Schuld und Versöhnung in der Psychiatrie und Psychotherapie

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Transcript Schuld und Versöhnung in der Psychiatrie und Psychotherapie

„Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist
schwach“ (Mt26,41)
Dr. med. Fritz Handerer
Frau Maria Krause
Ökumenisches Hainich Klinikum in Mühlhausen /
Thüringen
Ein Polizist gibt sich die
Schuld, dass er einen
Menschen erschossen hat.
Mit 51 ist er in Frührente.
Eltern geben sich die
Schuld am Tod ihres 2jährigen Kindes, das von
der Pflegemutter zu Tode
geschüttelt wurde.
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„Jeder Klaps ist Demütigung!“
Hier liegt die Ursache für alle
späteren Probleme
Anforderung an einen Therapeuten:
•Die Freiheit, sich über die
Grausamkeiten
ihrer
Eltern
zu
empören und NICHT neutral zu
bleiben, wenn Sie ihre Geschichte
erzählen.
• Die Fähigkeit, Ihnen empathisch
beizustehen, wenn Sie endlich ihren
Zorn
erleben
und
ausdrücken
können, den Sie Jahrzehnte lang aus
Angst vor der Strafe zurückgehalten
haben.
• Ihnen nicht Vergessen, Vergebung,
Meditation, positives Denken … zu
empfehlen und auf diese Weise ihre
Schuldgefühle noch zu steigern.
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„Das Gefühl von Schuld ist das Auftreten von
selbstbestrafenden, selbstkritischen
Empfindungen der Reue und Angst nach einer
Verletzung der kulturellen Normen.“ (Lawrence
Kohlberg).
„Schuldgefühl ist eine Reaktion auf Vergehen und
persönliches Fehlverhalten, die in der Regel mit
Bedauern verbunden ist. Indem das Schuldgefühl
zu einem Ausgleich und Wiedergutmachung
beiträgt, stärkt es die Bindung in bedrohten
sozialen Beziehungen und den Zusammenhalt in
der Gruppe (Baumeister & Leary, 1995).“
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Basisschuldgefühl:
Ich bin schuld weil es mich gibt.
Schuld aus Vitalität:
Erfolg bedeutet Übertreffen
Am Leiden leiden
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Traumatische Schuldgefühle
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Alexithymie – die Seelenblindheit des stets
Schuldlosen
Schuld geht einher mit Angst vor Strafe,
die ICH nicht abwenden kann
(Kierkegaard)
„Das habe ich getan“ sagt mein
Gedächtnis „Das kann ich nicht getan
haben“ sagt mein Stolz und bleibt
unerbittlich. Endlich – gibt das
Gedächtnis nach (Nietzsche; Jenseits
von Gut und Böse)
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Kognitiv (ständiges Grübeln, Wertlosigkeit)
Emotional (Schmerz, Trauer,
Niedergeschlagenheit, Angst vor Strafe und
Verurteilung)
Verhalten (Ausweichen und Vermeiden,
übermäßige Unterwürfigkeit, übermäßige
Fürsorglichkeit, Selbstkasteiung)
Körpersymptome (vgl. Psalmen)
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Ablösung vom kollektiven Unterbewußtsein
Abspaltung der Schatten als potentiell
gefährliche Teile der Persönlichkeit
Völliges verschmelzen mit der „Persona“ als
scheinbares ICH
Jesu Annahme der Sünde ist Vorbild der
Annahme der dunklen Schatten – des Bruders
Raka – in uns.
Nunner-Winkler (1993):
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Kindern zwischen 4 und 9 Jahren werden Bildergeschichten
gezeigt, in denen es um Konflikte zwischen moralischen
Normen und persönlichen Bedürfnissen geht.
Vorab wird die Kenntnis der relevanten Gebote und Verbote
geprüft. Außerdem wird nach dem Normverständnis und
der Normbegründung gefragt (=moralisches Wissen)
AV: Wie fühlen sich die Kinder in den Bildergeschichten,
wenn sie die Norm übertreten haben oder ihr entsprochen
haben? (=moralische Motivation)
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Nunner-Winkler (1993):

Unmoralisches Verhalten führt zu gutem
Gefühl:
4-5 Jahre: 60%
6-7 Jahre: 50%
8-9 Jahre: 30%
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Nunner-Winkler (1993):
65,00%
62,50%
60,00%
57,50%
55,00%
52,50%
50,00%
47,50%
45,00%
42,50%
40,00%
37,50%
35,00%
32,50%
30,00%
27,50%
25,00%
4-5 Jahre
6-7 Jahre
8-9 Jahre
Unmoralisches
Verhalten führt zu
gutem Gefühl
Unmoralisches
Verhalten führt zu
schlechtem gefühl
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Nunner-Winkler (1993):

Fazit: Die moralische Motivation wächst mit
dem Alter!
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
Das moralische Selbst entwickelt sich in
zwei Schritten:
1. Durch die Fähigkeit zur Empathie wird
Kindern bewusst, dass ihre Handlungen
Auswirkungen auf andere haben.
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
Das moralische Selbst entwickelt sich in
zwei Schritten:
1. Durch die Fähigkeit zur Empathie wird
Kindern bewusst, dass ihre Handlungen
Auswirkungen auf andere haben.
2. Außerdem wird Kindern die Bewertung
durch andere bewußt.
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Eine todkranke Frau litt an Krebs. Es gab ein
Medikament das sie retten könnte. Ein Apotheker
hatte es kurz zuvor entdeckt. Das Medikament
war teuer in der Herstellung, der Apotheker
verlangte aber ein Vielfaches seiner Kosten.
Heinz, der Ehemann der kranken Frau, borgte von
allen Bekannten Geld, brachte aber nur die Hälfte
des Preises zusammen. Nach ergebnislosen
Verhandlungen mit dem Apotheker brach Heinz
in die Apotheke ein und stahl das Medikament für
seine Frau.
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Ist es richtig, dass Heinz das Medikament stiehlt?
Warum ist es so wichtig, das Leben der Frau zu
retten?
Wäre der Diebstahl ebenso gerechtfertigt, wenn
der Kranke ein Fremder wäre?
Wäre der Diebstahl ebenso gerechtfertigt, wenn
er für ein Tier erfolgte?
Soll Heinz vom Richter verurteilt oder
freigesprochen werden?
Sollte der Apotheker bestraft werden?
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Stufe 1: Begründung durch drohende Strafen
und mächtige Autoritäten (10 LJ)
Stufe 2: Begründung durch eigenes
Interesse , Utilitarismus oder do ut des
(13 LJ)
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Stufe 3: Familie und Primärgruppen
-> face-to-face (16 LJ)
Stufe 4: Staat & Religionsgemeinschaft
-> generalized other (21 LJ)
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Stufe 5: Kulturabhängigkeit der Normen
wird erkannt, Gesellschaftsvertrag,
Utilitarismus, Gerechtigkeit, Demokratie,
Menschenrechte
-> universalized other (22 LJ)
Stufe 6: keine Normen, sondern Verfahren:
kategorischer Imperativ, Diskursehtik,
dabei Zwang des besseren Arguments
(selten)
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PSYCHOLOGIE HEUTE (08/2002)
„Es gibt kaum ein komplexeres und
wichtigeres psychologisches Thema als die
Psychodynamik der Vergebung. Immer sind
dabei unsere tiefsten Gefühle involviert, Liebe
und
Hass.
Die
Fähigkeit
oder
das
Unvermögen zu verzeihen prägt die Qualität
unseres sozialen Lebens und entscheidet
über unseren Seelenfrieden.“
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‣
Der erste Schritt: Vom Verleugnen und Verdrängen
zum Wahrnehmen und Annehmen des
Verletztseins.
- Gespräch / evt. Gebet
Der zweite Schritt: Von der Wut zum Verstehen.
- Abschied von der Opferrolle
- Vom Wunsch nach Vergebung zum Wunsch nach Frieden.
- Vom Zurückschauen und Erstarren zum Nach-vorne-Schauen
und Weitergehen.
‣ Der dritte Schritt: Die Entscheidung
- Heilung braucht Zeit
- Rituale sind hilfreich
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Manche sehen sich nicht in der Lage zu vergeben (z. B.
sexueller Missbrauch, fortdauerndes Unrecht)
Einfühlung – nicht verurteilen, mit dem Patienten mitgehen
Keine billige Vergebung (Pseudolösung) – bewusste
Distanzierung von Tätersuggestionen
Alternative: Annehmen der Unversöhnbarkeit, des Bruch in
meiner Biographie
Vergebung kann aber auch ein Weg sein, unbesiegt zu
sein: „Ich bin verletzt, aber ich gehe meinen Weg weiter!“
Den Täter lieben? Eine komplexe Forderung, die nicht
immer erfüllt werden kann.