Kompetenz des Literaturverstehens und ihre Förderung im

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Transcript Kompetenz des Literaturverstehens und ihre Förderung im

Kompetenzen des Literaturverstehens
und ihre Förderung im Unterricht
der Sekundarstufe II
Tatjana Jesch
Fachtagung Deutsch
am Landesinstitut für Lehrerbildung Hamburg
25.09.2010
Was Sie erwartet:
1.
Kommunikationsmodell fiktionaler Texte
2.
Phasen der Textevokation
3.
Prozessorientierung im Literaturunterricht:
Pre-, while- und post-reading-Phasen
4.
Literatur-Lesestrategien als while- und post-reading activities
5.
Task-Based-Learning:
Lektüre-Reflexion und Interpretationsphasen durch post-reading activities
1.
Kommunikationsmodell fiktionaler Texte
2.
Phasen der Textevokation
Phasen der kognitiv-affektiven Textevokation
(nach Rosenblatt 1994, Benton/Fox 1985, Delanoy 2004)
feeling like reading
Leselust
wichtig für Leseerfolg
getting into the text
Eintritt in die fiktive Welt
bedarf der vorherigen Prüfung
living through the text
Durchleben des fiktiven Geschehens
störungsanfällig: Gefahr des Ausstiegs
getting out of the text
Austritt aus der fiktiven Welt
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
vorzeitig bzw. nach unverständiger oder
verständiger Gesamtlektüre
3.
Prozessorientierung im Literaturunterricht:
Pre-, while- und post-reading-Phasen
3 Phasen im prozessorientierten Literaturunterricht
(nach Nünning / Surkamp 2008)
Pre-reading phase
Pre-reading activities
Einstimmung, Motivation, Vorwissen
While-reading phase
While-reading activities
Textverständnis, Text-Leser-Interaktion
Post-reading phase
Post-reading activities
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
Lektüre-Reflexion, Analyse, Interpretation
4.
Literatur-Lesestrategien als while- und post-reading activities
Lesestrategietraining
Typischer Stundenverlauf:
1 L: Instruktion zur
Strategieanwendung
2 S: Strategieanwendung in
Einzelarbeit
L: Unterstützung bei Bedarf
3 S: Strategieanwendung in
Partnerarbeit (Tandem)
4 Ergebnissicherung und
Lehrer-Schüler-Gespräch
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
Unzuverlässiges Erzählen
• Als Begriff eingeführt durch Wayne C. Booth in Rhetoric of Fiction
(1961)
• Nicht vertrauenswürdigem Erzähler zugeschrieben, der Figuren und
Geschehen abweichend von der Aussagetendenz des impliziten Autors
darstellt und/oder bewertet
• Beispiel:
„Ich beugte mich über die Reling und winkte einen der Bootsmänner
herbei. ‚How much? Wie viel? Combien?‘ ‚Cinquecento!‘ rief der Alte
zurück. ‚Hahaha!‘ Ich stieß ein selbstbewusstes Lachen aus:
‚Sechstausend Lire und keinen Peso mehr!‘ “
(Ephraim Kishon, Der seekranke Walfisch)
Teilkompetenz ‚Unzuverlässigkeit verstehen‘:
Ansatz zur Förderung
Ziel:
• Erkennen von
Unzuverlässigkeit
Lesestrategien als Methoden:
• Markiere fragwürdige Aussagen
des Erzählers!
Was ist an den markierten
Aussagen fragwürdig?
Vergleiche sie mit dem Text!
Vergleiche sie mit deinem
Wissen!
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
Erwartungsbruch
• Begriff „Ereignis“ eingeführt durch Jurij Lotman in Die Struktur
literarischer Texte (1972)
• Erzählwürdigkeit durch Erwartungsbruch
• Verknüpfung der Ereignistheorie mit der Schematheorie
• Literarische Gattungsschemata und Erwartungsbruch
• Beispiel:
Dreifache Wiederholung mit Variation im Volksmärchen
„Die drei kleinen Schweine“
Teilkompetenz ‚Erwartungsbruch verstehen‘:
Ansatz zur Förderung
Ziel:
• Erkennen von
Erwartungsbrüchen
Lesestrategien als Methoden:
• Denke dir an spannenden
Stellen eine Fortsetzung aus!
Lies weiter und markiere die
Unterschiede zu deiner
Fortsetzung!
Wie bist du auf deine
Fortsetzung gekommen?
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
Perspektive
David S. Miall u. Don Kuiken:
Shifting Perspectives: Readers‘ Feelings
and Literary Response (2001)
In: Willie van Peer u. Seymour Chatman
(Hg.): New Perspectives on Narrative
Perspective
Empirische Methoden:
Narrative Perspektivwechsel fordern vom
Leser eine perspektivische Modifikation
seines Situationsmodells.
Es gibt u. a. eine emotionale Perspektive
und emotionale Perspektivwechsel.
Die Involviertheit und Empathie des Lesers verwischen die Grenze zwischen
seiner Emotion und der entsprechenden
textinhärenten emotionalen Perspektive.
•Lautes Denken zur Beobachtung
kognitiver und emotionaler Prozesse
beim Lesen
Es gibt u. a. eine ästhetische Perspektive
und ästhetische Perspektivwechsel.
•Rating von Textsegmenten nach
emotionaler Qualität
Die ästhetische Perspektive und deren
Wechsel verstärken die emotionale Perspektive und damit die Emotionalität des
Lesers.
•Messung der Lesezeit als Indikator
kognitiver und emotionaler
Beanspruchung
Emotion motiviert den Leser zu interpretativer Kohärenzbildung und zur Modifikation seines Situationsmodells .
Beispiel:
Kurt Marti:
Neapel sehen (1960)
Er hatte eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus seinem häuslichen Blickkreis. Er
hasste die Fabrik. Er hasste die Maschine, an der er arbeitete. Er hasste das Tempo der Maschine, das er selber
beschleunigte. Er hasste die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu einigem Wohlstand, zu Haus und
Gärtchen gebracht hatte. Er hasste seine Frau, sooft sie ihm sagte, heut Nacht hast du wieder gezuckt. Er hasste
sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der
Arbeit. Er hasste den Arzt, der ihm sagte, Sie müssen sich schonen, Akkord ist nichts mehr für Sie. Er hasste den
Meister, der ihm sagte, ich gebe dir eine andere Arbeit, Akkord ist nichts mehr für dich. Er hasste so viele
verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen kleineren Zahltag, denn immer war das die
Hinterseite von so viel Rücksicht, ein kleinerer Zahltag. Dann wurde er krank, nach vierzig Jahren Arbeit und
Hass zum ersten Mal krank. Er lag im Bett und blickte zum Fenster hinaus. Er sah sein Gärtchen. Er sah den
Abschluss des Gärtchens, die Bretterwand. Weiter sah er nicht. Die Fabrik sah er nicht, nur den Frühling im
Gärtchen und eine Wand aus gebeizten Brettern. Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau, es steht jetzt alles
in Blust. Er glaubte ihr nicht. Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das kommt schon wieder. Er glaubte ihm
nicht. Es ist ein Elend, sagte er nach drei Wochen zu seiner Frau, ich sehe nur immer das Gärtchen, sonst nichts,
das ist mir zu langweilig, immer dasselbe Gärtchen, nehmt einmal zwei Bretter aus dieser verdammten Wand,
damit ich was anderes sehe. Die Frau erschrak. Sie lief zum Nachbarn. Der Nachbar kam und löste zwei Bretter
aus der Wand. Der Kranke sah durch die Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. Nach einer Woche beklagte
er sich, ich sehe immer das gleiche Stück Fabrik, das lenkt mich zu wenig ab. Der Nachbar kam und legte die
Bretterwand zur Hälfte nieder. Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte das Spiel des
Rauches über dem Schlot, das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am Morgen, das
Aus am Abend. Nach vierzehn Tagen befahl er, die stehengebliebene Hälfte der Wand zu entfernen. Ich sehe
unsere Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er sich. Der Nachbar kam und tat, wie er wünschte. Als er
die Büros sah, die Kantine und so das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des Kranken. Er
starb nach einigen Tagen.
Teilkompetenz ‚Perspektive verstehen‘:
Ansatz zur Förderung
Ziel:
Lesestrategien als Methoden:
Rekonstruktion der sprachlichästhetischen Perspektive
• Wessen Sprachstil prägt den Text?
• Wie verändert sich die Sprache?
• Welche Wirkung hat die Sprache auf mich?
• Was macht die Sprache wirkungsvoll?
Ermittlung der
emotionalen Perspektive
• Wessen Gefühle bestimmen den Text?
• Was für Gefühle sind das?
• Wie verändern sich die Gefühle?
• Welche Wirkung haben die Gefühle auf mich?
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
5.
Task-Based-Learning:
Lektüre-Reflexion und Interpretationsphasen durch post-reading activities
Task-Based-Learning: Beispiel für post-reading activities
(angelehnt an Delanoy 2004)
Interesse:
hoch
mittel
gering
vor dem
Lesen
während
Kapitel 1
während
Kapitel 2
…
nach dem
Lesen
Wenn du mit dem Lesen fertig bist, kreuze an, wie stark dein Interesse am
Textinhalt in den angegebenen Phasen war. Notiere kurz zu jedem Kreuz, warum
dein Interesse hoch, mittel oder gering war.
Bringe die ausgefüllte Tabelle und die Notizen in die nächste Stunde mit, um die
Entwicklung deines Interesses mit den Ergebnissen deiner Mitschüler vergleichen
zu können. So haben wir eine Grundlage für ein Gespräch über den Text.
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
Funktionen der Task …
… in den Interpretationsphasen:
… durch die Methoden und Effekte:
(nach Nissen 1982, 1984 u. Delanoy 2004)
(nach Delanoy 2004)
1
2
3
4
• Bestandsaufnahme
• Modifikation
• Nukleation
• Transfer
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
1
2
3
4
• Gruppenarbeit über Textevokation
• wechselseitige Beeinflussung
• Zusammenfassung und Präsentation
• Interpretationsgespräch
Erträge der Task aus den 4 Interpretationsphasen:
(nach Delanoy 2004)
1
2
3
4
• Anknüpfung an das Vorverständnis der Schüler
• Beginn der Interpretation
• Interaktive Ausdifferenzierung der Erstinterpretation
• Auskunft über Leseinteressen und -probleme der Schüler
• Feedback für die Lehrkraft
• Erarbeitung von ersten Kerngedanken der Interpretation
• Weiterentwicklung der Interpretation im Unterrichtsgespräch
• Vorbereitung weiterer Zyklen aus Modifikation, Nukleation und Transfer
© 2010 Tatjana Jesch, Freiburg
Schönen Dank fürs Zuhören!