Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung - Eine soziologische Annäherung - Univ.-Doz.

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Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


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Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 3

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 4

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 5

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 6

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 7

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 8

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 9

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 10

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 11

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 12

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 13

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 14

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 15

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 16

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 17

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 18

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 19

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 20

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 21

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


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Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 23

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.


Slide 24

Empört Euch! und die weltweite Protestbewegung
- Eine soziologische Annäherung -

Univ.-Doz. Dr. Jérôme Segal, Institut für Soziologie, http://jerome-segal.de

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)
II. Workshop - The Social Movements Reader / Cases and Concepts (9. März)
III. Empört Euch! als „kleines Rotes Buch“ einer weltweiten Bewegung? (16. März)
IV. Die Protestwelle in den arabischen Ländern – Frühling und Herbst (23. März)
V. Die Bedeutung der Proteste in Israel im Sommer 2011 (30. März)
VI. Eine besondere „partizipative“ Bewegung? Anonymous und die Occupy-Bewegung
(20. April)
VII. Die Rolle der Frauen und die Frage des Feminismus (4. Mai)
VIII. Eine e-Revolution? (11. Mai)
IX. Das Beispiel Unibrennt… (18. Mai)
XI. Langfristige Bewegungen: das Beispiel attac und attac Österreich (1. Juni)
XII. Die Kriminalisierung von Revolten als Antwort von den Staaten (15. Juni)

Internetgestützte Lehre: http://jerome-segal.de
& E-Mail [email protected]

I. Demonstration, Wutäußerung, Rebellion – Wie definiert man eine Protestbewegung?
Wann ist sie „weltweit“? (2. März)

3sat am 7.11.2011. „Besetz die EZB“, „"wo
hätten Kommunisten schon jemals irgendwo
ein System hingestellt wo mehr Wohlstand,
mehr bürgerechte, mehr Menschenrechte
und mehr Rechtsstaatlichkeit existiert hat?“,
„WIR SIND DAS VOLK“, „und manchmal
wissen WIR nicht genau, ob die Stimme des
Volkes das ist was UNS weiter bringt“ „Keine
Chaoten im Bundestag“, „ein paar
Volksbefragungen“, „Protester und Randale“

TAZ 28.2.2012 „Occupy ist aus dem Weg“
(London) Das Camp vor der Kathedrale von
St. Pauls ist nicht mehr. (…) Gleichzeitig mit
dem Camp vor St. Pauls wurde nach Angaben
der Besetzer auch die "Schule der Ideen" im
Stadtteil Islington geräumt. (…) Von hier aus
wollte die Bewegung versuchen, engeren
Kontakt zur Bevölkerung Londons aufzubauen
und breitere Unterstützung zu gewinnen. (…)
„Zelt Universität“ (…)Doch der Verlust des
Camps bedeutet für die Bewegung nicht das
Ende ihrer Entschlossenheit. Sie ist in London
deutlich zu spüren und an Zuversicht und
Ideen mangelt es nicht. "Eine Idee kann man
nicht räumen", sagen die Besetzer.

Joachim Gauck über Occupy

Unzufriedenheit => es wird zu einem Protest wenn 1./ es Leute oder Gruppen gibt, die
für diese Unzufriedenheit schuldig sein können (keine Demo nach einem Erdbeben) &

2./ wenn es mit dem Protest besser gehen könnte. Es muss also ein Ziel und
Forderungen geben. Die Forderungen können konservativ sein, oder im Gegenteil für
eine Änderung (f. die Erhaltung von Gebiete, Traditionen) oder für Neuigkeiten.
Manche Bewegungen können egoistisch sein, z.B. NIMBY („not in my backyard“).
Sind Proteste ein Merkmal unserer Gesellschaften? Zwei Tendenzen würden das
motivieren: 1. Ungewollte Nebeneffekte der Modernisierung (Militarisierung, Umwelt…)
2. Größere Empfindlichkeit & Ansprüche mit der Entwicklung globaler
Kommunikationen. Demokratische Rechte werden auch in Universitäten, Betrieben oder
beim Militär verlangt. Die Leute werden besser ausgebildet, wissen mehr Bescheid über
ihre Rechte, haben mehr Möglichkeiten zu protestieren. Der Staat hat immer mehr
Macht, es entstehen also größere Ansprüche und daher auch Enttäuschungen, die zum
Protest führen können (es wird in der Lit. von „rising expectations“ oder „political
overload“ gesprochen).
1.
2.
3.
4.
5.

Definitionen und Ausdrucksformen
Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Die Macht der Geschichte
Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Eine neue Weltweite Protestbewegung?

1. Definitionen und Ausdrucksformen
Wer? :
Zivilgesellschaft. Nicht sehr organisiert, manchmal von Vereinen, Gewerkschaften
oder politischen Parteien unterstützt.
Gegen wen? Meistens gegen den Staat, weil der Staat mehr und mehr Macht
genommen hat.
Wo? :
In der Öffentlichkeit („Public sphere“ – Habermas: „Netz für die
Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (…), das sich nach der
Kommunikationsdichte, der Organisationskomplexität, und Reichweite
nach Ebenen differenziert, von der episodischen Kneipe (…) bis zur
abstrakten, über Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit“). Man
spricht auch von „Arena“ im erweiterten Sinn: es kann sichtbar sein,
aber auch das Wahlsystem sein (Beispiel: Piratenpartei), das
Justizsystem (Beispiel: AIDS Infizierte haben einen Prozess geführt).
Prozesse können übrigens als Auslöser gelten (Beispiel 1992 Rodney
King in LA, Aufstand - Beamer)

Bedeutungsvolle Orte: Bastille in Paris
(Erinnerung an dem 14.7.1789), Tahrir Platz,
Syntagma Platz, Porta del Sol, Heldenplatz

Lokal/National oder zuerst lokal, dann
national. Z.B. Martin Luther King, 1955-56 Bus
Boykott, + Sit-ins in Cafeteria (bis 70 Mal),
dann Demonstrationen in Montgomery
(Alabama), dann Washington.
Was?
Politischer und sozialer Protest:
Forderung an die Regierung,
Wiederstand, Herausforderung gegen die
Regierung oder gegen kulturellen
Glauben oder Praktiken. Forderungen
sind nicht unbedingt politisch (z.B. wenn
es innerhalb eines Betriebes ist). Es ist
aber meistens politisch, wenn die
Forderungen an den Staat gerichtet sind.

Materialistisch vs. Ethisch: Arbeit-Lohn-Wochenstunden-Pension-Studiengebühre vs.
Umweltschutz-Gleichheit (z.B. zwischen Männer u. Frauen)-Abtreibungsrecht-Friede. Olivier
Fillieule (in Acts of Dissent 1999) hat mit Dokumenten für Anmeldungen von
Demonstrationen gearbeitet (Polizeiarchiv). Ergebnis: in Frankreich gibt es viele
traditionelle Proteste (Gewerkschaften, Lehrer), meistens „materialistisch“.
Soziale Bewegung: kollektiv, organisiert, nicht-institutionell. Proteste können zu
sozialen Bewegungen führen, aber nicht unbedingt.
Revolutionäre Bewegung: Sturz der aktuellen Regierung durch politischen Tötung,
Putsch…
Hanspeter Kriesi (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich):

Wie? (Ausdrucksformen)
In der Arbeitswelt: Streike (mit
oder ohne Streikposten),
Luddismus (Textilarbeiter, die
deren Maschinen zerstört
haben), Bossnapping (siehe
Süddeutsche), Japaner mit einem
schwarzen Armband
protestieren...
In der Schüler- o. Studentenwelt:
Besetzungen, Demonstrationen.
Was für Demonstrationen?
Barrikade, Lichtermeer, stille
Märsche (emotional, häufig
nach Toden z.B. ETA in
Baskenland – nach Attentaten,
Solidarität mit den Opfern),
freier Zugang bei Mautstellen,

Verteilung von Agrarprodukten, Verschütten
von Obst oder Milch von aufgeregten Bauern…
und vor kurzem ‚Flashmobs‘, die nicht immer
mit Protesten zu tun haben.

In der Geschichte hatten Fasching und Karneval mit Protest zu tun (Carnaval de Romans,
1580, am Tag vor dem Faschingsdienstag – 20 Tote am Abend, 1500-1800 in den
nächsten Wochen, siehe das Buch von Emmanuel Le Roy Ladurie, 1979). Masken =>
Anonymous (Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, der am 5.
November 1605 ein Attentat auf dessen König Jakob I. versuchte – Heute Warner
Brothers => Time Warner). 21.Feb.2012, Rosenmontag.

Heute FEMEN in Ukraine. « Oben
ohne » gegen Sexismus, Sextourismus,
demokratischer Rückgang, Berlusconi &
DSK. Begründung: Emotionen auslösen,
Medien anziehen… (viel umstritten
unter Feministinnen).
Protestkultur: z.B. in Frankreich Zebda
HK & les Saltimbank!
Boykotte: Bürgerrechtbewegung,
Apartheid.
Symbolisch: Unterschriftensammlungen, Petitionen (persönlich, gutes Gewissen f. wenig
Engagement). @: Email Bombing, Google bomb (miserable failure).
In der Familie: Sex-Streik (Lysistrata,
Theaterstück des griechischen Dichters
Aristophanes + Ralf König + „Erfolg für
Kolumbianerinnen Sex-Streik zwingt
Ministerium in die Knie“ Stern, 12. Okt. 2011).
Besetzungsformen: mit Zelt, sit-ins…

Danach?
Es können politische Partien entstehen, oder
Vereine, Lobbys… es funktioniert aber fast nur,
wenn die Medien über die Protestbewegungen
berichten. Z.B. Piraten, Beispiel einer Partei,
die aus der Zivilgesellschaft kommt (oder
dieses Image pflegt).

2. Warum soll man sich für Protestbewegungen interessieren?
Interesse für Ideen – Interesse für die Zukunft
(wie unsere Gesellschaft sein soll/wird) – Die
Frage der Durchsetzbarkeit. Kollektive Aktion.
Neue Ängste/Wünsche. Warum setzen sich
Menschen zusammen? Symbolisch agieren
oder pragmatisch?
Politisch aktiv sein. La Chinoise (1967): „Wenn
du dich nicht um Politik kümmerst, sollst du
wissen, dass die Politik sich um dich
kümmert.“.
„Geschichte machen“ (Foucault Le Monde, Mai
1979). Es sind die Proteste, die die
menschliche Geschichte macht, mehr als nur
die Evolution (siehe Natur/Kultur).
Interesse für moralische Werte: genau wie Kunst Emotionen mitteilen kann, sind
Protestbewegungen auch aussagekräftig, und zwar über die Werte unserer
Gesellschaften. Gerecht/Ungerecht => Protest. Insofern ist es auch ethisch (für oder
gegen AKWs, gegen die Apartheid…).

Social trends (Tendanzen), Benutzung von neuen Technologien…
Protestbewegungen sind auch interessant, wenn man sich für rationales vs. irrationales
Handeln interessiert.
Politische Interesse: Gewaltausbrüche vermeiden? Manche Soziologen, die Experten im
Bereich Protestbewegungen geworden sind, sind heute von Firmen angestellt, wenn sie
z.B. wissen wollen, wo die Proteste am niedrigsten sein werden, wenn sie entscheiden
sollen, wo sie eine Müllverbrennungsanlage bauen wollen.
Konkrete Effekte der Globalisierung beobachten: man weiß nicht mehr immer wo
und warum die Maßnahmen getroffen worden sind. Wer hat entschieden? Wo? Mit
welcher Begründung? Ohne Antwort neigen die Bürger, sich gegen den Staat zu
wenden. Beispiel französische Fischer Frühling 1993. Preise und Fischfangquoten
wurden reduziert => Anti-EU Stimmung. Proteste gegen die frz. Regierung, als Instanz
der Ohnmacht.

3. Die Macht der Geschichte
Kontinuität (Protestbewegungen wollen sich manchmal anschließen, z.B. um an Erfolge von
manchen vergangenen Protesten zu erinnern) und Innovationen (in den Formen, um zu
zeigen, dass es einen neuen Aufregungsgrund gibt).
Historische Annährung: Tilly, Charles , From Mobilization to Revolution 1978 (Vorher über
kollektive Gewalt – France 1830-1960 -, dann Streike). Später 1995 „Popular contention in
Great Britain, 1758-1834“. Er hat die „Longue durée“ (lange Dauer) in den Studien von
Protestbewegungen eingeführt (Begriff, der von den Historikern der Annales-Schule um
Fernand Braudel geschaffen wurde => Geschichtswissenschaft strukturalistisch neu
begründen).
19. Jh.: Arbeitsbedingungen (Wochenstunden, Kinderarbeit) => Marxismus, Wahlrecht,
Sozialversicherung…
Bis in den 1960er, Intellektuelle hatten meistens Angst von Protestbewegungen.
Demonstranten sollten wie Schafe sein, instrumentalisiert oder manipuliert sein (unmündig,
irrational, kurz gesagt „gehirnlos“ – Proteste wären „ansteckend“). Damals wurde z.B.
vermutet, dass Moskau dahinter steckt… heute manchmal Islamisten (Banlieues 2005).
Protestbewegungen wären undemokratisch, weil sie der politischen Vertretung nicht
vertrauen. „Self-help“ Bewegungen finden aber hier (in der Verzicht auf Partei) ihren
Ursprung. Diese Bewegungen waren autonom => Es hat den Begriff „Autonome“ gegeben,
heute immer noch gebraucht (seit den 1960er Jahren werden mit „autonome Gruppen“
„Mitglieder bestimmter unabhängiger linksradikal-libertärer beziehungsweise
anarchistischer Bewegungen bezeichnet“).

Sogar Habermas: Habermas, in Protestbewegung und Hochschulreform, Suhrkamp 1969.
Vorbemerkung S. 7 „Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegungen der Studenten
von Anbeginn zu erkennen waren, drohen ebenso rasch zu wachsen wie auf der anderen
Seite die Bereitschaft, Disziplinierungen zum einzigen Inhalt der Reform zu machen.“ – Der
SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund] war der Motor einer „Bewegung“, die einen
unvorhergesehenen politischen Spielraum eröffnet und damit Aufklärungschancen für Ziele
eines radikalen Reformismus geschaffen hat.“ => Ist nicht „radikalen Reformismus“ ein
Oxymoron? Interessanter, Text von Juni 1968, 5 Thesen (FR vom 5.6.1968):
I – Das unmittelbare Ziel des Studenten- und Schülerprotestes ist die Politisierung der
Öffentlichkeit.
II – Die Studenten- und Schülerbewegung verdankt ihre Erfolge der phantasiereichen
Erfindung neuer Demonstrationstechniken.
III – Die Studenten- und Schülerbewegung geht aus einem Potential hervor, das nach
keiner ökonomischen, sondern einer sozialpsychologischen Erklärung verlangt.
IV – Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die
entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind,
um Handlungsmaximen daraus abzuleiten.
V – Aus der falschen Einschätzung der Situation folgt eine verhängnisvolle Strategie,
welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isoliert, sondern alle auf
Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen
muss.
VI – Die Taktik der Scheinrevolution muss einer langfristigen Strategie der
massenhaften Aufklärung weichen. [später hinzugefügt]

„Populismus“ sollte z.B. die NS-Zeit erklären. Erst mit den Bürgerrechtsbewegungen in den
USA der 50er u. 60er Jahre haben Soziologen einen viel differenzierten Blick gewonnen.
Durchbrüche
• 1965 Manuel Olson, The logic of collective action. Einfluss von kommerziellem
Denken (Merchandising, siehe 1985 „We are the world“ – Geld für die Opfer der
Hungersnot in Äthiopien – Michael Jackson & Lionel Richie – 20 Millionen – Die
Wikipedia Seite (auf Dt.) informiert über das Making-off, verrät aber nicht, wie viel
Geld f. Afrika wirklich gespendet wurde.) + strukturalistische Annährung:
Gedanken über die Struktur von kollektiven Aktionen, Beispiel

• 1971 Erving Goffman Relations in Public: Microstudies of the Public Order (New York:
Basic Books) + 1974: Frame analysis: An essay on the organization of experience
(Studie von der Organisation von sozialen Erfahrungen) => Entwicklung von drei
Bereichen: Management and organizational studies, social movement studies, and
media studies. Sondernummer der Zeitschrift Mobilization über “Ideological Frames”.
• 1973 John McCarthy und Mayer Zald, The Trend of Social Movements in
America: Professionalization and Resource Mobilization, General Learning
Press, Morristown, NJ.

• 1975 William A. Gamson The Strategy of Social Protest. Studie über 53 versch.
Mobiliserungen in den USA 1800-1945. Schriftliche Statuten? Mitglieder Kartei?
(hierarchische) Strukturen? => Wenn ja, mehr Anerkennung (in 71% der Fälle) und
mehr Erfolg (62%). –– Gamson 1989: neu, Fernsehen – Staatssicherheit (FBI
COINTELPRO, 1956 – 1971, Counter Intelligence Program) –
• Unter den Fortsetzen von Tilly: Sidney Tarrow, Democracy and Disorder (1989), über
7000 Proteste in Italien, zwischen 1967 u. 1973 (er hat mit Zeitungen gearbeitet –
Corriere della Sierra). Probleme der Methodenbias, wenn man sich auf Zeitungen verlässt
– vor allem wenn man z.B. über den Ostblock arbeitet. Es gibt auch Interviews, Polizei
Archiv (Infos bei der Anmeldung von Demos).
Proteste wurden dann als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrachtet.
Die Erbe von 1968 + das Beispiel Anti-Kriegs-Bewegungen (Peace-Movement)?

1980er: mehr Interesse für die kulturellen Aspekte. „Branding“ & Entstehung von
kollektiven Identitäten. Interesse auch an Mobilisierung von Ressourcen.
1990er: mehr über Identitäten

1996 Gründung der Zeitschrift Mobilization
(www.mobilization.sdsu.edu)
Seit den 2000er Jahren: kein Protest ohne
Mediatisierung. Protestbewegungen, die kein Echo
in den Medien finden, existieren eigentlich nicht.
Entwicklung von unabhängigen Medien (z.B.
indymedia). Die schwierige Suche nach Objektivität,
Teilnehmerzahl (Veranstalter/Polizei).

2002 Gründung von Social
Movement Studies - Journal
of Social, Cultural and
Political Protest

4. Die Entstehung von Identitäten, kollektive und individuelle
Tilly : Repertoire of collective action => viele Möglichkeiten für Individuen. Es ist wie beim
Jazz: es gibt Standards & Improvisationen (das eine schließt das anderen nicht aus).
McDonald 2002: 1980er, Betonnung von „kollektiven Identitäten“. Es gibt aber
Affinitäten. Von „kollektiver Aktion“ zu „öffentlicher Erfahrung des Selbst“ (public
experience of self), von „Solidarity“ zu „Fluidarity“ [Fluidarity is a practice and theory of
identity-in-formation, aware of its own investments, the pleasures of intervention, and
the erotics of relational subject-making].
Für Touraine geht es mehr in den Protesten um Bewegungen gegen ungerechte soziale
Beziehungen als um kollektive Identitäten. Lichterman, „personalism“. Leute, die einer
Protestbewegung beitreten (Beispiel: Umweltschützer in den USA), wollen sich eine
eigene Persönlichkeit definieren. Benutzung von Informationsnetzwerken (Castells).
McDonald hat über „direct action“ während der Blockade des World Economic Forums
gearbeitet. Es gab viele „affinity groups“ wo jede(r) unterschiedliche Ziele und
Engagement hatte: “„Budhist Peace fellowship“, „Monsanto Claus“, „revolutionary valley
girls“, percussion groups, puppet makers, a group constituting a healing space devoted to
listening, debriefing, and body practices such as reiki and massage; Food not bombs,
which created convergence space around sharing meals; lock-on groups (…), music
groups, bike riders, media activist groups & world wide wonder women” => „The person
discovers him/herself and acts through the group“)

Keine festen Identitäten => fluidarity. McDonald gegen Gamson (kein Risiko einer
bürokratischen Organisation)

Juden in den Protestbewegungen, von Daniel Cohn-Bendit bis Stéphane Hessel. Nach mehr
als zweitausend Jahren Verfolgung haben viele Jüdinnen und Juden eine hohe Sensibilität
gegenüber Ungerechtigkeit entwickelt (was aber nicht bedeutet, dass es für andere nicht
der Fall ist.). Das motto Empört Euch! ist für viele eine Möglichkeit, deren jüdische Identität
zu erleben und Engagez-vous!/Engagiert Euch!, das nächste Buch von Stéphane Hessel, ist
die logische Fortsetzung. In seinem Buch The Jewish Century hat Yuri Slezkine die
Überrepräsentativität von Jüdinnen und Juden in den verschiedenen Protestbewegungen
analysiert.

5. Eine neue Weltweite Protestbewegung?
Referenz: 1968 - Protestbewegung und Hochschulreform + DVD Ruhestörung, Kapitel
Theorie-Praxis
Anthony Giddens: „Double Hermeneutics“. Soziologen interpretieren
Protestbewegungen die, umgekehrt, benutzen die Soziologen um Anerkennung und
Legitimität zu finden. Siehe Stiglitz & Chomsky in NY (Occupy Wall Street) + Manuel
Castells in Barcelona.
Weltweit weil gleiche Forderungen, gleiche Referenz.
DVD Die Zeit 2011 – Es sind zwei Kapiteln „Die Arabischen Revolutionen“ und
„Weltweite Jugendproteste“. Ist es wirklich gerechtfertigt, beide zu trennen?
17'30 Kapitel II - Die Arabischen Revolutionen
Genug von...
Was die Tunesien können... können auch
„Das Volk soll nicht die Regierung fürchten, die Regierung soll ihr Volk fürchten“
Rücktritt Mubaraks & "soziale Platform über Internet machen es möglich".
19‘30 Helmut Schmidt: Pb, die jungen Revolutionäre sind ohne Führung => die
konservatische muslimischen gewinnen

34'03 Kapitel V - Weltweite Jugendproteste
„Yes we camp“
„Und nicht nur in Spanien, auch in Portugal, Frankreich, Griechenland, Israel und
Grossbritanien organisiert sich die von der Politik enttäuschte Jugend“
Gegen harten Sparkurse der Regierung, gegen Korruption, Privatisierung,
Arbeitslosigkeit.
„Auf dem Netz auf die Strasse“
Zelt in Spanien & Israel
Gewalt („Wut“ in Grossbritanien)
ABER Eins zusammen: sie stellen den Kapitalismus in Frage.
„Demokratie jetzt“.
35‘25 Schmidt
Chile, „Krawalle“ in GB.
Schmidt „Proteste aufstrebenden Generationen sind etwas normales.“
Israel: hohe Mietpreise, ein Paar Familien besitzen das Land.
Es sind viele Themen, die wir in den nächsten Sitzungen angehen werden.