Vorlesungen RSoz1 vom 4.und 18.April 2012

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Rechtssoziologie I
Vorlesung vom 4. und 18. April 2012
Prof. Dr. Lukas Gschwend
Universität Zürich
Herbstsemester 2012
A. Soziologische Jurisprudenz
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1. Soziologische Jurisprudenz (Einführung)
1.1 Grundlagen
– Kerndisziplin der angewandten Rechtssoziologie (juristische
Hilfswissenschaft)
– Lehre von der soziologisch orientierten Setzung, Anwendung
und Durchsetzung von Rechtsnormen
– Entsteht als Reaktion auf Gesetzespositivismus und
Begriffsjurisprudenz im späten 19. Jh.
1.2 Die Freirechtsschule
– Eugen Ehrlich (1862–1922)
– Das Gericht hat Gesetzeslücken durch Rückgriff auf
ungeschriebenes, lebendes Recht aufzufüllen
– Hermann Kantorowicz (1877–1940), Ernst Fuchs (1859–1929)
A. Soziologische Jurisprudenz
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1.2 Die Freirechtsschule (Fortsetzung)
– Richter brauchen umfassende Kenntnisse der
gesellschaftlichen Wirklichkeit
– Die Kodifikation beinhaltet die notwendigen Grundsätze,
Auslegung und Lückenfüllung erfolgen über Rückgriff auf die
Kenntnis des Gerichts über das ungeschriebene lebende
Recht.
1.3 Interessenjurisprudenz
– Philipp Heck (1858–1943) baut auf Jherings utilitaristischer
Rechtstheorie auf.
– Die Gesetze sind die „Resultanten oder Kraftdiagonalen der in
jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenüberstehenden und
um Anerkennung ringenden Interessen“.
A. Soziologische Jurisprudenz
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1.3 Interessenjurisprudenz (Fortsetzung)
– Interessenjurisprudenz und Konflikttheorie
– Die Interessen sind nicht nur treibende Kraft der
Gesetzgebung. Sie prägen auch die Auslegung und
Lückenfüllung. Der Richter hat bei seiner Entscheidung die
aus dem Gesetz erkennbare grundsätzliche
Interessenwertung einfliessen zu lassen. Ebenso sind die
involvierten Interessen der Parteien und der Gesellschaft zu
berücksichtigen (Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912)
2. Sociological Jurisprudence (v.a. USA)
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Gegenbewegung zu der von John Austin (1790–1858)
entwickelten positivistischen analytical jurisprudence
Bedeutung des case law
A. Soziologische Jurisprudenz
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2. Sociological Jurisprudence (Fortsetzung)
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Rechtssystembedingter Bedarf nach empirischer Erforschung
der Judikatur
Soziologie der Jury und ihrer Urteilsbildung
Justice Oliver Wendell Holmes jr. (1841–1935): historischsoziologische, realistische Rechtsbetrachtung als Basis für
Entscheidungsprognosen der Gerichte.
Die Urteile der Vergangenheit bilden die soziologischen
Fakten. Ihre empirische Analyse ermöglicht Einsicht in die
Faktizität des richterlichen Entscheidungsprozesses.
Roscoe Pound (1870–1964), Prof. an der Harvard Law
School, fordert 1907 eine soziologisch abgestützte
Rechtswissenschaft (The Need for a Sociological
Jurisprudence).
Recht ist weder Selbst- noch Endzweck, sondern dient stets
einem Ziel.
A. Soziologische Jurisprudenz
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2. Sociological Jurisprudence (Fortsetzung)
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Das Recht dient den gesellschaftlichen Bedürfnissen. Es ist
ein Mittel des social engineering (nicht nur Herrschafts- und
Ordnungsinstrument i. S. von Max Weber) sowohl auf der
Ebene der Gesetzgebung wie auch der Rechtsprechung.
Ausgangsfrage der Rechtsschöpfung: „Welche Vor- und
Nachteile bringt dieses Gesetz oder Urteil für eine
interessengerechte Gestaltung der Gesellschaft?“
Die Vor- und Nachteile sind als soziologische Fakten zu
verstehen.
Vgl. dazu die Argumentation von Justice Louis Brandeis in der
Streitsache des Staates Oregon betr. Arbeitszeitbegrenzung
für Frauen von 1907.
Soziologische dominiert über rechtsdogm. Argumentation
A. Soziologische Jurisprudenz
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3. Legal Realism
3.1 Karl Nickerson Llewellyn (1893–1962)
– Das Recht entspringt dem Urteilsverhalten der Richter.
– Gesetze und Präjudizien regeln das Recht nicht
abschliessend.
– Richter folgen bei der Entscheidfindung nicht nur objektiven
Kriterien, weshalb die subjektiven Kriterien des
Urteilsverhaltens zum wichtigen Forschungsgegenstand des
legal realism gehören.
– real rules – paper rules (A Realistic Jurisprudence – The Next
Step, Harvard Law Review, 1930)
– Das Recht als Institution besteht nicht nur aus Rechtsregeln,
sondern wird durch zahllose faktische Einflüsse geprägt.
A. Soziologische Jurisprudenz
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3.1 Karl Llewellyn (Fortsetzung)
– Recht als Mittel zum Zweck, das sich an den ständig
wandelnden gesellschaftlichen Tatsachen und Problemen
auszurichten hat.
– Hauptziele der Rechtsordnung: Erhaltung der
Rechtsgemeinschaft und Verwirklichung von Fairness
– Naturrecht als faktisches Gerechtigkeitsgefühl der
Rechtsgemeinschaft.
– Grand Style – Formal Style
– Gegenstand des Jusstudiums und der Erforschung des
Rechts ist die Suche nach dem Recht und die Erforschung
seiner sich ständig wandelnden Regeln.
– Jusstudierende brauchen weniger Dogmatik, dafür mehr
Praxisbezug und Kenntnisse in Logik, Geschichte,
Wirtschaftswissenschaften und Psychologie.
A. Soziologische Jurisprudenz
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3.1 Karl Llewellyn (Fortsetzung)
Grundgedanken:
1. Recht ist vor allem eine Schöpfung der Richter.
2. Recht ist ständig in Entwicklung.
3. Die Gesellschaft verändert sich schneller als das Recht, so
dass die Rechtsordnung ständig zu überprüfen ist, ob sie der
Gesellschaft noch adäquat ist, der sie dienen soll.
4. Der Annahme, dass die traditionellen, normativen
Rechtsregeln der wirksamste Faktor beim Zustandekommen
von Gerichtsentscheidungen sind, ist zu misstrauen
(Regelskeptizismus).
5. Als Rechtsregel sind verallgemeinerte Aussagen darüber zu
erforschen, wie die Gerichte voraussichtlich entscheiden
werden (prediction theory of law).
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3.2 Jerome Frank (1889–1957)
– Psychologische Deutung des Realismus
– Das Urteil widerspiegelt irrationale Fakten in der Psyche des
Richters und im psychologischen Ablauf der
Gerichtsverhandlung.
– Im Gegensatz zu Llewellyn messen Frank und die ihm
folgenden behavioristischen Realismustheorien dem ruleelement - abgesehen von der Legitimationsfunktion - keine
Bedeutung zu.
– Behauptung: Der Richter urteilt in erster Linie aus seiner
individuellen biografischen Erfahrung.
– Dementsprechend soll das Rechtssystem und die
Juristenausbildung v. a. auf Soziologie, Psychologie und
Medizin konzentriert werden.
A. Soziologische Jurisprudenz
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4. Rechtstatsachenforschung in Deutschland
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Rechtssoziologisches Pendant im deutschen
Wissenschaftsraum zu sociological jurisprudence und realism
in den USA
Arthur Nussbaum fordert 1914 unter dem Einfluss von
Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule, die
Rechtsdogmatik sei von unnötigem Ballast zu befreien und die
Rechtswirklichkeit systematisch zu erforschen.
Die faktischen Einflüsse von Wirtschaft und Gesellschaft auf
das Recht müssten von der Rechtwissenschaft viel stärker
beachtet werden.
Rechtstatsachenforschung erfasst rechtsrelevante Tatsachen
wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher und
psychologischer Natur.
Law and Economics
A. Soziologische Jurisprudenz
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4. Rechtstatsachenforschung (Fortsetzung)
– Folgende Fragen sind konkret zu beantworten:
1. Wie wird das Recht vom Gericht tatsächlich angewandt?
2. Wie wird es von der Rechtsgesellschaft verstanden und
umgesetzt?
3. Welche Zwecke werden mit den Rechtsnormen tatsächlich
verbunden?
4. Welche faktischen Wirkungen äussern Gesetze?
–
Rechtstatsachenforschung liefert als juristische
Hilfswissenschaft dem Privatrecht praxisrelevanten
Anschauungsstoff und den faktischen Boden für praxisnahe
dogmatische Lösungen.
A. Soziologische Jurisprudenz
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5. Aktuelle Situation der Soziologischen Jurisprudenz und
Rechtstatsachenforschung
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Vgl. dazu Rehbinder § 2: Aufgaben der Rechtssoziologie
Grundprobleme der privatrechtlich orientierten
Rechtstatsachenforschung
Themen vor 1980: Gesellschaftliche Auswirkungen von
Verbraucherschutz, Kündigungsschutz,
Arbeitsgerichtsverfahren, Mieterschutz
Relativ wenig neuere Forschungen
Desiderate: Gesellschaftliche Realität der Alters- und
Behindertendiskriminierung, Drittwirkung der Grundrechte,
diversity-Recht, Auswirkungen des Betreuungsrechts, der
Kreditschutzgesetzgebung, der Rechtsschutzversicherungen
auf das Prozessverhalten, Schwangerschaftsabbruch.
A. Soziologische Jurisprudenz
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5. Aktuelle Situation der Soziologischen Jurisprudenz und
Rechtstatsachenforschung (Fortsetzung)
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Relativ viel rechtssoziologische Forschung zum Familien-,
Ehe-, Unterhalts- und Sorgerecht sowie zu Fragen der
Gleichberechtigung von Mann und Frau
Weitere Desiderate:
• Anwalts- und Richtersoziologie mit aktueller
Fragestellung (Vermassung, Verweiblichung etc.)
• Organisationsfragen der Justiz- und
Verfahrenssoziologie
• Ombudsmann
• Neue Vertragstypen
• Expertengutachten im Gerichtsverfahren
• SchKG
• Rechtstatsachenforschung und Gesetzgebungslehre