Der carnivore Bias in den Sozialwissenschaften

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Transcript Der carnivore Bias in den Sozialwissenschaften

Der carnivore Bias in den
Sozialwissenschaften
Oder
Das Verschwinden des Fleisches
und das Verschwinden der Tiere
Vortrag an der Universität Hamburg im Rahmen
der Konferenz der „Group for Society and Animal
Studies“ (GSA) zum Thema „Fleisch“
Hamburg, 1. 7. 2011
Renate Brucker
Biologie
Gesellschaft
• Kultur der Moderne:
• Carnivor
• Omnivor
• Herbivor
• dominante carnivore
bürgerliche
• unterlegene vegetarische
• (Eder 1988)
Carnismus (Carnism)
•
•
•
•
•
•
•
deskriptiv
Ideologie (-ist, ism)
System von Überzeugungen
Konditionierung zum Essen von Fleisch
Unterscheidung von „essbaren“/ nicht „essbaren“ Tieren
kulturell dominant
gewalttätig und ausbeuterisch
(Melanie Joy: 2010)
(„Viandism“)
Carnismus/Vegetarismus
• unsichtbar
• unbenannt
• unbewusst
•
•
•
•
•
•
3 N:
normal
natürlich
notwendig
Verteidigungsstrategien:
Blockieren + Deformieren
• Ideologie, Ausnahme
• benannt (Begriff alt)
• bewusste
Überzeugungen
• anders
• unnatürlich
• bewusste Wahl
Vegetarismus als „Lackmustest“
für wissenschaftlichen Anspruch
• Theorie der kognitiven Dissonanz
(Festinger 1957)
• Widersprüche zwischen Einstellungen und
Verhalten irritieren
• - Vermeidung durch Blockierung oder
Änderung der Wahrnehmung
• - Aufgeben der schwächsten Ichbesetzung
• - „Glaubwürdigkeit“ der Quelle/Informant
3 N - „normal“
• „Ja, jeder muss erkennen, dass er schon
jahrelang … durch den Verzehr von
Fleisch und Wurst an dieser Todeslotterie
teilgenommen hat.“ (U. Beck, SZ 2000)
• „…sonst müssten wir uns ja sicherheitshalber alle zum Vegetariertum bekehren“
(Weinhold 1997: 414)
3 N - „natürlich“, „notwendig“
• „Ernährungsopposition“, „alternative
Ernährungsstile“ (Barlösius 1999: 57)
• Der „viel zu geringe Fleischgenuss bei den
arbeitenden Klassen“ (Teuteberg 1988:
73)
• Akzeptanz der „modernen ProteinMythologie“, Abwertung des „Brei- und
Mus-Standard“ (Eder 1988: 250)
Blockierungen
• Ziel des Arbeitskreises „Kulturforschung
des Essens: „… die Fähigkeit zum auch
immer kommunikativen Essensgenuss zu
fördern.“ (Wiedenmann 1997: 515, 2.4)
• „Ernährung gehört …zu den ethischen
Fragen, weil für viele … Auswahl und Art
ihrer Speisen … mit ihrem Konzept von
einem guten Leben verknüpft sind.“
(Mühlich 2008: 95)
Hedonismus
• „Genussfreude und Qualitätsbewusstsein
beim Essen“, „Gaumenfreuden“ (Mühlich:
5)
• Dezisionale Privatheit + Autonomie
• „… ein von moralisierenden
Betrachtungen heimgesuchtes Thema“
(Ladwig in Mühlich: 13)
Zensur vegetarischer
Lebensweisen oder Aussagen
• Gustav von Struve (DDR-Biographie,
Lokalgeschichte)
• Amalie von Struve (Hummel-Haasis: 1982)
• Tolstoj
• Bertha von Suttner
• Emil Julius Gumbel und viele andere
Eliminierung von Fleisch/Tieren
„Nur ein reduziertes Verständnis kann im Fleischverzicht die Substanz
des Vegetarismus sehen.“ (Krabbe 1974: 48)
„Fleischtabu“ = für Vegetarismus „peripher“, „keineswegs Zentrum oder
Ausgangspunkt“, hätte auch „ganz anderes“ sein können (Barlösius
1997: 11),
als „inhaltliche Konkretion weitgehend zufällig“ (ebd. 170),
„kein Fleisch zu essen hatte … die Funktion, die vegetarische Küche
unverwechselbar zu machen“ (ebd. 184)
Nicht Fleisch/Tiere sondern
Religion, Natur, Ideologie
• „ die den ethischen Vegetarismus als eine
die Weltfrömmigkeit exemplifizierende
Religion charakterisiert“ (Sprondel 1986:
320) … Krabbe 1974 ...
• „Auch der vegetarische Lebensstil des 19.
Jahrhunderts zentrierte sich um die
Leitmotive Natürlichkeit, Entsagung und
Gesundheit.“ (Barlösius 1999: 119)
Normativer Naturbegriff
„Die Vegetarier betonen nachhaltig die ethische Seite
ihrer Doktrin, die ein naturgemäßes Verhalten
gegenüber Mensch und Tier im Sinne des Pazifismus
verlangt. Es gehöre zur natürlichen Würde des
Menschen, Mitgefühl mit den Tieren zu empfinden.“
(Sprondel 1986: 433).
„Gesundheit“ = rational; Empathie für Tiere = irrational,
„hinterweltlerisch“, instrumentell pazifistisch (Fritzen
2006: 205)
Vegetarismus als „antimodern“ (Ausnahmen: Eder,
Baumgartner, Grube)
Ausblenden von Informationen
Empiriemangel
Keine Thematisierung von Tierzucht und
Schlachten
• Krabbe (1974: 16-26) Missstände im Bereich
Wohnen – Bodenreform
(70-73) „ethischer Vegetarismus.“ – ohne
Empirie – erscheint willkürlich („ideologisch“)
• – Barlösius 1997: „Tier“ in 2 Zitaten auf 300
Seiten über Vegetarismus,
• Einmalige Erwähnung der Ablehnung des
„Blutzolls“ durch antike Vegetarier (Barlösius
1999: 119)
Literarische Fiktion?
„Es war der 3. Mai 1832 daß ich in Rousseau‘s Emil eine Stelle aus Plutarch las,
welche mit glühenden Farben schilderte, wie
grausam der Mensch den Thieren
gegenüber zu Werke gehe … Schon stand
mein Mittagessen auf dem Tische. Ich aber faßte
den Entschluß, kein Fleisch mehr zu essen.“
(Struve 1869: 4; Barlösius 1997: 49)
Motive der „Propheten“
Vegetarismus wird von vegetarischen
Propheten (Struve, Baltzer) „nach ihrem
doppelten Scheitern“ („materiell und
ideell“) als „eine konsequente praktische
Umsetzung von Wertorientierungen
ausgegeben“ (ebd.: 91), um der
„gescheiterten Existenz“ „nachträglich
Sinn zu verleihen.“ (ebd.:49)
Motive der Anhänger
• „Kein Fleisch zu essen eröffnete die leicht
organisierbare Chance, im Alltag die Vorstellung
einer überlegenen Lebensweise zu verkünden
und sich gleichzeitig öffentlich durch ein
bestimmtes Handeln als Zugehöriger dieser
Bewegung zu erkennen zu geben.“ (Barlösius
1997: 12)
• „… eine reglementierte Lebensführung …, die
die persönliche Fähigkeit zur Selbstkontrolle und
Enthaltsamkeit betont“ (ebd.: 9)
Verbürgerlichung durch
vegetarische Lebensweise
„Damit kanalisierten sie auf der individuellen
Ebene den erfolgreichen Übergang zum
nächsten Lebensabschnitt. Auf der
sozialen Ebene hatte sie eine
entsprechende Bedeutung. Sie erschien
der Anhängerschaft geeignet, ihre
Verbürgerlichung zu betreiben und,
nachdem dies gelungen war, versandete
das Gesamtphänomen.“ (Barlösius 1997:
188
„wahre Motive“: soziale Pathologie
Vegetarier benutzen als sich „sozial und
ökonomisch bedroht fühlende „soziale
Aufsteiger“ (Barlösius 1997: 144) den
Vegetarismus gegen ihre „individuelle und
soziale Verunsicherung“ (ebd.: 167), als Hilfe zu
ihrer „Verbürgerlichung“ (ebd.: 188)
Träger der Lebensreform sind „sozial
absteigende Teilgruppen des Bürgertums“
(Raschke 1985: 142)
Vegetarismus als soziale Strategie
Das „Einfache“, „Natürliche“ als Opposition
„neuer Mittelschichtberufe“ gegen den
„distinguierten Geschmack“ (Barlösius
1999: 118-122)
bei Frauen als durch ihren sozialen Aufstieg
motivierte Suche nach einem „eigenen
kulturell geachteten Lebensstil“ (ebd.: 57)
Unverständnis für ethische Motive
In den Augen der Vegetarier ist der Vegetarismus
„weit mehr als die nüchtern-praktische
Empfehlung einer fleischlosen Diät. Vegetarier
zu sein bedeutet, über eine weitreichende
Weltdeutung zu verfügen, die dem schlichten
Akt der Nahrungsaufnahme eine erhebliche
ethische Relevanz verleiht.“ (Sprondel 1986:
321)
Daher Gleichstellung von Tabak-, Alkohol- u.
Fleischmeidung im ISK
Umdeutungen
Mensch-Tier-Beziehungen werden zu
Mensch- Mensch-Beziehungen : Der reale
Schlachthof (Horkheimer 1934: 133) wird
zur Metapher für „menschliches Elend“
uminterpretiert (Wiggershaus 1997: 62,
zitiert nach: Mütherich 2004: 150f)
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit