Ludwig Wittgenstein

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Ludwig Wittgenstein
Einführung in die Sprachphilosophie
Wilhelm Vossenkuhl, WiSe 2010/11
Warum und wozu „Sprachphilosophie“?
Platons Dialog Kratylos (428e) „Die Richtigkeit des Wortes, sagten
wir, besteht darin, daß es anzeigt, wie die Sache beschaffen ist.“
- richtige/falsche Benennung; Wahre/falsche Rede – Wahrheit
- Bedeutungen von Wörtern/Gehalt von Gedanken
- die Dinge haben ihr „eigenes Wesen“
- Tätigkeit der Seele
Erkenntnis durch Sprache (Werkzeug)
Sprache Träger von Bedeutung und Wahrheit
Struktur der Sprache/Struktur der Wirklichkeit
Wer versteht was am besten?
Verändert sich das, was ist und mit ihm die Bedeutung der
Wörter, ähnliche einem Fluß? (Kratylos, 440d)
Wilhelm von Ockham und der Nominalismus (terministische
Logik)
Ein Jahrhundert der Sprachphilosophie, von Frege (1848-1925)
und Russell (1872- 1970) zu Quine (1908-2000)
Sprache als Bedeutungsträger
Sprachphilosophie löst Erkenntnistheorie ab und wird selbst zu
Ontologie, Logik und Erkenntnistheorie in einem
Frege/Russell:
- die Bedeutung eines Satzes wird durch seine
Wahrheitsbedingungen festgelegt (wahrheitstheoretische
Bedeutungstheorie)
-der Satz, nicht die Wörter, ist Träger von sprachlicher Bedeutung
-Wörter tragen auf systematische Weise etwas zur Satzbedeutung
bei
-Logische Analyse, neue Grammatik
1) „Einige Banken lösten die Finanzkrise aus“
2) „Die Finanzkrise wurde von einigen Banken ausgelöst“
3) ‚Es gibt x und a von x‘
Instrumente der Analyse:
Aussagenlogik
Quantoren (Existenzquantor, Allquantor)
Logische Funktionen (und‚oder‚wenn-dann,Negation)
Prädikatenlogik (Begriffe, Eigenschaften, Relationen)
Ziel der Analyse: Zergliederung von Gedanken (Sätzen) in
logische Grundelemente (semantische Bausteine)
Ergebnis: über die logische Struktur eines Gedankens dessen
Bedeutung zu erkennen
Russell (Typentheorie, Theory of Description):
„Scott ist der Autor von Waverley“
‚es gibt ein x, dieses x ist Scott und dieses x hat die Eigenschaft,
Autor von Waverley zu sein, und es gilt für alle y, wenn y die
Eigenschaft hat, Autor von Waverley zu sein, ist y mit x identisch‘
„On Denoting“ (1905)
Freges Analyse: ‚es gibt mindestens einen Gegenstand, der unter
den Begriff „der Autor von Waverley“ fällt, und dieser Gegenstand
ist Scott.
Diese Analyse, bei der Gegenstände unter Begriffe fallen, lehnt
Russell ab, weil mit ihr unklar bleibe, was mit der Kennzeichnung
bzw. dem Begriff geschehe, wenn kein Gegenstand darunter falle
(wie bei ‚der goldene Berg‘).
Freges Lösung: die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung.
(sense, reference) Kennzeichnungen bzw. Begriffe haben keine
Bedeutung, sondern Sinn.
Dies ist der theoretische Kontext, in dem Wittgenstein bei Russell
studiert und seinen Tractatus schreibt.
Die logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus logicophilosophicus)
1 Welt
2 Tatsache, Sachverhalte
3 logisches Bild
4 Gedanke, sinnvoller Satz
5 Satz, Wahrheitsfunktion, Elementarsatz
6 allgemeine Form der Wahrheitsfunktion, allgemeine Form des
Satzes
7 Schweigen
Nummerierungssystem (z.B. 1.1, 2.01, 3.001 etc.): die Sätze mit
mehr Stellen erläutern/vertiefen die vorausgehenden mit weniger
Stellen
Beispiele:
1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.
1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.
2
Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von
Sachverhalten.
2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen
(Sachen, Dingen)
Auffällig: keine philosophischen Disziplinen (Ontologie,
Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Metaphysik), aber die
Probleme dieser Disziplinen werden behandelt.
Wichtig sind die Übereinstimmungen und noch mehr die
Unterschiede zu Frege und Russell.
Zentrale Aussagen (Grundgedanke)
4.0312 Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der
Vertretung der Gegenstände durch Zeichen. – Mein
Grundgedanke ist, daß die ‚logischen Konstanten‘ nicht vertreten.
Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt.
-Bildtheorie (Logik plus Ontologie)
-Gegenstände/Dinge werden durch Namen/Zeichen in Sätzen
vertreten. Gegenstände können nur genannt werden.
-durch Sätze erfahren wir etwas über die Welt
-Sätze bilden Tatsachen/Sachverhalte ab, aber keine
Gegenstände.
-wie Frege: nur Sätze können wahr oder falsch sein.
-die Welt besteht aus Tatsachen
-von den möglichen Verbindungen von Gegenständen in
Sachverhalten machen wir uns Bilder. Die Bilder sind Tatsachen.
-Sachverhalte werden durch Elementarsätze beschrieben.
-die Substanz der Welt ist das, „was unabhängig von dem, was der
Fall ist, besteht“ (2.024) – kann also nicht kontingent oder
konstruiert sein.
Argument: wenn die Welt keine Substanz hätte, dann würde die
Entscheidung darüber, ob ein Satz wahr ist, davon abhängen, ob
ein anderer Satz wahr ist (2.0211), dann wäre es nicht möglich, ein
Bild der Welt, das wahr oder falsch ist, zu entwerfen (2.0212).
Letzteres ist offenbar falsch, und wenn das so ist, kann es auch
nicht wahr sein, dass die Welt keine Substanz hat.
-Gegenstände haben keine materiellen Eigenschaften, sondern als
Substanz der Welt eine feste Form (2.022, 2.0232)
-diese Form ist logischer Natur
-Substanz ist Form und Inhalt (2.025)
-Kein Dualismus zwischen Ontologie und Logik
-aufgrund der Überwindung des Form-Inhalt-Dualismus wird all
das überflüssig, was Frege (Begriffsschrift) und Russell
(Typentheorie) zur Verbindung zwischen Ontologie und Logik
entworfen haben.
-Typentheorie sei zirkulär, weil die Form (die Satzvariablen) für
nichts anderes Außerlogisches stehen.
-jeder „variable Name ‚x‘‘“ sei „Zeichen des Scheinbegriffs
Gegenstand“ (4.1272)
-die Gegenstände, die als Werte unter eine Variable fallen, sind
logische Entitäten und keine materiellen Objekte.
-die Verbindung der Gegenstände in Sachverhalten und damit der
Sinn der Bilder wird nicht durch ein Drittes vermittelt, sondern ist
unmittelbar zugänglich: Sätze zeigen ihren Sinn (4.022).
-so wird klar, warum logische Konstanten nicht vertreten.
-Differenz Sagen-Zeigen
-Solipsismus und Realismus (5.64)
-Abgrenzung der Sätze der Naturwissenschaften (des Sagbaren
und Sinnvollen) von den sinnlosen Sätzen der Logik (Tautologien
sagen nichts) und dem Unsagbaren (Ethik, Ästhetik), und diese
von den unsinnigen Sätzen, den Scheinsätzen (‚Es gibt
Gegenstände‘)
5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner
Welt.
Was kommt danach?
Radikaler Bruch?
Was geht schief?
In „Bemerkungen über logische Form“ erkennt Wittgenstein das
Problem, dass sich Farbsätze nicht auf logisch unabhängige
Elementarsätze zurückführen lassen.
Die Philosophischen Untersuchungen (PU)
-langsame Genese eines neuen Ansatzes seit 1929
-Werke des Übergangs: Big Typescript, Blaue Buch, Braune Buch
-1936 (?) Beginn der Arbeit an den PU
-Abschied von der Analytischen Tradition?
-das Vorwort (1945): die alten mit den neuen Gedanken
zusammen veröffentlichen, um den Gegensatz deutlich zu
machen.
„Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“ (PU,
§255)
-Therapie, Auflösung von Scheinproblemen und Verwirrungen
Viele Themen der Analytischen Tradition (Vorwort, S. 231:
Bedeutung, Verstehen, Satz, Logik, Grundlagen der Mathematik,
„Menge von Landschaftsbildern“
§23 ... Das Wort „Sprachspiel“ soll hier hervorheben, daß das
Sprechen der Sprachen ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer
Lebensform.“ (Beispiele: Befehlen, Beschreiben eines
Gegenstandes, Berichten, Vermutungen anstellen, Hypothese
aufstellen, eine Geschichte erfinden, lesen, Theater spielen, Reigen
singen, Rätsel raten, einen Witz machen, Rechnen, Bitten, Danken,
Fluchen, Beten)
Beschreibungen, nicht Erklärungen (PU, §109): ...Alle Erklärung
muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese
Beschreibung empfängt ihr Licht, d.i. ihren Zweck, von den
philosophischen Problemen... Die Philosophie ist ein Kampf gegen
die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache.
Verwandtschaften zwischen Sprachspielen, „Familienähnlichkeiten“
(PU, §§65-67) – anstelle der allgemeinen Form des Satzes
§66: ...Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele,
usw. Was ist allen diesen gemeinsam? ...schau, ob ihnen etwas
gemeinsam ist. (kein Muss der Gemeinsamkeit!)
§67: ...Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie
bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament,
etc.etc. ...die Spiele bilden eine Familie.
§71: ...der Begriff ‚Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen
Rändern.
Sprachspiel ‚Lesen‘ §§156-173 (eine bewußte geistige Tätigkeit Augen gleiten – Übergang von Zeichen zu Zeichen – Abrichten –
die Regel des Alphabets – das gesehene Wortbild – keine
universale Komponente – inneres Hören – Einheit von Buchstabe
und Laut – Erlebnis des Geführtwerdens ...
Regelfolgen (§§196-199)
Wie ist die Praxis des Spielens beschaffen?
Wie erfasse ich Regeln?
Weiß ich, was ich spielen wollte, bevor ich spiele?
Wie lerne ich eine Regel?
Woher weiß ich, dass ich mit einer Regel übereinstimme?
§198: ...Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der
Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein
bestimmen die Bedeutung nicht.
§199: Ist, was wir „einer Regel folgen“ nennen, etwas, was nur
ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könne? ...
Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel
gefolgt sein...
Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine
Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.
Paradox des Regelfolgens
§201: Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine
Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der
Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist
jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch
mit dem Widerspruch. Daher gäbe es hier weder
Übereinstimmung noch Widerspruch.
(Missverständnis, weil Deutung hinter Deutung gesetzt und ein
Ausdruck durch einen anderen ersetzt wird; wichtig, dass es
eine Auffassung von Regel gibt, die keine Deutung, sondern eine
Anwendung ist.) (Kripkes skeptische Deutung)
§202: Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu
folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man
nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen
glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.
§203: Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen...
Wie entsteht die Praxis des Regelfolgens?
§211: „Wie immer du ihn im Fortführen des Reihenornaments
unterrichtest, - wie kann er wissen, wie er selbständig
fortzusetzen hat?“ – Nun, wie weiß ich‘s? – Wenn das heißt
„Habe ich Gründe?“, so ist die Antwort: die Gründe werden mir
bald ausgehen. Und ich werde dann, ohne Gründe, handeln.
Privatsprachenargument (§§243, 202)
§243: Ein Mensch kann sich selbst ermutigen, sich selbst
befehlen... Man könnte sich also auch Menschen denken, die nur
monologisch sprächen. ...Wäre aber auch eine Sprache denkbar,
in der Einer seine inneren Erlebnisse – seine Gefühle,
Stimmungen, etc. – für den eigenen Gebrauch aufschreiben,
oder aussprechen könnte? ...Die Wörter dieser Sprache sollen
sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann;
auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen. Ein anderer
kann diese Sprache also nicht verstehen.
Kripke (Wittgenstein on Rules and Private Language, 1982)
Nimmt den ersten Satz des §201 auf, verbindet ihn mit §243,
sieht in dem Paradox des Regelfolgens das zentrale Problem der
PU und eine neue Art Skeptizismus, ähnlich demjenigen Humes.
Beispiel: das Plus-Zeichen ‚+‘, Regel der Addition
Legt früherer Gebrauch alle zukünftigen Fälle fest? Vielleicht
habe ich + früher anders gebraucht, nicht plus, sondern quus.
Welche Lösungen?
-Dispositional, meine mentale Geschichte würde deskriptiv die
frühere Verwendung erfassen, plus ist aber normativ
-innere Erfahrung, sie würde mir aber nicht sagen, wie ich die
Addition durchführen soll, weil sich die Erfahrung nicht selbst
interpretieren kann
-platonische Lösung (Frege), Addition hat objektive Existenz, aber
der Skeptiker die subjektive Vorstellung des + mit dem Sinn von
+, woher weiß ich, dass sich meine Vorstellung auf den Sinn
bezieht?
Ergebnisse:
-Es gibt keine rechtfertigende Tatsache für irgendeinen
Regelgebrauch
-jede realistische Bedeutungstheorie führt zur Skepsis
(Abbildtheorie muss aufgegeben werden?)
-Wahrheitsbedingungen des Tractatus werden in PU durch
Rechtfertigungsbedingungen ersetzt
-Regelbefolgen ist nur in einer Sprach-Gemeinschaft möglich
-die Übereinstimmung in der Lebensform (§241) und in den
Urteilen (§242) ist entscheidend, nicht die Übereinstimmung
in den Meinungen
-die Praxis entscheidet über die Richtigkeit des Regelfolgens
-eine Theorie der Sprache gibt es bei/für Wittgenstein nicht
-der Regelgebrauch ist im Fluss (Metapher aus Über Gewißheit),
aber auch die Wort-Bedeutungen
Literatur:
Ludwig Wittgenstein Werkausgabe (8 Bde., Frankfurt 1989)
McGuinness, B.F., Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt 1988.
Monk, R., Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart
1992.
Anscombe, G.E.M., An Introduction to Wittgenstein‘s Tractatus,
London 1959.
Glock, H.-J., Wittgenstein-Lexikon, Darmstadt 2000.
Hacker, P.M.S., Wittgenstein im Kontext der analytischen
Philosophie, Frankfurt 1997.
Savigny, E.v., Wittgensteins Philosophische Untersuchungen,
2.Bde., Berlin 1998.
Vossenkuhl, W., (Hg.) Ludwig Wittgenstein. Tractatus logicophilosophicus, Berlin 2001.
Ders., Ludwig Wittgenstein. München 22003.
Ders., Solipsismus und Sprachkritik, Berlin 2009.