Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Neurowissenschaften

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Transcript Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Neurowissenschaften

Das Gehirn – ein Beziehungsorgan
Neurowissenschaften, Menschenbild und Religion
Thomas Fuchs
Das neue Bild
des Menschen?
Die Welt ist nicht im Kopf.
Das Subjekt ist nicht im Gehirn.
Im Gehirn gibt es keine Gedanken.
„Unser Ich, das wir als das unmittelbarste und
konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden,
ist … eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir,
die Fiktion, der Traum nichts wissen können.“
(G. Roth 1994)
“Sie sind Ihre Synapsen; sie sind das, was Sie sind.“
(LeDoux 2002)
Sie haben ihr Gehirn nicht, Sie sind Ihr Gehirn.“
(Spitzer 2005)
„Peters Gehirn überlegte angestrengt, was es
nun tun sollte. Als es keine Lösung fand,
entschied es sich, erst einmal abzuwarten.“
Das Gehirn ist kein Subjekt.
Der Mensch denkt, nicht das Gehirn.
(Erwin Straus 1956)
Das personale Subjekt ist
ein lebendiges, verkörpertes Subjekt.
Nur als Organ eines Lebewesens wird
das Gehirn auch zum Organ der Person
(griechisch órganon = Werkzeug).
Gehirn-Körper-Dualismus
der Neurowissenschaften
•
Körper als Trägerapparat
•
Gehirn als „Konstrukteur“ der erlebten Welt
und des Subjekts
•
„Zentralismus des Gehirns“
 Vernachlässigung von Wechselbeziehungen
„Kurzschluss“ von Gehirn und Geist
Mentale Prozesse
?
Gehirn
Physikalische Prozesse
Das Gehirn als Organ des Lebewesens
„Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Gehirn; denn
das Gehirn ist eine physiologische Abstraktion, ein vom Schädel,
vom Gesicht, vom Leib überhaupt abgesondertes, für sich selbst
fixiertes Organ. Das Gehirn ist aber nur solange Denkorgan, als
es mit einem menschlichen Kopf und Leib verbunden ist.“
Ludwig Feuerbach 1835
Doppelaspekt des Lebewesens
Bewusste
Lebensäußerungen
1.- / 2.-PersonPerspektive
Lebewesen
Physiologische
Prozesse
3.-PersonPerspektive
Doppelaspekt der Person
Erlebter
Leib
1.- / 2.-PersonPerspektive
Person
Physischer
Körper
3.-PersonPerspektive
„Verkörperte Neurowissenschaften“
(„Embodied Cognitive Neuroscience“)
 Subjektivität ist verkörpert in der sensomotorischen
Aktivität des Organismus in seiner Umwelt
(„embodied“ und „embedded“)
 Gehirn als Vermittlungs- und Modulationsorgan
 Verknüpfung des Gehirns mit der biologischen,
sozialen und kulturellen Umwelt
Einheit von Gehirn, Organismus und Umwelt
(1) Interaktion von Gehirn und Körper
(2) Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt
(3) Interaktion von Personen
(1) Interaktion von Gehirn und Körper
Körper
Stimmungen, Affekte
Leibliches Hintergrunderleben
(Kernbewusstsein, „Lebensgefühl“)
(2) Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt –
Ökologisches Selbst
Umwelt
Wahrnehmung
Objekt
Körper
Bewegung
Sensomotorischer
Gestaltkreis
Instrumentengebrauch
Instrument
Körper
ökologisches Selbst
(3) Interaktion von Personen
Körper
Körper
„Zwischenleiblichkeit“
Frühe Interaktionen
Angeborene
Fähigkeit zur
Ausdrucks-
Imitation
(Meltzoff & Moore 1989)
Frühe Imitation
(3) Interaktion von Personen
Körper
Körper
„Zwischenleibliche Resonanz“
„Spiegelneurone"
Basis der Nachahmung und Empathie:
Eigene Bewegung (z.B. Greifen)
„Übersetzung“
Spiegelneuronen 
Beobachtung fremder Bewegung
(einen anderen zugreifen sehen)
„Spiegelneurone“
(Rizzolatti 1996, Gallese 2001)
Zwei Hauptfunktionen:
• Soziales Verstehen
• Soziales Nachahmungslernen
Neuronale Spiegelsysteme existieren auch für Affekte
(z.B. Lachen, Ekel, Schmerz).
Heranreifung und Differenzierung des neuronalen
Spiegelsystems nur in sozialen Kontexten
Entwicklung des Gehirns durch Beziehung
Körper
Körper
Neuroplastizität
Neuroplastizität: Synaptisches „Lernen“
Das Gehirn ist ein biographisch,
sozial und kulturell geformtes Organ.
Zwischenresümee
Bewusstsein und Subjektivität entstehen nur im
lebendigen Organismus in Verbindung mit der Umwelt:
- Leibliches Hintergrunderleben
- Sensomotorische Umweltbeziehung
- „Zwischenleiblichkeit“, Interaktion mit anderen
 Gehirn als Vermittlungs- und Beziehungsorgan
Das Gehirn als Beziehungsorgan
Das Gehirn ist ein Vermittlungsorgan für die
Beziehungen des Lebewesens zu seiner Umwelt
Grundlage des Psychischen ist nur das „Gehirn-imLebensvollzug“, in Verbindung mit dem Körper, mit
der Umwelt, mit anderen Menschen.
Nur in Beziehung zum Körper und zur Umwelt vermittelt
das Gehirn die Erfahrung der Welt; es formt und
verändert sich selbst fortwährend in diesen
Beziehungen.
Bewusstsein als Integral
Bewusstsein entsteht nur im übergreifenden System
von Organismus und Umwelt.
Organismus
BewusstUmwelt
sein
Neurotheologie
Neurotheologie
Gott im Gehirn?
Religiöse Erlebnisse als
-
Meditativer Gehirnzustand mit Ausschaltung
der Orientierung (Newberg)
-
Mikroanfälle von Schläfenlappenepilepsie
(Ramachandran, Persinger)
-
Evolutionär vorteilhafte, genetisch gesteuerte
Gehirnerzeugnisse (Hamer, Dawkins)
Gott im Gehirn?
Andrew Newberg
Gott im Gehirn?
Meditative Gehirnzustände nach A. Newberg
Gott im Gehirn?
Meditative Gehirnzustände nach A. Newberg
Gott im Gehirn?
V. Ramachandran:
Religiöse Erlebnisse
als Aktivitäten eines
„Gottesmoduls“
im Temporallappen
Michael Persingers „Religionshelm“
Zur Kritik der Neurotheologie
1) Fragwürdige Lokalisierung
2) Kategoriale Verschiedenheit von 1. und 3. PersonPerspektive
3) Vielfalt und Kulturgebundenheit religiöser Erfahrungen
4) Unterschied von notwendiger und hinreichender
Ursache
5) Illusion oder Wirklichkeit – im Gehirn
ununterscheidbar
Rückwirkung religiöser Erfahrungen auf
Gehirnstrukturen:
Die religiöse Biographie des Gehirns
Nina Azari (2001):
Rezitation des Psalms 23 bei religiösen und
nicht-religiösen Versuchspersonen
Resümee
(1) Ist das Subjekt im Gehirn?
Nein.
Subjektivität ist das In-der-Welt-Sein eines
verkörperten Wesens.
Ein „Gehirn-im-Tank“ ist eine unsinnige
Vorstellung.
(2) Ist die Welt im Gehirn?
Nein.
Die erlebte Welt ist immer die gemeinsame Welt
verkörperter Subjekte.
Das Gehirn ist nicht der Produzent, sondern
der „Mediator“ psychischer Prozesse – ein
Beziehungsorgan.
Das Gehirn ist das „Organ der Möglichkeiten“ –
realisieren kann diese Möglichkeiten nur die
Person.
(3) Wohnt Gott im Gehirn?
Nein.
Die Neurobiologie kann nur sagen, mit welcher
Aktivität sich religiöses Erleben im Gehirn
widerspiegelt.
Religiosität ist nur im historisch-kulturellen
Kontext der Religionen verständlich.
Wenn das Subjekt nicht im Gehirn ist,
wo dann?
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Thomas Fuchs
Das Gehirn –
ein Beziehungsorgan
Eine phänomenologisch-ökologische
Konzeption
Kohlhammer, Stuttgart, 2008.
324 Seiten. € 28,–
ISBN 978-3-17-019291-1