Digital born Leben im digitalen Zeitalter Rafael Capurro Steinbeis-Transfer-Institut für Informationsethik http://sti-ie.de Edigheimer Gespräche Wilhelm-von-Humboldt-Gymnasium Ludwigshafen-Edigheim 8. Juni 2009

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Transcript Digital born Leben im digitalen Zeitalter Rafael Capurro Steinbeis-Transfer-Institut für Informationsethik http://sti-ie.de Edigheimer Gespräche Wilhelm-von-Humboldt-Gymnasium Ludwigshafen-Edigheim 8. Juni 2009

Digital born
Leben im digitalen Zeitalter
Rafael Capurro
Steinbeis-Transfer-Institut für Informationsethik
http://sti-ie.de
Edigheimer Gespräche
Wilhelm-von-Humboldt-Gymnasium
Ludwigshafen-Edigheim
8. Juni 2009
Leben in der digitalen Welt
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Soziale Kontakte: Facebook, Twitter,
YouTube, blogs...
Mobiles Arbeitsleben
Wissen: Google, Wikipedia, …
Politik: Obama hat es vorgemacht
Identität und Kultur
Cyborgisierung: Körper/Leib und IT
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Zu Beginn des Kapital, im ersten Kapitel "Die
Ware„, schreibt Karl Marx: "Der Reichtum der
Gesellschaften, in welchen die kapitalistische
Produktionsweise herrscht, erscheint als eine
ungeheure Warensammlung, die einzelne
Ware als seine Elementarform."
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Heute müssen wir diesen Satz folgendermaßen
umformulieren: Der Reichtum der
Gesellschaften, in welchen die digitale
Produktionsweise herrscht, erscheint als eine
ungeheure Informationssammlung, die
einzelne Information als seine
Elementarform.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Die Kategorie ‚Warenbesitzer‘ ist aber nicht
eins zu eins auf Informationsbesitzer
übertragbar. Der Austausch von
Informationen und der Austausch von Waren
sind nicht gleichwertig. Die Zirkulation von
Information und die Warenzirkulation
schaffen nicht dieselbe Art von Wert, weil sie
ja nicht menschliche Bedürfnisse im selben
Maße befriedigen.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Geldfetisch und Warenfetisch entstehen
dadurch, dass Dinge außer Kontrolle des
"gesellschaftlichen Produktionsprozesses"
geraten.
Menschliche Arbeit ist nur eine (mögliche) Form
von In-Formation und sie wird heute im
Rahmen des Digitalen vollzogen.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Das verändert die ganze Marxsche Analyse
von Grund auf. Marx schreibt, dass der
Fetischcharakter der Waren dadurch
entsteht, dass diese als selbständig (also als
Waren) erscheinen, obwohl sie (bloß) ein
Produkt gesellschaftlicher Arbeit sind. "Es ist
nur das bestimmte gesellschaftliche
Verhältnis der Menschen selbst, welches hier
für sie die phantasmagorische Form eines
Verhältnisses von Dingen annimmt."
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Nicht nur die In-formationsprozesse der (natürlichen)
Dinge untereinander (die Evolution also), sondern
ebensosehr die menschlichen und ganz besonders
die digitalisierten Informationsprozesse setzen in der
Tat unabsehbare ‘phantasmagorische’ Prozesse in
Gang, welche aus der Sicht der Warenwelt im Sinne
von materiellen Arbeitsprodukten nur geahnt werden
können, oder, "um eine Analogie zu finden, müssen
wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten."
(ebd.)
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Die Nebelregion ist jetzt die der materiellen
Welt, und die Warenform im Sinne des
Wertverhältnisses der Arbeitsprodukte ist
bloß ein Derivat der In-formation. Wir
müssen, mit anderen Worten, Marx und das
Kapital auf die Füsse der Information stellen.
Der Ansammlung von Geld im Kapital folgt
heute die Vernetzung von Information.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Wir könnten den Grund-Satz einer digitalen
Ökonomie so formulieren: Nihil est sine
fortuna - Nichts ist wertlos, in Anklang an das
Leibnizsche principium grande: Nihil est sine
ratione - Nichts ist ohne Grund.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Dies bedeutet, dass alles (s)einen Wert hat,
aber auch, dass Werte ohne Grund sind,
denn ein solcher (letzter) Grund wäre wieder
ein Wert, der wiederum nach einem Grund
verlangen würde usw.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Geld ist das uns zugängliche, grund-lose WertMaß für alles, was ist, wenn wir die Dinge
(die natürlichen und die künstlichen,
hergestellten = die Waren) außerhalb der
Zusammenhänge sehen, in denen sie sind.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Kein Wunder, dass ausgerechnet, wenn alle
Dinge aus dem Blickpunkt ihres natürlichen
Standortes herausfallen und im allgemeinen
elektronisch-digitalen Medium zum
Erscheinen oder ins Sein kommen, dieses
zugleich zum Wert-Maß wird.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Unsere Gier ist eine bestimmte Art und Weise
wie wir uns im Kreis oder im
hermeneutischen Zirkel eines
Selbstverständnisses bewegen. Auch die
Neugier gehört dazu. Ich meine, dass wir
diese Begriffe (oder besser: diese
Verhaltensweisen) nicht vorschnell mit
moralischen Kategorien behaften sollten.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Die Moral versucht bestimmte Aussagen
dingfest zu machen, den Kreislauf also
vorläufig anzuhalten. Dieser Mechanismus ist
zwar notwendig, denn er erlaubt uns, ähnlich
wie in der Wissenschaft, innerhalb eines
ausdrücklichen Entwurfs von Regeln und
Normen zu leben. Zugleich aber verdeckt
jede Moral den anhaltenden ‘Anruf’ der Dinge
in ihren wechselnden und nicht offenbarten
Bezügen und Potentialitäten.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Wir aber sind in der Weise, die eine solche
Maßlosigkeit nur bedingt, d.h. durch die
Dinge hindurch, ‘wahr-nehmen’, so daß der
ethische Maßstab so lauten könnte, dass wir
uns gegen unbedingte Ansprüche zu wehren
haben.
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Digitale Weltvernetzung und Kapital
Der gierige Mensch ist deshalb gierig, weil er
sich dem un-endlichen Drang der Mittel
aussetzt und er tut dies, weil er ein
unbegrenztes Verlangen nach Leben und
Genuss 'ist', aber auch nach Wissen. Was ist
aber das Ziel des Wissens? Von der
Wissensgier sagt Aristoteles, daß wir sie von
Natur, haben.
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Medien (R-)Evolutionen
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Platons Schriftkritik
Gutenberg und die Reformation
Aufklärung: Zensurfreiheit und Freie Presse
Massenmedien: Rundfunk und Fernsehen
Internet: Interaktivität Sender-Empfänger
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Born digital
Wir entwerfen uns als vernetzte, mobile und
ständig in der realen Welt erreichbare und
somit im wahrsten Sinne des Wortes
utopische Existenzen.
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Dystopische Aspekte
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
Informationsüberflutung
Digitales Mobbing
Gewalt in/mit Medien
Plagiate
Kinderpornografie
Rechtsradikalismus
Viren
Copyright
Privatheit
Überwachungsgesellschaft
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Typologie von Technologien
Nach Foucault in Anlehnung an Habermas:




Technologien der Produktion (zur Erzeugung und
Umformung von Dingen)
Technologien von Zeichensystemen (Erzeugung
und Manipulation von Zeichensystemen)
Technologien der Macht (zur Bestimmung
menschlichen Verhaltens zu Herrschaftszwecken)
Technologien des Selbst (Operationen, die die
Individuen mit ihren Körpern/Seelen vollziehen,
um zu einem bestimmen Zustand (von
Vollkommenheit, Glück…) zu gelangen
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Praktiken der Selbstformung







Selbstsorge („epimeleia heautou“) (Platons Dialog
Alkibiades)
Hellenistische Philosophie (Seneca, Epiktet, Marc
Aurel): Pierre Hadot
Geistliche Übungen: Ignatius von Loyola, Paul
Rabbow (Verchristlichung antiker Übungen)
Psychoanalyse
Michel Foucault, Wilhelm Schmid
Peter Sloterdijk: „Du mußt dein Leben ändern. Über
Anthropotechnik“ (Frankfurt a.M. 2009)
Lebensratgeberliteratur
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Praktiken der Lebensformung

Transformationen der Lebenstechniken:



Von der Antike zum Christentum: der Gehalt der
antiken philosophischen Übungen ging in die
christliche Spiritualität über; die Philosophie, ihres
lebensformenden Sinnes verlustig, wurde zur
Magd der Theologie („ancilla theologiae“)
Primat der Selbsterkenntnis (gegenüber der
Selbstformung) in der Neuzeit (Descartes)
Gegenwart: digitale Lebenstechnik(en)
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„Sorge um sich“

Sokrates‘ Fragen im „Alkibiades“ (nach
Foucault) über den Zusammenhang
zwischen der „Sorge um sich“ und:




Der politischen Aktivität: wann ist es gut, sich vom
politischen Handeln zurückzuziehen?
Der Pädagogik: ist die „Sorge um sich“ eine Frage
der Jugend oder eine Daueraufgabe?
Dem „Erkenne Dich selbst“: welche hat Vorrang?
Der philosophischen Liebe: wie sieht die
Beziehung zu einem Meister aus?
24
„Sorge um sich“

Der Begriff „Sorge um sich“ beinhaltete in der
griechisch-römischen Antike konkrete
Aktivitäten, mit dem Ziel, sich für Zeiten des
Unglücks und des Todes vorzubereiten. Sie
dienten auch als Therapie der
Leidenschaften.
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Hellenismus

Antike Übungen der Selbstformung im
Hellenismus (nach Hadot)

Geistige Übungen:


Wachsamkeit: die ständige Anspannung und
Entspannung des Geistes. Marc Aurels Grundregel:
Was steht in unsere Macht und was nicht?
Meditation: dient vor allem im Hinblick auf die
Schicksalsschläge auf auf den Tod („praemeditatio
malorum und mortis) (Epikureismus). Vorbereitende
und nachprüfende Überlegungen morgens und
abends.
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Hellenismus

Intellektuelle Übungen:




Lektüre der Sentenzen von Dichtern und
Philosophen („Apophthegmen)
Auslegung philosophischer Texte
Zuhören von Vorträgen
Untersuchung und Prüfung im Rahmen eines
Unterrichts.
27
Hellenismus

Praktische Übungen: dienten der Schaffung
von Gewohnheiten


Bezogen sich auf eine geistige Einstellung, wie
z.B. die Gleichgültigkeit gegenüber dem
Gleichgültigen
Oder auf eine praktische Verhaltensweise, wie die
Selbstbeherrschung oder die Ausübung von
Pflichten.
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Von Hellas zum Hellenismus

Im Hellenismus finden Verschiebungen
gegenüber den griechischen Praktiken statt:




Verlagerung vom pädagogischen zum
medizinischen Modell
Umkehrung des griechischen Ideals der Jugend
Verschwinden des Dialogs
Betonung der Rolle des Meisters gegenüber dem
schweigenden Schüler. (M. Foucault)
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Die römische Tradition


Die antike Tradition der Seelenleitung erreicht
besondere Höhepunkte in der römischen
Tradition, wie zum Beispiel bei Seneca und
Marc Aurel
Senecas (4-65 n.Chr.) Ideal eines glücklichen
Lebens in Übereinstimmung mit der Natur
gründet in der Übung der „indifferentia“, der
Beherrschung der Affekte, die zur Seelenruhe
(„tranquillitas animi“)führt
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Die römische Tradition


Die geistigen Übungen Marc Aurels (121-180 n.Chr.)
sind „Wege zu sich selbst“ und wurden auf
Feldzügen geschrieben. Sie betreffen die
Disziplinierung des Begehrens, die Haltung
gegenüber den Mitmenschen und die
Verhaltensweisen im Denken.
Grundregel („unter Vorbehalt“): alles tun, um zum
Ziel zu gelangen, aber ohne zu vergessen, dass der
Erfolg nicht nur von uns, sondern von der
Gesamtheit der Ursachen abhängt. („Indifferenz“)
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Von den geistigen zu den
geistlichen Übungen
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


Verwandlung der antike askesis (Übungen) in die
christliche Meditation, Selbstprüfung (examen
conscientiae), Buße, „Unterscheidung der Geister“
(Ignatius von Loyola)
Enthalsamkeit (Speise und Trank, Wohnung, Schlaf,
Kleidung, Besitz, Geschl.verkehr)
Philosophia als christliche Lebenweise
Wachsamkeit als Übung der Unterwerfung unter den
göttlichen Willen
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Asketik in der Aufklärung

Spuren der Lebenskunst bei Descartes, Spinoza
und Kant:
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



Ulm 1619 : „Welchen Lebensweg soll ich einschlagen?“
(Descartes‘ Traum)
Regulae ad directionem ingenii
Meditationes und Discours de la méthode
Spinoza: Kritik des rationalistischen Ideals der
Selbstbeherrschung. Der Mensch kann sich nicht bloß
durch Erkenntnis, sondern durch Übung formen
Kant: „ethische Asketik“: „wackeres und fröhliches Gemüt“
in Befolgung der Pflichten (Diätetik) (Stoa und
Epikureismus vs. Mönchsasketik)
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Informationsethik heute
Wie können wir individuelle und kollektive
Praktiken der Selbstformung in Erwiderung
der Tradition der Technologien des Selbst
neu entdecken, aus der Mitte einer
säkularen, durch die IT geprägten globalen
Zivilisation?
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Informationsethische Fragen



Müssen wir permanent erreichbar sein?
Wann, wo und wie sollten wir uns digitalfreie
Zeirräume gönnen?
Welche Ein- und Ausschlussmechanismen
sind mit den neuen IT verbunden?
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Informationsethische Fragen




Welche negativen und positiven
Auswirkungen haben die neuen IT auf die
Umwelt?
Wie lässt sich das Internet regulieren?
Welche Normen und Werte sollten wir bei der
Digitalisierung aller Lebensbereiche achten?
Über welche Mechanismen der Normen- und
Wertekritik verfügen wir?
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Informationsethische Fragen


Wie ist die surveillance society technisch,
rechtlich, ethisch und politisch zu beurteilen?
Wie ist das Verhältnis Öffentlich/Privat und
Öffentlich/Geheim im Rahmen der neuen IT
aufzufassen?
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Orientierungen
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Verhältnis zu uns selbst:
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Verhältnis zueinander:




Mäßigung
die Tradition der Menschenrechte
Gespräch – nicht Gewalt
Gerechtigkeit – nicht Unterdrückung
Verhältnis zur Natur:
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Mitspieler – nicht Herrscher
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Orientierungen
Der Horizont des Digitalen – des
Digitalisierbaren – prägt unser Zeitalter.
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Orientierungen
Wir müssen lernen, diesen Horizont durch
Praktiken der Selbstformung zu relativieren
oder abzuschwächen, insbesondere dann
wenn er sich als der einzige und wahre
Lebenshorizont gebärdet.
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Orientierungen
Die Kehrseite davon sind gelingende digitale
Lebenspraktiken im Verhältnis zu uns selbst,
zu den anderen und zur Natur.
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Quellen
Dieser Präsentation liegen folgende Quellen
des Verfassers zugrunde:
- Beiträge zu einer digitalen Ontologie
http://www.capurro.de/digont.htm
-
-
Leben Informationszeitalter (Berlin 1995)
(Siehe dort die bibliografischen Angaben der
hier zitierten Werke)
meine Beiträge zur Informationsethik
http://www.capurro.de/db.htm
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