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Georg Büchners Woyzeck

Diskursgeschichte des Dramas im DU

Diskurs

• Wissengebiet: Medizin, Jurisprudenz, Politik, Ökonomie etc.

• möglich auch: Diskurs als ‚Rede‘ (‚medizinische Rede‘ etc.) • Michel Foucault: Diskurs ist eine „Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören“ • Diskurse werden durch genaue Regeln, durch ein Vokabular und Leitkategorien bestimmt, die aus theoretisch unendlich vielen Aussagemöglichkeiten bestimmte Sätze definieren und dasjenige, was an Erkenntnissen nicht zum Diskurs gehört, durch Ausschlussverfahren regelt • zum Diskurs gehört nicht das Rauschen der Alltagsgespräche, das Telefonbuch etc.

Mögen daher alle, welche den Unglücklichen zum Tode begleiten oder Zeugen desselben sein werden, das Mitgefühl, welches der Verbrecher als Mensch verdient, mit der Überzeugung verbinden, dass das Gesetz, zur Ordnung des Ganzen, auch gehandhabt werden müsse und dass die Gerechtigkeit, die das Schwert nicht umsonst trägt, Gottes Dienerin ist. – Mögen Lehrer und Prediger und alle diejenigen, welche über Anstalten des öffentlichen Unterrichts wachen, ihre hohen Berufs eingedenk nie vergessen, dass von ihnen eine bessere Gesittung und Zeit ausgehen muss, in der es der Weisheit der Regierungen und Gesetzgeber möglich sein wird, die Strafgen noch mehr zu mildern, als es bereits geschehen ist.

Möge die heranwachsende Jugend bei dem Anblicke des blutenden Verbrechers oder bei dem Gedanken an ihn sich tief die Wahrheit einprägen, dass Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmäßige Befriedigung der Geschlechtslust und schlechte Gesellschaft ungeahnt und allmählich zu Verbrechen und zum Blutgerüst führen können. Mögen endlich alle mit dem festen Entschlusse von dieser schauerlichen Handlung zurückkehren: Besser zu sein, damit es besser werde.

J.C. Clarus: Gutachten. Zeitschrift für Staatsarzneykunde, 16. Aug. 1824

Ich spreche nun meine Überzeugung dahin aus: Dass W. wirklich körperlich und höchst wahrscheinlich auch gemüthskrank war, beide Zustände miteinander in genauester Verbindung standen, dass, wenn selbst mit Herrn Cl. angenommen, W. Benommenheit und seine reizbare Gemüthsstimmung von der Krankheit, oder nach Cl. von krankhafter Anlage abhängig, ferner das Übergewicht der Leidenschaft über die Vernunft die einzige Triebfeder seiner Moral gewesen wäre, dieses Übergewicht selbst als durch Krankheit bedungen und nachgewiesen, eine Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen, oder doch höchst zweifelhaft gemacht hätte.

C. Marc: Gutachten zu J.C. Woyzeck (1825)

„Der menschliche Körper ist eine Uhr, aber eine gewaltige, die mit so viel Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit konstruiert ist, dass sogar dann, wenn das Sekundenrad stillsteht, das Minutenrad sich weiterdreht und seinen Weg immer fortsetzt, so wie das Viertelstundenrad und andere sich weiterbewegen, wenn Gang unterbrochen haben.

“ die ersteren, verrostet oder durch irgendeine Ursache entweder gestört, ihren (Julien Offray de la Mettrie:

L’homme machine

, 1748)

„Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt, ebenso wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese.“ Untersucht man diese „Gemeinschaft der Seele mit dem Körper“, so ist darauf zu achten, „wie aus Bewegungen der Materie in der Seele Ideen, und aus den Ideen der Seele Bewegungen in der Materie entstehen“.

Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772)

Jeder Organismus ist für sie eine verwickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln versehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten. Das Enthüllen der schönsten und reinsten Formen im Menschen, die Vollkommenheit der edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und sich hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint, ist für sie nur das Maximum einer solchen Maschine. Sie macht den Schädel zu einem künstlichen Gewölbe mit Strebepfeilern, bestimmt, seinen Bewohner, das Gehirn, zu schützen, – Wangen und Lippen zu einem Kau- und Respirationsapparat, – das Auge zu einem komplizierten Glase, – die Augenlider und Wimpern zu dessen Vorhängen; – ja die Träne ist nur der Wassertropfen, welcher es feucht erhält.

Büchner:

Über Schädelnerven

(1836)

Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar

selbst genug

.

Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz dieses Seins teleologischen zu suchen, ist das Ziel der der gegenüberstehenden Ansicht, die ich die philosophische nennen will.

Büchner:

Über Schädelnerven

(1836)

Hat man auch nichts Ganzes erreicht, so kamen doch zusammenhängende Strecken zum Vorschein und das Auge, das an einer Unzahl von Tatsachen ermüdet,

ruht mit Wohlgefallen auf so schönen Stellen

, wie die Metamorphose der Pflanzen aus dem Blatt, die Ableitung des Skeletts aus der Wirbelform.

Büchner:

Über Schädelnerven

(1836)

Begriff der ‚Disziplin‘:

Zu den grundlegenden Bedingungen einer guten medizinischen ‚Disziplin’ in beiden Bedeutungen des Wortes gehören die Aufzeichnungsverfahren, welche die individuellen Daten lückenlos in Speichersysteme einbringen, so daß man von jedem allgemeinen Register zu einem Individuum gelangt und umgekehrt jedes individuelle Prüfungsergebnis auf die Gesamtaufstellungen zurückwirkt. Michel Foucault:

Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses

. Frankfurt a.M. 1977

Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell, wären Sie je direkter politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und der ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.

Büchner: Brief an Gutzkow (etwa Juni 1836)

‚Fatalismusbrief‘:

Ich studierte die Geschichte der Französischen Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.“ Büchner: Brief an Minna Jaeglé (nach dem 10. März 1834)

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Gethier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln.

Im Großherzogtum Hessen sind 718,373 Einwohner, die geben an den Staat jährlich an 6,363,364 Gulden […] Dies Geld ist der Blutzehnte, der von dem Leib des Volkes genommen wird. An 700,000 Menschen schwitzen, stöhnen und hunger dafür. Im Namen des Staates wird es erpreßt, die Presser berufen sich auf die Regierung und die Regierung sagt, das sey nöthig die Ordnung im Staat zu erhalten. Was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat?

Georg Büchner/Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote (Darmstadt, Juli 1834)

Realismus – Naturalismus

Lenz sagte: „Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzu schaffen. Ich verlange in allem Leben, und dann Möglichkeit des Daseins, ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, dass was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen [ …] Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel [ …] Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen.

Forderung in den Richtlinien, dass dramatische Texte „in ihren Strukturen begriffen und in ihre Traditionszusammenhänge eingeordnet werden“ (Richtlinien NW 1999, S. 6) Rolle der Schüler(innen) als Theaterzuschauer?

weitergehend: „spielerische Erprobung einzelner Szenen“ (Richtlinien NW 1999. S. 81)

Prozess der ästhetischen Rezeption: Übung im sinnlichen Wahrnehmen jenseits der Bedeutungszuweisung Präsenz (prä-sent): Entfaltung des Augenblicks, der aus der funktionalen Verankerung heraustritt (Postdramatik) zum Alltag differente Zeiterfahrung