Das Genogramm in der Hospizarbeit

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Transcript Das Genogramm in der Hospizarbeit

Vortrag von Peter Godzik
am 6. Oktober 2011 in Gelting
Nach Ursula Frühauf,
Hospiz-Zeitschrift 2004
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„Im Mittelpunkt der Hospizarbeit steht der
sterbende Mensch und die ihm Nahestehenden. Sie benötigen gleichermaßen
Aufmerksamkeit, Fürsorge und Wahrhaftigkeit. Die Hospizarbeit richtet sich bei ihrer
Hilfe und ihrer Organisation nach den
Bedürfnissen und Rechten der Sterbenden,
ihrer Angehörigen und Freunde.“ (DHPV)
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Ursprünglich ist das Genogramm ein Arbeitsmittel der Systemischen Therapie und
Beratung.
„Genogramme dienen der übersichtlichen
Darstellung von komplexen Informationen
über Familiensysteme. Man benutzt dazu meist
eine Zeichensprache, für die sich bestimmte
Symbole eingebürgert haben ...“ (Arist von
Schlippe)
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„Ach, meine Schwester brauchen Sie nicht aufzuzeichnen. Wir haben uns schon 17 Jahre nicht
gesehen.“
Frau M. und ich sitzen in unserer Wohnküche im
Hospiz. Vor uns stehen zwei Kaffeetassen, die Kerze
brennt auf dem Tisch und durch die leicht geöffnete
Balkontür dringen die Alltagsgeräusche von draußen
herein.
Vor uns liegt ein weißes DIN A 4 Blatt, auf dem einige
Kreise, Kästchen und Verbindungslinien zu sehen sind.
Frau M. lebt seit zwei Tagen im Hospiz.
So richtig eingewöhnt hat sie sich noch nicht, aber
heute ist sie gerne mit in die Küche gekommen ist.
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Wir sind dabei, ein Genogramm zu erstellen. „Eine
Zeichnung über die Zusammenhänge in der Familie“,
wie ich Frau. M. erkläre.
„Da unsere Einrichtung klein ist, möchten wir gerne
alle Angehörigen und Freunde mit Namen ansprechen
können.“
Diese Begründung leuchtet Frau M. sofort ein, denn
der vertraute persönliche Umgang miteinander ist ihr
gleich aufgefallen.
Auf das zweite, viel interessantere Motiv kommt sie
selber im Laufe des Gesprächs und der Zeichnungen:
„Da seh‘ ich ja auf einen Blick, wer zu mir gehört.“
Damit hat sie einen Kerngedanken der
Genogrammarbeit im Hospiz auf den Punkt getroffen.
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Das Genogramm dient als Medium in der Biografiearbeit.
Über die Aufzeichnungen werden wichtige Stationen
der Lebensgeschichte benannt.
In dem Maß, in dem eine Person die Geschichte ihres
Lebens anders oder neu erzählt, also neu interpretiert
und mit neuen Bedeutungen versieht, verändert sich
auch ihre Identität.
Im autobiografischen Prozess vollziehen sich aber nicht
nur ständiges In-Frage-Stellen, neu Entwerfen und
Durchspielen möglicher oder „unmöglicher“,
versäumter oder erhoffter Lebensoptionen, sondern
auch ein Abschließen und Verfestigen.
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Über die Arbeit an dem Genogramm kommt es
hin und wieder dazu, Unerledigtes zu klären,
Unstimmigkeiten zu bereinigen.
Versöhnen kann dann heißen, über die
Stationen Erinnern, Erkennen, Wiedererleben,
Durcharbeiten, Betrauern und Akzeptieren sich
endlich verabschieden und lösen zu können
von dem, was zwischen den Betroffenen stand.
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In der Genogrammarbeit werden Stärken und
Fähigkeiten der einzelnen Familienmitglieder im
Umgang mit schwierigen Lebenssituationen
herausgefunden.
Im Beratungsgespräch schauen wir auch auf die
vorhandenen Ressourcen und Kraftquellen.
Hospizgäste und Zugehörige sollen befähigt
werden, zu eigenen Entscheidungen zu kommen,
selbständig zu handeln und persönliche
Bewältigungsstrategien zu entwickeln, also in
größtmöglicher Eigenverantwortung und
Selbstbestimmung handeln zu können.
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Was tut Ihnen im Moment gut?
Wie werden Sie unterstützt?
Wie sind Sie in der Vergangenheit mit schwierigen
Situationen umgegangen?
Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind
vorhanden?
Wer von Ihnen kann welche Aufgaben gut
übernehmen?
Wen könnten Sie in welcher Weise noch
ansprechen?
Was muss geschehen, damit Sie sich gut
unterstützt fühlen?
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Möchte Anna Uli noch sehen?
Olaf hat vor zwei Jahren seine Mutter verloren.
Jetzt muss er sich von Anna verabschieden.
Haben Anna und Olaf ihre Silberhochzeit feiern
können oder steht der Termin noch bevor?
Welche Rolle spielt llka (noch)?
Welche Gedanken machen sich die Eltern von
Anna?
Wie wichtig ist Leon für Anna?
…
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Mit einem leeren weißen Blatt und einem Stift besuche ich einen
Gast in seinem Zimmer oder sitze in der freien Küche mit ihm.
Manchmal lade ich auch nahe Zugehörige dazu ein. Das empfiehlt
sich z.B. bei stark atemnötigen Gästen zu deren Entlastung, dient
aber ansonsten auch dazu, eine neue Form des Familiengesprächs
zu führen.
Als Erklärung gebe ich zunächst die Gründe für diese
Zeichnung an:
Das Hospiz ist eine kleine Einrichtung, in der wir sehr persönlich
miteinander umgehen können. Da ist es gut, sich mit Namen
ansprechen zu können und zu wissen, wer zu welchem Gast
gehört.
Um die Zusammenhänge in einer Familie schnell erfassen zu
können, ohne viele Seiten in der Dokumentation lesen zu müssen,
bietet sich das Genogramm ebenfalls an. Die Nachtschwester z.B.
kennt viele Angehörigen nur durchs Erzählen. So ist auch sie sich
rasch und präzise informiert.
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Ausgangspunkt ist immer der Hospizgast. Von ihm
aus werden die nächsten Angehörigen (Ehe- und
Lebenspartnerlnnen, Kinder, Eltern, Geschwister)
eingetragen. Dabei sind auch die Vornamen wichtig,
bei Kindern und Jugendlichen das Alter, denn all diese
Angaben haben im Hospizalltag eine Bedeutung.
Den dritten Geburtstag des Enkelkindes auch im
Hospiz nicht zu vergessen, trägt zur allgemeinen guten
Atmosphäre bei und stellt Lebensqualität dar.
Manchmal kann ein Hospizgast zum ersten Mal nach
langer Zeit wieder eine Perspektive sehen und Pläne
entwickeln. Zum Beispiel können Überlegungen für
die anstehende Goldene Hochzeit angestellt werden.
Sollen wir feiern oder nicht? Und wenn, dann wie?
Genogramme geben einen klaren Gesamtüberblick der
Familienzusammenhänge:
 erfassen in kurzer Zeit relevante Informationen;
 sind leichtverständlich für Hospizgäste, Zugehörige und
Mitarbeiterinnen;
 können rasch erweitert werden durch neu hinzu kommende
Daten;
 richten die Aufmerksamkeit wieder auf „normale“ familiäre
Ereignisse;
 geben verstorbenen Menschen ihren Platz in der Familiendarstellung;
 bringen „Familienstrategien“ zur Problembewältigung zur
Sprache und fördern damit die Ressourcenbildung und die
Hilfe zur Selbsthilfe;
 signalisieren jedem einzelnen Familienmitglied unser
Interesse am Befinden;
 machen Freude bei der Erstellung und erweitern die
Sichtweisen.
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Ein Genogramm wird immer auf freiwilliger Basis
erstellt.
Eine angenehme Atmosphäre ist erforderlich.
Die Erstellung verlangt Einfühlungsvermögen.
Übung für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen z.B.
mit dem eigenen Genogramm im Vorfeld ist
Voraussetzung.
Hospizgäste werden nicht ausgefragt, während
des Erzählens ergeben sich Fragen und die
Informationen werden aufgenommen und
integriert.
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Gefühlsäußerungen werden beachtet und
angesprochen.
Abwertungen finden nicht statt, Wertschätzung ist
hilfreich.
Interpretationen des Gastes können durchaus
hinterfragt, andere Sichtweisen angestoßen
werden.
Grenzen des Gastes sind einzuhalten – niemand
wird zu Äußerungen gedrängt.
Die „Reinschrift“ des Genogramms wird dem Gast
gezeigt und in die Dokumentation aufgenommen.
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Genogrammarbeit im Hospiz ist keine Therapie.
Wir begleiten, wir pflegen, wir schaffen Entlastung,
wir gestalten den Alltag mit, aber wir sind (in der
Regel) keine Therapeuten.
Genogrammarbeit ist kein „Allheilmittel“ und nicht
alles wird klarer.
Durch die Erstellung des Genogramms kommen wir
jedoch in einen Beziehung fördernden Kontakt zum
Gast und zu den Angehörigen.
Die individuelle Begleitung eines Menschen erfährt
neue Facetten.
Für alle Beteiligten ergibt sich ein guter Überblick.
Darum ist das Genogramm eine wertvolle
Unterstützung in unserer ganzheitlichen,
interdisziplinären Hospizarbeit.