Universität Bielefeld - Sommersemester 2007 Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft

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Universität Bielefeld - Sommersemester 2007
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
„Literatur und Zensur in der BRD,
juristische Auseinandersetzung um die Kunstfreiheit
Dozent: Dr. Matthias Lorenz
„Political Correctness“ als Zensur
Der Fall Martin Walser
Referent: Thomas Brinkmeier
Gliederung
4)
„Political Correctnes“
Der Roman „Tod eines Kritikers“
Die öffentliche Debatte
Walser und „political Correctness“?
5)
Literaturangabe
1)
2)
3)
„Political Correctness“ I

Der Begriff stand ursprünglich im positiven Sinn für
Antidiskrimminierungsbemühungen amerikanischer Linker.

In Deutschland wurde die „Polical Correctness“ als Form
„zunehmender öffentlicher Sprachsensibilität“ integriert.

Forderung: Sprachgebrauch, der Personen oder Gruppen
beleidigt oder abwertet oder einen nicht erwünschten Umgang
mit der deutschen Vergangenheit fördert, soll vermieden werden.

Sensible, tolerante, undogmatische und demokratische
Auseinandersetzung soll gefördert werden.

„historische Korrektheit“ im Ungang mit der NS-Vergangenheit.
„Political Correctness“ II

In der BRD wird „Political Correctness“ mit Indoktrination,
Kontrolle sowie Zwang gleichgesetzt.

Konservative und Rechte nutzen das Schlagwort „Political
Correctness“ als diffamierenden Kampfbegriff um Bemühungen
von Liberalen und Linken zu karikieren und zu verfälschen.

„Die Sprachsensibilität wird im Namen von Meinungsfreiheit
und Demokratie mit den Stigmawörtern „political correctness“,
Sprachzensur, Sprach- oder Wortpolizei, Denkverbot oder
Tugendterror bekämpft.“
Die Befürworter äußern:

„Sprachsensibilität ist ein Indikator für eine fortgeschrittene
Zivilität und demokratische Kultur in der Gesellschaft.“

„Der Sprachgebrauch ist eine wichtigsten Weisen öffentlichen
Respekt zu demonstrieren.“

„Eine historische Korrektheit ist aus Rücksicht auf die
Gefühle der Opfer und ihrer Nachkommen notwendig.“

„Der Hinweis auf die Gefahr der Verharmlosung oder
Verdrängung der Nazi-Verbrechen ist kein Ausdruck von
Denkverboten, sondern ein Zeichen entwickelter
Sprachsensibilität.“
Die Gegner äußern:

„Deutschlands neue Denkverbote.“

„PC“, in Deutschland präsent als „historische Korrektheit“,
bläst zur Attacke gegen die Meinungsfreiheit.“

„PC droht die Grundfreiheiten der Bürger in die Ketten
pseudoliberaler, repressiver Toleranz zu legen und die
Streitkultur der deutschen Kommunikationsgesellschafft zu
erdrosseln.“

„Personen sollen aus dem demokratischen Spektrum
ausgegrenzt, ihrer Stellung und Reputation beraubt und
schließlich mundtot gemacht werden.“
„Political Correctness“ III

„Die Kritik an „Political Correctness“ erweist sich als
problematischer Versuch die Grenzen des Sagbaren
auszuweiten.“

„Die Anti-PC-Kampagne soll die Isolation nationalistischer
Positionen wieder aufbrechen und rechtes Gedankengut
hoffähig machen.“

„Political Correctness versucht Grenzen des öffentlich
Sagbaren zu ziehen, die verhindern, dass Positionen in der
gesellschaftlichen Mitte verankert werden, die den
errungenen Konsens zum Umgang mit der NaziVergangenheit und zum Umgang mit Minderheiten oder
Machtloseren, (...), aufzubrechen bestrebt sind.
„Tod eines Kritikers“
2.1 Der Autor
2.2 Die Handlung
2.3 Ein Schlüsselroman
2.4 antisemitische Klischees?
2.5 Täter-Opfer-Umkehr
2.6 Ein Fazit
Martin Walser

* 24.03.1927 in Wasserburg

1946: Abitur

1946-1953: Studium der Literatur,
Geschichte und Philosophie
Promotion zu Franz Kafka

1949-1957: Regisseur und Reporter für
den Süddeutschen Rundfunk

Ab 1957: Leben und Arbeit als freier
Schriftsteller in Friedrichshafen
Martin Walser

Werke:
1955: „Ein Flugzeug über dem Haus“
1976: „Jenseits der Liebe“
1978: „Ein fliehendes Pferd“
1980: „Seelenarbeit“
1993: „Ohne einander“
1998: „Ein springender Brunnen“
2002: „Tod eines Kritikers“
2007: „Das geschundene Tier“

Auszeichnungen:
1955: Preis der Gruppe 47
1957: Hermann-Hesse-Preis
1981: Georg-Büchner-Preis
1987: Bundesverdienstkreuz
1993: Orden „pour le mérite“
1998: Friedenspreis des
deutschen Buchhandels
1998: Autor des Jahres
„Tod eines Kritikers“
Die Handlung

Ort: fiktiver Münchener Literaturbetrieb

In seiner Literatursendung bespricht der Literaturkritiker Andre
Ehrl-König ein Buch des Autors Hans Lach negativ.

Auf der Party des Verlegers droht der Autor seinem Kritiker.

Nach der Party ist der Kritiker verschwunden. An seinem Jaguar
wird sein Pullover und ein Blutfleck entdeckt.

Der Autor Hans Lach wird des Mordes verdächtigt.
„Tod eines Kritikers“
Die Handlung

Michael Landolf will die Unschuld seines Freundes beweisen
und stellt Recherchen im Umfeld der Protagonisten an.

Der Kritiker wird in den Gesprächen über den Literaturbetrieb
durchweg negativ besprochen.

Die Ehefrau stellt ihrem Mann ein Ultimatum zur Rückkehr.

Ehrl-König kehrt zurück und gesteht Affäre.

Hans Lach wird freigesprochen.

Der Autor verfasst ein Buch über seine Leidensgeschichte.
„Tod eines Kritikers“
Ein Schlüsselroman
„Eine Parodie Marcel Reich-Ranickis“

Walser selbst bestätigt MRR als Vorlage genutzt zu haben

Name aus drei Bestandteilen, Bindestrich-Doppelnamen

Starker Akzent bei Protagonist wie Original

Mächtiger Star einer Fernsehsendung

Autobiographische Bezüge
„Tod eines Kritikers“
Ein Schlüsselroman
„kaum codiertes ‚Who is who‘ (...)“
Siegfried Unseld
im Roman: Ludwig Pilgrim
Ulla Unseld-Berkéwisz
im Roman: Julia Pelz
Jürgen Habermas
im Roman: Professor Wesendonck
Antisemitische Klischees?
Merkmale des Kritikers Andre Ehrl-König:

Hässlichkeit und Verschlagenheit

Machtgier und Machtmissbrauch

Intrigantentum

Heimatlosigkeit und Fremdheit

Medienkontrolle

unsterblich und unangreifbar
Täter-Opfer-Umkehr

Im Roman wird als Gerücht kolportiert, dass Ehrl-König
dem Inlandsgeheimdienst „Sûrete National“
zugearbeitet habe, „um zu überleben.“

Ehrl-König wird als verfolgter Jude dargestellt, nicht
aber als Überlebender des Holocaust (fehlende Logik).

Reich-Ranicki arbeitet im Warschauer Ghetto für den
Judenrat, was ihm und seiner Frau wahrscheinlich das
Leben gerettet hat.

Tätigkeit wird mit Kollaboration gleichgesetzt.
Täter-Opfer-Umkehr
Vorurteile:

„Judenräte lieferten ihnen anvertraute Menschen ans Messer, um
selbst davonzukommen.“

„Es überlebten nur diejenigen im Ghetto oder
Konzentrationslager, die am egoistischsten, brutalsten und
listigsten gewesen sind.

„Umdeutung des Opfers zum Täter“

„Demontage der Ausnahmestellung von Holocaustopfern.“
Ein Fazit:
„Ein moderner antisemitischer Roman“
„Die Intention, die hinter dieser fiktionalen Ebene
dieses Schlüsselromans aufscheint, ist die
Aufkündigung der „negativen Symbiose“ (Dan Dinner)
von Täter- und Opferkollektiv nach 1945, die
Rehabilitierung der Täter und damit einhergehend die
zielgerichtete moralische Demontage der Opfer. Gegen
diese Botschaft, die den Roman konsequent durchzieht,
fallen der vermeintliche Kritikermord und die
hasserfüllte Abrechnung eines Autors mit einem
Kritiker, der ihm geschadet hat, kaum ins Gewicht.“
Matthias N. Lorenz (S. 213)
Die öffentliche Debatte

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
Der offene Brief Frank Schirmmachers
Pressemitteilung des Suhrkamp-Verlages
Die erste Reaktion Martin Walsers
Kalkül Schirrmachers vs. Kalkül Walsers
Allgemeines
Äußerungen von Marcel Reich-Ranicki
Süddeutsche vs. FAZ
Reaktionen der Schriftsteller-Kollegen
Der offene Brief Frank Schirmmachers
29. Mai 2002

„Ihr Roman ist eine Exekution. Eine Abrechnung mit Marcel
Reich-Ranicki“

„Dokument des Hasses, (...) eine Mordphantasie“

Es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker,
(...). Es geht um den Mord an einem Juden.“

„Die Herabsetzungslust, die Verneinungskraft, das Repertoire
antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar, und wenn
´Andre Ehrl-König´ zu seinen Vorfahren auch Juden zählte,
darunter auch Opfer des Holocaust, dann ist ihr ´darunter´
besonders hervorhebenswert, als wäre die große Mehrheit der
europäischen Juden eben nicht Opfer gewesen.“
Der offene Brief Frank Schirmmachers

„Auf dem Hintergrund der Tatsche, dass Marcel Reich-Ranicki
der einzige Überlebende seiner Familie ist, halte ich den Satz
(„Umgebracht werden passt doch nicht zu Andre Ehrl-König“),
der das Getötetwerden oder Überleben zu einer
Charaktereigenschaft macht, für ungeheuerlich.“

Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit
spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie,
dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige
Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?“
Pressemitteilung des Suhrkamp-Verlages
Verlagsleiter Günter Berg äußert:

„Walser selbst hat eine Kopie an die FAZ geschickt“

„Das Buch ist in einem Zustand in der Welt, in dem wir es nie
in der Welt haben wollten. (...) Noch nicht zitierfähig.“

Veröffentlichung soll vorgezogen werden.

„Es wäre der FAZ angemessener gewesen, die gewiss
notwendige Diskussion um diesen Roman dann zu eröffnen,
wenn alle ihn in den Händen halten können.“
Reaktion Martin Walsers:
29. Mai 2002

„Ich hätte nie, nie, niemals gedacht, dass jetzt dieses Buch auf
den Holocaust bezogen wird. Verstehen Sie, dann hätte ich
dieses Buch niemals geschrieben.“

„Das Buch schildert die Machtausübung im Kulturbetrieb.“
03. Juni 2002

„Man kann nicht alles bloß einstecken, man muss zurückgeben,
und zwar in der eigenen Sprache.“
Kalkül Schirrmachers vs. Kalkül Walsers
Schirrmacher
 Medienwirtschaftliches Kalkül wird unterstellt
 Wirtschaftliche Rezession der Tageszeitung
 „Skandalnudel“ nutzvoller als „literarische Lichtgestalt“?
Walser
 Sollte Loyalitätskonflikt bei der FAZ provoziert werden?
 Sollte der Wirkungsort Reich-Ranickis der Ort der Walserschen
Rache werden?
 Walser bezeichnete die Übergabe an die FAZ als „naiv“.
Allgemeines:

Feuilletonisten, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler
waren sich ob der geringen literarischen Qualität einig.

Streitgegenstände der Feuilleton-Debatte waren die
moralische Zulässigkeit bzw. Verfehlung des Romans und das
verhalten Frank Schirrmachers.

Der Suhrkamp-Verlag verschob am 03. Juni seine
Entscheidung über das Buch um 48 Stunden.

Nochmalige Entscheidung das Buch (am 26. Juni) zu
veröffentlichen („Der Verlag hält an seiner Tradition fest.“)
Äußerungen von Marcel Reich-Ranicki
30.Mai 2002
 „Es ist wirklich ungeheuerlich.“
 „antisemitischer Ausbruch ist offenkundig“
 „Walser hat noch nie so schlecht geschrieben.“
 Forderung Suhrkamp solle das Buch nicht publizieren.
10. Juli 2002
 „Ich empfinde Verachtung und Angst“
 „Die oft beschworene Ära des Suhrkamp-Verlages ist
abgeschlossen, (...) der Verlag ist besudelt.“
 der angegriffene Kritiker zeigt sich zurückhaltend. Er halte
zwar nicht den Autor Walser, wohl aber dessen Roman für
antisemitisch.
Süddeutsche Zeitung vs. FAZ

Der Suhrkamp-Verlag verteilte am 30. Mai das Manuskript an
Medienvertreter.

Die Süddeutsche reagiert am 31. Mai:
• „Illoyalität der FAZ“
• „publizistischer Coup“
• „Ein nicht sehr gelungenes Buch des Ressentiments
gegen Marcel Reich-Ranicki, aber ein antisemitisches
Machtwerk ist dieser wütende Schlüsselroman nicht.“

FAZ ist am 01.07 sicher, dass „alle die Meinung dieser
Zeitung teilen“ (außer den Autoren der SZ, die aber
biografische Gründe haben).
Süddeutsche vs. FAZ

05.06. Die SZ geißelt das "inzestuöse Feuilleton".

04.06. Die SZ beklagt ein "Extrem der Skandalisierung".

In der SZ findet Joachim Kaiser "keinerlei Antisemitismus" im
Roman "Tod eines Kritikers“.

Nach der Auslieferung des Romans erscheinen Buchkritiken:
Jan Philipp Reemtsma wiederholt in der FAZ den
Antisemitismusvorwurf (27.Juni).
Reaktionen der Schriftsteller-Kollegen

Helmuth Karasek: "eine Wiederholung der Mordlust, mit der
Reich-Ranicki als Jude von den Nazis verfolgt wurde".

Ruth Klüger: „Lieber Martin, vor dem Hintergrund der
deutschen Geschichte, die sich nun einmal nicht ausklammern
läßt, ist die komische Wiederkehr des nur scheinbar
ermordeten Juden noch schlimmer als ein handfester Krimi mit
Leiche gewesen wäre“

Günter Grass: „Das ist eine widerliche Kampagne der FAZ. Oft
haben wir sehr verschiedene Ansichten, aber ein Antisemit ist
er nicht!“


Auch Sigrid Löffler äußert sich dezidiert pro Walser.
Jüngere Autorenkollegen (z.B. Hacker) kritisieren Walser.
Martin Walser
& „Political Correctness“

Der Roman „Ohne einander“ handelt von „Political
correctness“ bei der Behandlung der NS-Geschichte.

„Eine romanhaft eingekleidete Absage an die Tabuschranken
im jüdisch-deutschen Gespräch.“

Walser äußerst sich im Roman und ein Jahr später in dem
Essay „Über freie und unfreie Rede“ unmissverständlich
gegen jegliche Diskursreglementierung.

In der Paulskirchenrede 1998 kritisierte Walser die
„Instrumentalisierung des Holocaust.“ Auschwitz dürfe nicht
zur „Moralkeule“ verkommen.
Martin Walser
& „Political Correctness“

„Mit der Literaturkritik habe ich zu leben gelernt. Ich habe
aber nicht zu leben gelernt mit der Beschuldigungslust in
politischen Situationen.“

„Die Ära der hypermoralischen Söhne von
nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus. Diese
Kultur der Bezichtigung, in der der Angegriffene immer
schon der Verlierer war. Die Kultur des Verdachst und der
Bezichtigung! Hat diese Kultur existiert oder nicht?“
„Die Zeit“ (Nr. 25, 14.Juni 2007)
Literaturangaben:

Lorenz, Matthias N., Auschwitz drängt uns auf einen Fleck –
Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Verlag J.
Metzler, Stuttgart, Weimar, 2005

Wengeler, Martin, „1968, öffentliche Sprachsensibilität und political
Correctness“, in: Muttersprache – Vierteljahresschrift für deutsche
Sprache, GfdS (Hrsg.), Jahrgang 112, Dezember 2002

Ditzsch, Martin; Maegerle, Anton; Kampfbegriff aller Rechten:
„Political correctness“, www.uniduisburg.de/DISS/Internetbibliothek/Artikel/Kampfbegriff
(06.12.2006)

Lorenz, Matthias N., ´Political correctness´ als Phantasma – zu
Bernhard Schlinks ´Die Beschneidung´, in: Literarischer Antisemitismus
und Auschwitz, K.M. Bogdal et al. (Hrsg.), Verlag J. Metzler, 2007