch des Menon nennt. Xenophon weiß, daß
Gorgias im Unterschied von den übrigen Sophisten ausdrücklich darauf verzichtet hat, die άρετη zu lehren, und daß sein
Unterricht in der Rhetorik sich das Ziel setzt, die Leute dazu
fähig zu machen, andere Menschen zu beherrschen. Diese Kunst
verschafft dem Menschen das höchste Gut: Freiheit und Mächtig).
Das wollen denn auch diese beiden Gorgiasschüler, Proxenos
und Menon, erreichen, genau so wie Polos und Kallikles in
Piatons Dialog. Zum Herrschen aber bedarf es der Überlegenheit (κρείττονα cîvai); das weiß Gorgias genau (Hei. 6): πέφυκβ
γάρ où Tò κρείσσον υπό τοΟ ήσσονος κωλύίσθαι, άλλά τό ήσσον
») Xen. An. III 1,3 fi·. Menon von Pharsalos Diog. L. I I 60. Plat.
Men. 70 ВС. Xen. Mem. I 2, 24. Hell. I I 3, 36. Über Kritias vgl.
Neue Jahrb. f. d. kl. Alt. 1903, S. 81 ff, 189 f. und unten S. 48.
G. S o r o f , Νόμος und φύσις in Xenophons Anabasis. Hermes
X X X I V (1899), S. 668 fF.
") àvavbpia bzw. üvavbpoc, An. I I 6, 26 (fiXiOioc 22). Plat. Grorg.
486 CD. 492 B. 622 E. Antiphon. Tetr. I 1, 8. Eur. Plioin. 609. Thuk.
Ш 82,4. Plat. Staat VIII 660 D. Theait. 176 C. Anon. Jambl. Fr. 6 . 1
(bcüio). Vgl. meine Ausgabe von Piatons Gorgias (1909), S. 18 f. 122.
") Nach Plat. Gorg. 462 С ist die Redekunst αίτιον &μα μέν έλ€υθ€ρίας αύτοίς τοις άνθρώποις άμα bè τοΟ άλλων άρχειν έ ν τ η αύτοΟ
πόλ€ΐ έκάστψ. Ebenso will Proxenos ά ρ χ € ΐ ν (6,17), ôpyeiv καλών κογαθών (19), δ ρ χ ι κ ό ν είναι (26) und Menon ά ρ χ ε ι ν (21).
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Xenophon und die Sophistik
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inrò τοΰ κρ€ίσσονος άρχ6σθαι i^). Das vorzüglichste Mittel dazu
ist die Redekunst mit ihrer ψυχαγωγία. Denn „die Eede (λόγος)
ist ein großer Machthaber, der mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper die göttlichsten Wirkungen erzielt" (Hei. 8).
Grorgias weiß auch, daß man von der „Meisterin der Überredung" einen guten und schlechten Gebrauch machen kann.
Für ihn persönlich ist es selbstverständlich, daß man von den
„faszinierenden" (γοητεύ€ΐν) Mitteln der Beredsamkeit nur einen
anständigen Gebrauch macht, sei es auf ästhetischem Gebiet
wie in der Poesie, sei es im öffentlichen Leben, vor Gericht,
im Eathaus, in der Volksversammlung, sei es endlich im Privatleben, wenn es gilt, einen Menschen zu einem ibm heilsamen
Entschluß zu bringen, etwa einen Kranken zu einer die Gesundheit wiederherstellenden Operation. Auch fur Gorgias
„versteht sich das Moralische von selbst" i^). Daß dies aber
ein Irrtum ist, sieht man an einem Teil seiner Schüler, wie
Kallikles, Menon, Kritias. Das hat Piaton erkannt und läßt
ihm daher durch Sokrates das Zugeständnis abringen, das er
nur zögernd einräumt, daß die formale Kunst der Rhetorik
einen sachlichen Inhalt haben, daß sie περί τό δίκαιον те και
dòiKOv handeln und daß der Redner daher wissen muß, was
recht und unrecht ist"). Piaton wird das "Wesen des Gorgias,
den er achtungsvoll behandelt, ziemlich zutreffend geschildert
haben; aber der Unterschied zwischen seiner und Xenophons
Stellung zu Gorgias ist der, daß Piaton ihn auch für die aus
seiner Schule hervorgegangenen Immoralisten verantwortlich
macht, Xenophon dagegen, entsprechend der eigenen Auffassung des Gorgias, nicht. Deshalb verschweigt dieser, daß
Menon der Schüler des Gorgias war, offenbar aus persönlicher
") Vgl. Thuk. I 76, 2. IV 61, 6. V 89. VI 86, 1 und dazu Neue
Jahrb. f. d. kl. Alt. 1914, S. 673 ff.
ψυχαγωγία Phaidr. 261A. πβιθοΟς όημιουργός Gorg. 453 Α. 464 Α.
466 Α. Guter und echlechter Gebrauch der Rhetorik (όρθώς χρήσθοι)
Gorg. 466 A-457C; dazu Gorg. Hei. 10-13 (γοητεία und μαγεία, Vergleich
mit der doppelten Wirkung der φάρμακα als Arzenei und Gift). Poesie :
Hei. 9; öffentliches Leben Hei. 13; Plat. Gorg. 463 E. Privatleben (Unterstützung des Arztes) : 466 B. Ablehnung alles unsittlichen Gebrauche der
Bhetonk: 466 D, aber auch der Verantwortlichkeit des Lehrers für den
Schüler: 467 D (¿κείνος μέν γάρ ¿πΐ bixaííf xpelqi παpέЬшκεv, 6 Ь' έναντίως
χρήτοι).
") Gorg. 464 Β. 465 Α. 460 Α.
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Wilhelm Nestle
Bücksicht für diesen, während Piaton die von Polos und
Kallikles gezogenen Folgerangen als die rnivermeidliche Fracht
dieses Unterrichts erscheinen läßt. Mit welchem Recht Xenophon
diese, im Unterschied von Piaton, auch dem Menon zuschreibt,
können wir nicht beurteilen. Jedenfalls aber kann dem Gorgias
der Vorwurf einer allzuläßlichen moralischen Indifferenz nicht
erspart bleiben. Er glaubt mit der populären Unterscheidung von
Freunden und Feinden durchzukommen: überlegen (κρείττων)
soll man über beide sein, aber selbstverständlich von dieser
Überlegenheit nur bei den Feinden zu deren Schaden Gebrauch
machen, während man, um einem Freund einen Dienst zu erweisen, allenfalls sogar ein Unrecht auf sich nehmen wird'®).
Genau diese doppelte Moral finden wir nun an einer Stelle
der Kyrapädie (I 6,26-35) breit ausgeführt. In einem Gespräch
mit seinem Vater Kambyses hört Kyros von diesem zu seinem
Erstaunen, daß dem Feinde gegenüber das πλεον€κτ€ΐν in jeder
Form erlaubt sei und daß man nichtsdestoweniger όικαιότατός
те καί νομιμώτατος άνήρ sein könne (27). Denn, sagt er, früher
habe man ihn anders gelehrt. Der Verweis auf die Jagd, bei
der auch alle Arten von πλεονβΗία, κακουργίαι, άπάται, δολώσεις
angewandt werden, verfängt nicht, weil es sich hier um Tiere
handle und nicht um Menschen. Diesen gegenüber, meint der
Sohn, ist es offenbar nützlich, αμφότερα έπίστασθαι, εύ τε ποιείν
καί κακώς άνθρώπους, καί όιόάσκειν άμφότερα ταύτα ?όει èv άνθρώποις (30). Darauf erwidert Kambyses: Άλλα λέγεται, ώ παΐ,
έπί τών ήμετέρων προγόνων γενέσθαι ποτε άνήρ δ ι δ ά σ κ α λ ο ς
τών παίδων, ôc έδίδασκεν dpa τους παΐδαο τήν δικαιοσύνην,
ώσπερ συ κελεύεις, μή ψεύδεσθαι καί ψεύδεσθαι, καί μή έίαπατάν
καί έζαπαταν, καί μή διαβάλλειν καί διαβάλλειν, καί μή πλεονεκτείν
καί πλεονεκτείν. διώριίε δέ τούτων ατε προς TOÙC φίλους ποιητέον
καί δ πρός έχθρούς. καί έτι δε ταύτα έδίδασκεν шс καί τ ο υ ς
φ ί λ ο υ ς δίκαιον εϊη έ £ α π α τ ά ν έπί γε ά γ α θ ψ καί κ λ έ π τ ε ι ν
τα τ ώ ν φίλων έπί ά γ α θ ω (31). Dies war die Lehre des alten
διδάσκαλος. Man lehrte nun demgemäß die Knaben z. B. auch
Plat. Gorg. 466 D: кре(ттш eìvai καί φίλαιν καί ¿χθρών. Gorg.
Fr. 21: 6 φίλος αύτψ μέν à^iUiaci τα όίκαια τόν φίλον ύπουργείν, έκβίνψ
Ь' αυτός όπηρετήσει πολλά καί τών μή όικαίων. Dies schreibt Plutarch,
Ages. 5, dem spartanischen König zu. Anders Xenoph. Ages. 8, If.
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Xenophon und die Sophistik
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in der Gymnastik so zu verfahren, ώσπβρ και Ιν πάλη φασί
τους Έλληναο όώάσκ€ΐν έΕαποτάν. Aber man machte damit
schlechte Erfahrungen : manche lernten es so gut, daß sie dann,
erwachsen, auch ihre Freunde zu übervorteilen und zu betrügen
versuchten (32). Infolgedessen stellte man ein Gesetz (ίιήτρα)
auf: άπλώς όιόάσκβιν τους παΐόας . . . άληθβύειν кш μή έΕαπατάν
και μή πλ€ον€κτεΐν und sie im Übertretungsfalle zu bestrafen (33).
Erst wenn sie die erforderliche Reife (τήν ήλικίαν) haben, hält
man es für zulässig, sie τά προς τους πολ€μίους νόμιμα zu
lehren (34). Demgemäß darf diese auch Kyros jetzt erfahren
(35ff.). Das in diesem Zusammenhang gebrauchte "Wort ^ήτρο
weist deutlich auf den spartanischen Brauch hin, von dem
Xenophon an anderer Stelle (An. IV 6,14f.) spricht"). Im
übrigen aber springt es in die Augen, daß in dem angeführten
Gespräch genau dasselbe T h e m a erörtert wird und genau
in demselben Sinn, wie im 3. K a p i t e l d e r Δισσοί λόγοι,
der sog. Dialexeis, TTepi δικαίου και άόίκου. Der Kompüator
dieses aus der sophistischen und teilweise auch aus der sokratischen Literatur zusammengestoppelten Machwerks drückt
den richtigen Gedanken, daß eine und dieselbe Handlung im
einen Fall erlaubt, im andern unerlaubt sein könne, sehr
ungeschickt so aus: von den δισσοί λόγοι über recht unrecht,
behaupten „die einen" (τοί μέν statt ó μέν), die beiden Begriffe seien verschieden, „die andern" dagegen, sie seien dasselbe i'). Der echte Gegensatz zu den δισσοί λόγοι ist noch in
dem άπλώς der Kyrupädie (33) erhalten. Ist das άδικείν in
jeder Form „einfach", d. h. schlechthin verboten, dann ist alles
in Ordnung; ist dagegen eine Handlung das eine Mal δίκαιον,
das andere Mal αδικον, so ergibt sich allerdings ein scheinbarer
Widerspruch (έναντία 28), woraus aber nicht zu folgern ist,
daß „recht und unrecht dasselbe" sei, sondern daß der formal
gleichen Handlung unter verschiedenen Umständen und bei
verschiedenen Motiven und Zwecken (έπί άγαθψ 31) das eine
Mal sittUche Berechtigung zukommt, das andere Mal nicht
Genau das führt nun der Kompilator in seiner oberflächlichen
Vgl. Lac. Reep. 2, 6.
") So auch der Verf. des ps.-platonischen Dialoge fTepi όικαίου 6,
p. 374 E.
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Wilhelm Nestle
und unbehilflichen Weise aus. Wie wir in der Kyrupädie die
δισσοί λόγοι haben, daß ψβύόεσθαι und έΕαπαταν bald verboten, bald erlaubt, ja geboten sei und sich die Unterscheidung
nach dem Objekt der φίλοι und έχθροί bestimmt (όιώριίί), so
wird das gleiche in Dial. 3,2 ausgesprochen. Dann folgt in
der Kyrupädie die Erweiterung der Zulässigkeit des έίαποτάν
und κλέπτεIV gegenüber den φίλοι zu einem heilsamen Zweck.
Ganz dem entsprechend erklärt der Verfasser der Dial. 3,2-4:
„wenn Vater oder Mutter eine Arzeuei (φάρμακον) nehmen
sollen und es nicht wollen, so ist es sittlich zulässig (όίκαιον),
sie ihnen in einem Brei oder Trank zu verabreichen und zu
sagen, sie sei nicht darin; ebenso den beabsichtigten Selbstmord von Freunden (φίλοι) dadurch zu verhindern, daß man
ihnen ein Schwert oder einen Strick entwendet (κλέπτειν) oder
nötigenfalls mit Gewalt (βία) entreißt" Der Grundsatz wird
dann hier noch ausgedehnt auf die Versklavung und Plünderung
einer feindlichen Stadt, auf den Meineid, wenn dadurch die
Rettung der Vaterstadt ermöglicht wird, ja sogar auf die Beraubung von Heiligtümern (Ιεροσυλέν), d. h. wohl auf Säkularisation von Tempelgeldem zu politischen Zweckende). Diese
drei Beispiele fehlen in der Kyrupädie; ebenso die Ermordung
der nächsten Angehörigen, wie im Falle des Orestes und Alkmaion, die „der Gott", d. h. Apollon, für gerecht erklärte (3,9).
Dann wendet sich der Verfasser zu den τέχναι. Sowohl in der
Tragödie als in der Malerei ist der Künstler der beste, der
am besten zu täuschen versteht (3,10). Aber auch im Eingkampf (πάλη) ist es so, wie das Eätsel der Kleobulina beweist (3,11). Und auch Aischylos (Fr. 301. 302) spricht von
einer απάτη δικαία, deren sich „der Gott" bedient, und von
einem ψευδών καιρός, den er zuweilen ehrt (3,12). Es ist ganz
klar, daß diese Beispiele sämtlich der Veranschaulichung des
Begriffs der δικαία άπάτη dienen. Daß diesen Gorgias für den
Tragödiendichter in Anspruch nahm, ist durch das Fr. 23 bewiesen: δ τε άπατήσατ δικαιότερος τοΟ μή άπατήσαντος και ó
απατηθείο σοφώτερος τοΟ μή απατηθέντος ι®). Daß er dafür
" ) Vgl. Herod. V 36.
Zu Gorg. Fr. 23 und 24 vgl. M. P o h l en ζ, Die Anfänge der griech.
Poetik. Gött. Nachr. Philol.-hiet. Kl. 1920, S. 142ff.
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Xenophon und die Sophietik
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auch die πάλη anführte, hat Diels (zu Dial. 3,12) durch den
Hinweis auf Plat. Grorg. 456 DE wahrscheinlich gemacht, wo
vom Kampf in der Palästra die Rede ist. Noch viel mehr
aber entspricht der Stelle der Dialexeis die Anführung des
Ringkampfes in der Kyrupädie (32): ώσπερ καί è ν ττάλΐ} φασί
τους "Ελληνοο δώάσκειν έ£απατάν. Und auch für diesen Gedanken haben wir einen unmittelbaren Beleg bei Grorgias selbst
in Fr. 8, das Diels dem Olympikos zuweist: то άγαινισμα διττών
άρετών òeÌTO', τόλμης καΐ σοφίας- τόλμης μέν τόν κίνδυνον ύπομεΐνοι, σοφίας δέ τό πλίγμα γνώναι. Was ist πλίγμα? Daß es
samt dem zugehörigen Verb καταπλίσσω (zu Fall bringen) ein
von den „Rhetoren" mit Vorliebe gebrauchter Ausdruck war,
bezeugt Aristophanes, Dait. Fr. 198,5flF. (bei Diels, Vorsokr. 5
I I 319, Thrasymachos A 4). Hesychios (Lex. ed. M. Schmidt
I I I 346) erklärt: πλίγμα- βήμα. άπό τών κυλιομένων καΐ παλαιόντων, δταν παραβάντεο TOÎC σκέλεσι κατέχωσιν (περιβάντεο κατατρέχαισιν emend. Cobet). Kranz (a. a. 0 . Π 287) übersetzt:
„Falle (?)". Mir scheint πλίγμα eher den ,KunstgrifP zu bedeuten, den der sachverständige (das ist, wie ursprünglich, so
auch hier der Sinn von σοφία ^o)) Athlet kennen muß, um den
Gegner zu Fall zu bringen. Dieses σόφισμα ist eine im Ringkampf erlaubte απάτη. Nach dem allem kann gar kein Zweifel
mehr bestehen, daß die g e m e i n s a m e Quelle f ü r Kyrup. I 6,
31 f. und Dialex. 3 G o r g i a s ist. Er erscheint bei Xenophon
verkleidet in den alten persischen διδάσκαλος τών παίδων und
bildet so das Seitenstück zu dem als Erzieher des armenischen
Prinzen Tigranes eingeführten σοφιστής (Kyr. I I I 1,14. 38 ff.),
in dem man, gewiß mit Recht, den Sokrates erkannt hat ^i). Auch
in der Unterscheidung des Lebensalters, in dem den Knaben,
bzw. Jünglingen die absolute und die nur relative Gültigkeit
des Verbots μή άπαταν beigebracht werden soU (Kyr. 28. 34),
könnte man eine Anspielung auf die Unterscheidung der αρετή
des Knaben von der des älteren Mannes sehen
Diese Schlußfolgerung erfährt nun noch eine Bestätigung
von anderer Seite. In jenem Abschnitt von P i a t o n s S t a a t ,
">) Vgl. meine Ausg. von Piatone Protagoras'(1931) S. Ifi".
F. K. H e r t l e i n z. St. und Const. R i t t e r ; Sokrates (1931) S. 86.
Gorg. Fr. 19 (Plat. Men. 71 E).
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Wilhelm Nestle
der von den unwürdigen Vorstellungen von den Gröttern bei
den Dichtern, besonders Homer und den Tragikern, handelt,
erscheinen neben vielen Einzelanführungen auch ganz allgemein
θ€θί έ£απατώντ€θ кш γοητεύοντες (II 381 E). Das paßt genau
auf die beiden in den Dialexeis zitierten Aischylosfragmente
(S. 38); dazu kommt das von Gorgias mit Vorliebe für psychische
Machtvñrkungen gebrauchte Wort γοητεύειν ^з). Es wird also
zum mindesten wahrscheinlich, daß Piaton für seine Erörterung
des δίκαιον im Staat I und II, die er ja freilich an die Theorie
und Definition des Thrasymachos (I 339 0. 340 C) anknüpft,
auch eine Schrift des Gorgias eingesehen hat Sich auf die
Autorität von Dichtern zu berufen, gehörte ja, wie Piatons
Protagoras und Gorgias beweisen, zu den DarsteUungsmitteln
sophistischer Redekunst. Die "Wahrscheinlichkeit erhöht sich,
wenn wir noch eine weitere Partie des Staates (I 331 С ff.)
heranziehen. Auch hier ist von dem Begriff der δικαιοσύνη
die Rede und wird die Frage aufgeworfen, ob es das δίκαιον
„schlechthin" (апХшс ούτως, wozu vgl. Xen., Kyr. I 6,33) gebe,
ob z. B. Simonides recht habe mit seiner Behauptung, daß
TO τα οφειλόμενα έκάστψ άποδιδόναι δίκαιον έστι (331 Ε)
Nein, so wird geantwortet; denn „wenn man von einem Mann,
der bei Verstand war, eine Waffe entlehnte und dieser dann
verrückt wird (μανείς) und sie zurückverlangt, so ist es nicht
gerecht (d. h. sittlich zulässig), sie ihm zurückzugeben noch
auch in diesem Zustand ihm alles wahrheitsgemäß zu sagen"
(331 C). Daß dies ein sophistisches Schulbeispiel ist für die
u. U. nicht nur erlaubte, sondern sogar gebotene Aneignung
fremden Eigentums und damit verbundene Notwendigkeit, die
Wahrheit zu verletzen, liegt auf der Hand. Eben dieses Beispiel
erscheint aber in dem oben (S. 37) besprochenen, auf Gorgias
zurückgeführten Abschnitt der Dialexeis (3,3f.): και κλέτττειν
μάν τά τών φίλων καί βιήσθαι τώο φιλτάτως δίκαιον, αύτίκα
αϊ τις λυπηθείς π τών οίκηΐων καί άχθεσθείς μέλλοι αυτόν διαφθείρεν f| Είφει ή σχοινίω F| άλλω τινί, δίκαιον έστι ταύτα
Gorg. Hei. 10 γοητεία (und θίλγίΐν); 14 φαρμακ€ύ€ΐν καί έκγοητεύ€ΐν. Kallikles bei Plat. Gorg. 484 A κατ£ΐτ(|ί6ειν καί γοητεύειν (durch
die Rede). Vielleicht hat es Gorgias aus der magischen Praxis des Empedokles (Diog. L. 8, 69) auf die Rede übertragen.
'*) Simonid. Fr. 191 (Bergk^ I I I 522).
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Xenophon und die Sopbietik
42
κλέψαι, αϊ όύναιτο, αί Ы úatepíEai καί ?χοντα κοταλάβοι, άφ€λέσθαι βία.
Wir haben nun also drei Quellen, aus denen wir den
Inhalt der Δισσοί λόγοι des G o r g i a s π ε ρ ί τοΟ δ ι κ α ί ο υ
einigermaßen rekonstruieren können: Xenophon, Kyrup. 16,31 f.,
Dialexeis 3 und Piaton (die angeführten Stellen aus Grorgias
und Staat), wozu noch die wörtlichen Bruchstücke des G-orgias
selbst (Fr. 8. 19. 21. 23) kommen. Die Hauptgedanken werden
danach folgende gewesen sein: Es gibt kein δίκαιον schlechthin (άπλώς), sondern es lassen sich darüber δισσοί λ ό γ ο ι ^s)
aufstellen, da es immer auf das Objekt der Handlung ankommt
und auf die Umstände, unter denen sie stattfindet, sowie auf
den Zweck, dem sie dient. Eine gnmdlegende Unterscheidung
ist, ob die Handlung sich auf Freunde oder Feinde bezieht.
Gegenüber den Feinden, zumal im Kriege, ist auch ψεύδεσθαι,
έΕαπατάν, κλέτττειν erlaubt, ja geboten, also auch δίκαιον. Die
Dienste gegen Freunde können es sogar mit sich bringen, daß
man zu ihrem Vorteil dritte Personen irgendwie schädigen
muß (Fr. 21)-"). Es gibt geradezu eine δικαία απάτη. Selbst
ein so frommer Dichter wie Aischylos schreibt sie sogar den
Göttern zu. Für die Menschen gibt es eine solche auch gegenüber von Freunden in bestimmten Fällen; sie muß aber immer
zu ihrem "Wohl (έπί άγαθψ Kyr. 31) dienen. Solche Fälle sind
z. B. die Verhinderung eines Mordes oder Selbstmordes durch
Entwendung oder Vorenthaltung der dem μαινόμενος gehörigen
Waffe (Dial. 3,3 f. Plat. Staat I 331 0) oder die nur auf dem
Weg der Täuschung mögliche Zuführung einer heilsamen Arzenei
bei einem widerspenstigen Kranken (Dial. 3,2). Endlich hat die
δικαία άπάτη in einer Reihe von τέχναι ihre Stelle: so gibt der
Maler die Wirklichkeit täuschend wieder, so sucht der Dichter,
besonders der Dramatiker, im Zuschauer und Hörer die Elusion
eines wirklichen Vorgángs zu erwecken (Dial. 3, 10. Fr. 23),^
so auch der Schauspieler Wissenden eine andere Person vorzutäuschen 2'). Ahnlich sind in der Gymnastik, im Eingkampf usw.,.
Zum Ausdruck vgl. H e i . 10: δισσαί τέχναι uod Fr. 8 bixToi άρεταί.
Dieser Gedanke ist auch in dem pe.-plat. Dialog TTcpl όικαίου δ,
p. 3 7 4 С D übergegangen.
Unter den Beispielen der heraklitisierenden Schrift TTipl Μαίτης
für d i e Identität der Gegensätze erscheint I 24 auch die Kunst des
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42
Wilhelm N e s t l e
allerlei Kiriffe und Kunstgriffe, wie das πλίγμα (Fr. 8. DiaL 3,11 f.
Plato Gorg. 456 DE.) erlaubt Dies ist die "Wahrheit Bei der
Erziehung aber empfiehlt es sich, den Kindern jede Art von
ψεύδος und άπάτη schlechthin (άττλώα) zu verbieten, iirst der
Erwachsene ist für diese Lehre der δισσοί λόγοι reif (Fr. 19.
Kyr. 33 f.).
Fragen wir noch, in welcher Schrift des Gorgias dies
ausgeführt war, so kann die Antwort nur lauten: in seiner
rhetorischen Τέχνη. Aus dieser stammt ohne Zweifel auch
die oben (S. 35) aus Piatons Gorgias angeführte Definition
der Bhetorik als πειθούς όημιουργός, in ihr war auch die Lehre
vom καιρός ausgeführt und sie enthielt auch die beiden Musterreden Helena und Palamedes (Fr. 13. 14). Die Vergleichung
von Phaidr. 261 AB mit Gorg. 452 E legt sogar die Vermutung
nahe, daß die Bezeichnung der Rhetorik als ψυχαγωγία τις
felá λόγων auf die Τέχνη des Gorgias zurückgehen könnte, der
ja gleich nachher (261 C) neben Thrasymachos genannt wird.
Die Verwertung der Rhetorik außer im öffentlichen Leben
„auch in privaten Verhältnissen" (καί έν ίόίοις Phaidr. 261 В)
zeigt ja eben Gorgias im gleichnamigen Dialog (456 B) ausführlich. Wenn hier das Beispiel vom φάρμακον πιείν als
Wirkung der Überredung erscheint, so schließt das nicht aus,
daß es auch in der Lehre von der δικαία άττάτη, die vrir ebenfalls der Τέχνη zuschreiben dürfen, in der in den Dialex. 3,2
angeführten Form figurierte. Ebenso kann der Gedanke von
der δικαία άπάτη beim Ringkampf sowohl in der Τέχνη gestanden haben als auch im Όλυμπικός verwertet worden sein^*).
Eine Berührung Xenophons mit der Helena des Gorgias
scheint mir in der Pantheianovelle der Kyrupädie (VI 1,34 ff.)
vorzuliegen. Hier lacht Kyros, der die gefangene Frau dem
Araspas zur Bewachung anvertraut hatte, έπί τψ κρείττονι
του Ιρωτος φάσκοντι είναι und er begründet sein Mißtrauen
damit, daß selbst θεούς Ιρωτος ήττήσθαι, geschweige denn die
Menschen (36). Genau so entschuldigt Gorgias den Fehltritt
Schauspielers: ύποκριτική έίαπατςί βίδότας. Dies stammt wohl έκ τοΟ αύτοΟ γυμνασίου wie die TVagödie.
Bei dem von Clemens Al. angeführten Fr. 8, das Diels dem
Όλυμπικός zugewiesen hat, ist die Quelle nicht überliefert.
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Xenophon und die Sophistik
43
der Helena (19): δς (sc. Έρως) eí μέν θεός ων ?χ€ΐ θεών θείαν
δύναμιν, πώε δν ó ήσσων εϊη τοΟτον άπώσασθαι κοί άμύνασθαι
δυνατός;
Daß auch der S t i l Xenophons von der zeitgenössischen
Bhetorik und nicht zum wenigsten von der des Gorgias stark
beeinflußt worden ist, ist eingehend bewiesen worden^'). Ich
darf mich daher auf einige Andeutungen und wenige Beispiele
beschränken. Er selbst läßt seinen Sokrates gelegentlich èv
Γοργιείοις ρήμασιν sprechen®®). Als Beispiele von σχήματα
Γοργίεια führe ich an: σώματα καί χρώματα Kyr. 16,16; πάθημα (ψυχήο) - μάθημα ib. Π Ι 1,17 ^ΐ). Unter den Begriff des
ψυχρόν, das Aristoteles und der Verfasser von Περί υψους an
Gorgias κατά την λέδιν und èv так μεταφοραΐς r ü g e n f a l l e n
bei Xenophon Ausdrücke wie άνθρωπος ττιηνός für den Reiter
Kyr. IV 3,15. Hipparch. 8,6 oder θήγειν in übertragener Bedeutung: Kyr. I 6,41. Π 1,11. 13. 203ä). Auch wenn Kyros
von seinen άρχοντες verlangt, daß sie sich bemühen sollen,
durch Toilettenkünste (ähnlich den καλλωπίσματα der Kakia
in Mem. Π 1,22) einen „faszinierenden" Eindruck auf die
Untertanen zu machen und dies mit καταγοητεΟειν bezeichnet
(Kyr. V i n 1,40), ist dies sichtlich Nachahmung gorgianischer
Ausdrucksweise (oben S. 40). Ebenso gehört hierher die
Personifikation abstrakter Begriffe: "Ερως ó άόικος σοφιστής
Kyr. VI 1,41 oder φόβος δεινός συμφύλαΗ Hipparch. 7,7 entsprechen genau dem λόγος δυνάστης μέγαο Hei. 8®^). Endlich
ist die auffallend häufige Verwendung des "Wortes κ α ι ρ ό ς »s)^
über dessen Bedeutung Gorgias in der Τέχνη gehandelt hatte
(S. 42), sicher auf den Einfluß dieses Sophisten zurückzuführen.
Vgl. die gründliche Untersuchung von H. S c h a c h t , De Xenophontis studiis rhetoricie (Berliner Dise.) 1890.
'») Xen. Symp. 2, 26.
»') Vgl. hierzu Hei. 9 (tbióv τ» πάθημα) und Plat. Gorg. 481 D (τό
έαυτοΟ πάθημα).
Arietot. Ehet. Ι Π 3, p. 1405 Ъ 34 und 1406 b б. De eubl. 3,2:
Ξέρίης 6 τών Περσών Ζεύς καί γΟπες ϊμψυχοι τοίφοι.
Zu θήγειν führt Ε. N o r d e n , Antike Kunstprosa I 103,2 noch
Mem. III, 7 an und verweist auf ψυχαΙ τεθηγμένοι bei Alkidamas nach
Arist. Rhet. III 3, p. 1406 a 10.
Vgl. hierzu Πόλβμος βίαιος διΜσκαλος Thuk. III 82, 2; Άώης τέλίος
σοφιστής Plat. Krat. 403 E.
") καιρός Kyr. I, 4, 4. IV 1, 11. V 1, 17. 3, 66. б, 43. 46. V I 1, 6.
38. 43. 3,17. 21 (dreimal!). 29. VII 1, 8. 26. 5, 46. 66. V i l i 2, 10. б, 6. 7. 7,9.
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44
"Wilhelm N e s t l e
Xenophoa hat also den Gorgias gekannt, benützt, geachtet,
auch für seinen Stil mancherlei von ihm gelernt, aber sein
Erziehungsideal durch den sokratisch-antisthenischen Begriff
der άρβτή berichtigt.
Diesem sittlichen Ideal noch näher zu kommen, schien ihm
P r o d i k o s von Keos, der ja in der Tat unter den Sophisten
zu Sokrates selbst die meisten persönlichen Beziehungen gehabt
zu haben scheint®"). Seine berühmte Epideixis über den
Herakles läßt er daher geradezu den Sokrates nacherzählen
(Mem. I I 1,21 ff.) und dem Aristippos als Vorbild empfehlen (34).
Xenophon hat femer im Oikonomikos (besonders c. 4. 5), wie
ein Vergleich mit der 30. Rede des Themistios (Ei γίωργητέον)
wahrscheinlich macht, die Ώ ρ α ι des Prodikos benützt, die
vermutlich in Anknüpfung an den Kult des Keischen Heros
Aristaios und der Hören ein Lob des Ackerbaues enthielten,
wie ich unlängst an anderer Stelle nachzuweisen versuchte»^).
Dort habe ich auch auf die Beziehungen dieser Schrift zu der
Rede des Prodikos über den R e i c h t u m im ps.-platonischen
Eryxias (397 D ff.) aufmerksam gemacht, nach der dieser nur
dann ein (rut (χρήμα) wird, wenn man ihn recht zu benützen
(χρήσθαι) weiß. Dies ist nun auch der Grundgedanke in dem
Gespräch zwischen Kyros und Kroisos (Kyrup. V I I I 2,15-23),
das geradezu als ein έπί0€ΐτμα bezeichnet wird (15). Blroisos
nimmt ja hier gegenüber Kyros ungefähr dieselbe Stellung des
lebenserfahrenen und weisen Beraters ein wie bei Herodot
Solon gegenüber Kroisos. Ganz in Übereinstimmung mit dem
Eryxias wird hier derjenige für den εύόαιμονέστατος erklärt,
der seinen Reichtum nicht vergräbt, vermodern läßt und ängstlich hütet, sondern ihn auf rechtmäßige Weise erwirbt und
für sich und andere zu guten und schönen Zwecken zu verwenden weiß (κτασθαι πλ€ΐστα συν τώ όικαίψ καί χρήσθαι òè
πλ€ίστοις σύν τψ καλώ 23)=^"). In einem andern Gespräch
zwischen dem Perser Pheraulas und einem von ihm beschenkten
Saker (Kyr. V I I I 3,35-48), dem jener sein ganzes V^^rmögen
»«)
»')
'ή
Fr. 198.
Plat. Hipp. maj. 282 C. Tbeait. 161B.
Hermes LXXI (1936), S. 151 ff.
Vgl. hierzu Xen. An. II 6, 18. De vect. 4, 7. Eurip. Antiope
Antiphon Fr. 54 (Diele).
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Xenophon und die Sophistik
45
Übergibt, wird der zweifelhafte Wert des Reichtums, der mehr
Sorgen bringt als Glück, dem bescheidenen und zufriedenen
Los des Landmanns (37 f.) und dem hohen Gut der persönlichen Freiheit (σχολή 48) gegenübergestellt. Hier paßt jedenfalls das Lob des Ackerbaues ganz in die Gedankenwelt des
Prodikos, während die Kennzeichnung des Eeichtums als einer
Last und Sorge (άνία 44, λύπη 41), dessen Besitz ebenso wie
sein Verlust den Schlaf raubt (42), und die Hochschätzung
der persönlichen Unabhängigkeit dem kynischen Gedankenkreis
und seinen Wertungen nähersteht
Eine Spur prodikeischer
Synonymik (διαίρεσις των буоцатшу Prot. 358В) scheint vorzuliegen Kyrup. V I I I 1,31: διήρβι (sc. Κύρος) bè αιδώ και σωφροσύνην т^Ье, шс τους μέν α ΐ δ ο υ μ έ ν ο υ ς τά èv τψ φανερψ
αισχρά φεύγονταο, τους òè σ ώ φ ρ ο ν ο ς και τά èv τψ άφανεΐ.
Nach einer andern Stelle (Mem. I I 1,22) kommt die αίδώς in
den Augen (όμματα), die σωφροσύνη in der Haltung (σχήμα)
zum Ausdruck
Während nach Xenophons Auffassung Gorgias wenigstens
in keinem Gegensatz zu Sokrates steht. Prodikos mit dessen
ethischen Grundsätzen sogar eine gewisse Verwandtschaft zeigt,
treten Hippias und Antiphon in den Memorabilien als seine
ausgesprochenen Gegenspieler auf. H i p p i a s bestreitet (IV 4)
die Identität von νόμιμον und δίκαιον, die Sokrates durch
Heranziehung der von den Göttern stammenden άγραφοι νόμοι
beweist (19). Infolge der verständnislosen und ungeschickten
Darstellung Xenophons kommt die wirkliche Lehre des Hippias
bei ihm nicht klar heraus. Hippias hat in Wirklichkeit einen
Gegensatz von νόμος und φύσις behauptet (Plat. Prot. 337 C),
Vgl. Antisthenes bei Xen. Symp. 4, 34 ff. Diog. L. 6, 6. 7. Stob.
Flor. I 30. I I I 46. X 42. Epikt. Diss. 3,24. Die angeechlossene optiinistieche Beurteilung des Menschen als des βίλτιστον καΐ ίύχαριστότατον
πάνταιν τιϊιν íiúuiv (49) pâlit weder zu Prodikos noch zum Kyniemue.
Wendet eich gegen eine solche Auffassung Antiphon Fr. 48?
"} Im Euthyd. 277 E heißt die Synonymik όρθότης, ib. 278 В 6ιαφορά
των όνομάτων. R. H i r z e l , Themis, Dike und Verwandtes (1907), S. 181,1
verweist auch auf Thuk. I 84, 3, wo αιδώς zur σωφροσύνη, αισχύνη zur
εύψυχία gestellt wird. Die Unterscheidung in Mem. I I 1 , 2 2 hat auch
Arist. Rhet. I I 6, p. 1384a 36 und Eurip. Kresph. Fr. 467; der Stelle
in der Kyr. V m 1, 31 steht nahe Demokr. Fr. 264. 244. 84. Vgl. auch
R. S c h u l t z , Αίόώς (Diss. Rostock 1910) S. 67. R. M a y e r , Prodikos von
Keos und die Anfänge der Synonymik (Rhet. Studien I 1913) hat Xenophon nicht berücksichtigt.
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46
Wilhelm Nestje
was auch bei Xenophon (20 f.) noch durchschimmert. Dim
bedeuten die άγραφοι νόμοι das Natürliche im Gegensatz zu den
geschriebenen Gesetzen und zur konventionellen S i t t e I n
diesem Punkt bleibt Xenophon ein abgesagter Gegner der
Sophistik und läßt daher nicht nur seinen Sokrates (a.a.O. 4,12),
sondern auch seinen Kyros (Kyr. I 3,17) das νόμιμον mit dem
δίκαιον und das άνομον mit dem βίαιον gleichsetzen. Wenn er
aber die Ordnung des persischen Reichs durch Kyros auf dem
Weg der συνθήκη zwischen dem König und den Persem sich
vollziehen läßt (Kyr. VIII 5,25. 27), so macht er damit doch
eine Anleihe bei der von ihm dem Hippias in den Mund gelegten L e h r e vom S t a a t s v e r t r a g (Mem. IV 4,13), die später
der Sophist Lykophron, ein Schüler des Gorgias, weiter ausgebaut zu haben scheint
und nach der ja eben die geschriebenen Gesetze als konventionell dem ungeschriebenen
Naturrecht gegenüberstehen. Der von Hippias daraus gezogenen
Folgerung, daß die Staatsgesetze gar keine ernsthafte Sache
(σπουδαΐον 4,14) seien, da sie ja jederzeit abgeändert werden
könnten, vermag Xenophon nur dadurch auszuweichen, daß er
den Vertrag zwischen den Persem und ihrem König beschwören
und ihm dadurch Dauer verleihen läßt (και vOv ёт1 διαμένουσι
ποιοΰντ€θ 27). Er denkt sich die Sache offenbar ähnlich wie
bei Lykurg in Sparta, der auch als Beispiel angeführt wird
(4,15), nur daß hier die Hauptsache, die συνθήκη, fehlt
Noch ablehnender als über Hippias ist sichtlich Xenophons
Urteil über A n t i p h o n (Mem. I 6), dessen derber Hedonismus
(τρυφή 10) die Folie für die Bedürfnislosigkeit (το μηδενός
δείσθαι ib.) des Sokrates bildet: ein Gegensatz, der wieder die
Umbiegung der sokratischen in die kynische Ethik bei Xenophon
verrät. Auch die Bezahlung der sophistischen Lehrkurse (5. 13)
") Vgl. R. H i r z e l , Άγραφος νόμος. Abh. d. Sachs. G.-s. d. W.
PhiloL-hist. Kl. XX. 1 (1900) S. 23fif. Aue der Anführung der bei allen
Völkern gültigen Αγραφοι γόμοι (Mem. IV 4, 19) mit W. G e m o l l (Xenophon und das Völkerrecht, Phil. Woch. 1921 Sp. 236 ÉF.) zu schließen,
daß Xenophon der Schöpfer des Begrifis Völkerrecht sei, geht nicht an.
Denn die Begründung, daß die Sophistik kein Naturrecht in diesem
Sinn gekannt habe, ist unrichtig. Arietot. ßhet. I 18, p. 1373b4ff. beweist
schon allein das (regenteU.
") Aristot. Pol. III 9. p. 1280b 10f.; vgl. Plat. Gorg. 492C. Staat I I
369 A. Kriton 64C. Antiphon Fr. 44 A 1, 23£f. (Diele Vors.» II 846f.)
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Xenophon und die Sophietik
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im Unterschied zu dem freien imd unentgeltlichen Verkehr des
Sokrates mit seinen Schülern wird damit in Zusammenhang
gebracht Es ist übrigens merkwürdig, daß Sokrates hier gut
kynisch die Bedürfnislosigkeit als etwas Göttliches (θείον) dem
Antiphon entgegenhält, der selbst, wohl in Anknüpfung an
Xenophanes, diese Eigenschaft der Gottheit zuschrieb*®), womit
freilich nicht gesagt ist, daß er, wie die Kyniker, von den
Menschen ein Streben nach Annäherung an die Gottheit verlangt hätte. Er scheint im Gegenteil die τέχνη άλυπίας, die
Kunst, jede Widerwärtigkeit sich fernzuhalten, geübt und
empfohlen zu haben. Auch die neugefundenen Bruchstücke
stehen damit im Einklang**). Insofern scheint ihn also Xenophon wahrheitsgemäß gezeichnet zu haben. Die abrupte Frage
des Antiphon an Sokrates (15), warum er nicht selbst Politik
treibe, während er doch andere dazu erziehe, ist offenbar samt
der Antwort aus Piaton geschöpft*®) und hat nichts Charakteristisches für den Sophisten. Dagegen scheint Xenophon noch
an einer andern Stelle der Memorabilien (IV 4, 16 f.) von
Antiphon abzuhängen, freilich ohne daß er seinen Namen
nennt Antiphon hat ja außer seiner ganz individualistisch
eingestellten Grundschrift ,Αλήθεια' eine scheinbar ganz anders
gerichtete ,ΤΤερί όμονοίαο' zur Verherrlichung des Gemeinsinns
geschrieben. Doch braucht deswegen kein Gesinnungswechsel
des klugen Sophisten angenommen zu werden, der nur das
eine Mal die Nachteile, das andere Mal die Vorteile der
Bindung. des Individuums an und durch die Gemeinschaft
hervorhob. Gedanken wie der, daß, wer seinen Nächsten
schädigt, sich ins eigene Fleisch schneidet (Fr. 58), mochten
die Brücke zwischen den beiden λόγοι bilden. Es ist immerhin möglich, daß in dem a. a. 0 . dem Sokrates in den Mund
") Zu Mem. I 6, 10 vgl. Plat. Gorg. 492 Б. Bedürfuieloeigkeit der
Gottheit, Ant. Fr. 10, wozu Xenoph. A 32 (Diele, Vore.» I 122) und Eurip.
Herakles 1346 f.
") Ob die τίχνη άλυιπας dee Antiphon (Vere.'II 336 A32) eine
besondere Schrift oder nur eine mündlich von ihm geübte Praxis war,
ist nicht ganz klar. Ist der Ausdruck τά λυποΟντα τούς πόδας (Mem.
I 6, 6) eine Anspielung darauf (vgl. Eurip. Heraklee 605. Ion 632.
Ant. Fr. 196, 4. Tel. Fr. 714, 3. Lys. or. 24, 10. Plat. Phileb. 43 D. Ps.Plat. Axioch. 371 D ) î Ant. Fr. 44 A 6,15ff. (Diele, Vors.' II 360).
«) Plat. Αρ. 19 p. 31 Off. Gorg. 521D (μόνος wie Mem. 16,16);,
vgl. Η. Maier, Sokrates (1913), S. I4f. 75.
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48
Wilhelm Nestle
gelegten Preis der όμόνοια Gredanken aus der antiphontischen
Schrift anklingen*®). Denn die dreifache Richtung, in der hiernach die όμόνοια segensreich wirkt, nämlich für den Staat
(πόλις), für die Familie (οίκος) und für den einzelnen (ίόίςι),
kehrt in der Tat auch in den Bruchstücken des Sophisten
wieder, in denen auch, wie bei Xenophon, der Gehorsam als
unerläßliche Eigenschaft der Bürger und insbesondere der
Jugend hervorgehoben wird (Fr. 61. 49. 58. 60. 64. 65). Wenn
Xenophon hier aus Antiphon geschöpft hat, so ist er diesem
gegenüber gerade umgekehrt verfahren wie bei Gorgias: den
Namen des Gorgias nennt er, wo er diesen Sophisten mit der
landläufigen Moral im Einklang findet, verschweigt ihn aber, wo
aus seiner, wenigstens theoretischen, Indifferenz in der Moral
bedenkhche Folgerungen gezogen werden; den Antiphon dagegen nennt er, wo er seinen Hedonismus bloßstellt, unterdrückt
aber seinen Namen, wo es sich um die Wertschätzung der
allgemein als segensreich anerkannten όμόνοια handelt.
Die eigentümliche Axt, in der im Eingang des Hieron (1,4)
die bis zu einer gewissen Grenze bestehende Gleichheit zwischen
dem τύραννος und ιδιώτης auf die sinnlichen Empfindungen
zurückgeführt wird, erinnert einigermaßen an die seltsame
Begründung der Gleichheit aller Menschen, der Hohen und
Niederen, der Hellenen und Barbaren, damit, daß alle durch
Mund und Nase atmen und alle mit den Händen essen, bei
Antiphon (Fr. 44 В 1,35-2,35). Doch möchte ich daraus auf
keine bewußte Beziehung schließen.
Den der Sophistik nahestehenden K r i t i a s , den man „den
Laien unter den Phüosophen und den Philosophen unter den
Laien" nannte*') imd den sein Verwandter Piaton und ebenso
Aristoteles durchaus achtungsvoll behandeln, malt Xenophon,
Ähnlich wie den Menon, in den dunkelsten Farben (Mem. 12,12flF.
Hell. Π 3,47f. 52f. 4, 8f.), obwohl die beiderseitige Hinneigung
") Die Stelle aus den Memorabilien hat erst W. Kranz, Vors.®
II 356 „zum Titel" herangezogen. Zu der von ihm angeführten Literatur
füge ich noch hinzu: H. Fuche, Augustin und der antike Friedenflgedanke. Neue Phüol. Unters. III (1926) S. 12a, 2. Auf die Antiphonfrage kann hier nicht eingegangen werden. Zu TTepi όμονοίας darf ich
noch auf Philol. 67 (.1908) S. 671 ff. und 70 (1911) S. 45ff. verweisen.
") Kritias A 3 bei Diels, Vors.^ II 372, 23.
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Xenophon und die Sopbistik
49
ZU Sparta zwischen Xenophon und Kritias eine Verständigung
hätte ermöglichen können. Es galt eben, den der restaurierten
Demokratie verhaßten Mann, mit dessen Anhängerschaft Polykrates in seiner κατηγορία das Andenken des Sokrates belastet
hatte*®), unzweideutig abzuschütteln. Es war ja auch richtig,
daß er die brutale Lehre vom Recht des Stärkeren, sobald er
die Macht in der Hand hatte, skrupellos in die Wirklichkeit
umsetzte. Xenophon deutet dies an, wenn er ihn die Meinung
des Theramenes, die Oligarchie könne sich auch ohne so viele
ffinrichtungen behaupten, als εύήθβια bezeichnen läßt, was genau
der ήλιθιότης, δειλία, άνανόρία der Theoretiker entspricht*®).
Auch in diesem Falle ist es bezeichnend, daß Xenophon, obwohl er den Aufenthalt des Kritias in Thessalien während seiner
Verbannung zweimal erwähnt, mit keiner Silbe verrät, daß
gleichzeitig Gorgias dort verkehrte, was in Übereinstimmung
mit Piaton Philostratos bezeugt
Es ist wiederum, wie im
Falle des Menon (S. 34), die Eücksicht auf den noch lebenden
greisen Sophisten, die ihn hierzu bewog und die persönliche
Beziehungen zu diesem anzunehmen wenigstens nahelegt.
Fassen vrir nun die E r g e b n i s s e unserer Untersuchung
zusammen! Obgleich Xenophon persönlich in Glaube und Sitte
die leicht kynisierende sokratische Richtung einhält, kehrt er
sich doch von der Sophistik nicht unbedingt ab. Er macht
Unterschiede zwischen ihren Vertretern und scheut sich nicht,
sogar Gedanken sophistischer Herkunft, die er mit Entrüstung
ablehnt, gelegentlich zu verwenden. Benutzung des P r o t a g o r a s
läßt sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Am meisten Sympathie bringt er dem P r o d i k o s entgegen, dessen Herakles er
den Sokrates in den Memorabilien mit Anerkennung wiedergeben läßt, aus dessen ,Hören' er im Oikonomikos z. T. schöpft
und dessen Lehre vom Reichtum in der Kyrupädie einmal
") iBokr. Bue. (11) δ. Liban. Αρ. Soor. 148 ff.
Xen. Hell. I I 3, 16; vgl Thuk. III 83, 1 und oben S. 34.
») Xen. Mem. I 2, 24. Hell. II 3, 36. Plat. Men. 70 В. Philoetr. Vit.
eoph. I 16 (Krit. А 3, Vors.' II 371). Weiteres Neue Jabrb. f. d. kl. Alt.,
1903, S. 81 ff. 189 ff. Es ist viel wahrscheinlicher, daß Eritias in Thesealien im
Umgang mit den Aristokraten „die Oligarchie noch drückender machte"
(Philostratos), als daii er -die Demokratie einrichtete und die Penesten
gegen ihre Herren bewaffnete" (Hell. II 3, 36). Dunkel ist die Angabe
Mem. I 2, 24.
PhUologrus. XCIV {N·. F. XLVIII), 1/3
4
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50
W i l h e l m N e s t l e , Xenopbon und die Sopbistik
anklingt Auch seine Synonymik hat einige Spuren hinterlassen. An zweiter Stelle steht für ihn G orgias, dem er mit
großer persönlicher Achtung begegnet und von dem er wichtige
Gedanken verwertet hat. Ев ließ sich zeigen, daß Gorgias die
gemeinsame Quelle für eine Stelle der Kyrupädie und für den
dritten Abschnitt der sog. Dialexeis ist. Hieraus ließen sich
unter Heranziehung wörtlicher Bruchstücke aus gorgianischen
Schriften und Stellen aus Piatons Gorgias und Staat seine
όισσοί λόγοι περί του δικαίου κοί αδίκου, insbesondere seine
Lehre von der δικαία απάτη, die auch im pseudo-platonischen
Dialog TTepi δικαίου berührt wird, weithin rekonstruieren. Ebenso
hat die Lehre des Gorgias von der Bedeutung des καιρός auf
Xenophon gewirkt. Er muß also die Τέχνη, in der diese Ausführungen und die beiden erhaltenen Musterreden standen,
gekannt haben. Auf einen Abschnitt der ,Helena' weist eine
Bemerkung über die unbezwingliche Macht des Eros in der
Kyrupädie hin. Daß manche Schüler des Gorgias aus seiner
ethischen Indifferenz die Lehre vom Recht des Stärkeren
folgerten, war Xenophon bekannt; er macht aber — im Unterschied von Piaton - Gorgias hierfür nicht verantwortlich. Die
Mittel gorgianischer Stilkunst hat Xenophon in seinen Schriften
sparsam, aber bewußt verwendet. Von den Anschauungen des
H i p p i a s , dessen Entgegensetzung von νόμος und φύσις er
ablehnt, hat Xenophon doch die Lehre vom Staatsvertrag,
allerdings mit einer bedeutsamen Modifikation, am Schluß der
Kyrupädie angebracht, ebenso wie er von dem sonst geringschätzig behandelten A n t i p h o n seine Empfehlung der όμόνοια
übernommen zu haben scheint Seine Darstellung des K r i t i a s
ist gehässiger als die des Piaton und Aristoteles und steht
im Dienst der Verteidigung der Sokratik im Blick auf die
restaurierte Demokratie.
Es ist ein Beweis für die starke Wirkung der Sophistik
um die Jahrhundertwende und bis tief ins 4. Jahrhundert
hinein, daß auch ein so entschiedener Sokratiker wie Xenophon sich ihrem formalen und sachlichen Einfluß nicht vollständig zu entziehen vermochte.
Stuttgart
AVilhelm N e s t l e
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Download Date | 6/21/16 12:50 PM