Besondere Skrupellosigkeit - Institut für Strafrecht und Kriminologie

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Strafrecht BT
Tötungsdelikte (Fortsetzung)
Vorlesung vom 4. Oktober 2010
HS 2010
Jonas Weber
Institut für Strafrecht und Kriminologie
Universität Bern
bitte beachten Sie
• am Montag, 11. Oktober 2010, fällt die
Vorlesung aus
• für Minor-Studierende ist die Vorlesung
BT I 1. Teil (Herbstsemester) sowie die
Übungen (Klausurenkurs) im Frühjahrsemester obligatorisch
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 2
Mord (Art. 112) – Tatbestand
Mord (Art. 112)
=
Vorsätzliche Verursachung des Todes
eines anderen Menschen (Art. 111)
plus
besonders
skrupelloses Handeln
Subjektive Indikatoren:
- Beweggrund
- Zweck
- ...
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Objektive Indikatoren:
- Art der Ausführung
- ...
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 3
Mord (Art. 112) – Qualifizierendes Merkmal:
Besondere Skrupellosigkeit
> muss unmittelbar aus der Straftat selbst hervorgehen (Qualifikation der Tat)
- grundsätzlich nicht zu berücksichtigen: Verhalten des Täters vor oder nach der
Straftat; Vorleben etc.
- keine Bewertung des Charakters oder der Persönlichkeitsmerkmale des Täters, soweit
diese nicht in der Tat selbst zum Ausdruck kommen
> Gesamtbewertung der äusseren (= objektiven) und inneren (= subjektiven)
Umstände, unter denen der Täter im konkreten Fall gehandelt hat
- alle empirisch feststellbaren Gegebenheiten sind für Gesamtbewertung
heranzuziehen; insbesondere eine psychiatrische Begutachtung
> Art. 112 mit exemplarischer (nicht abschliessender) Aufzählung von Indizien, die
besondere Skrupellosigkeit begründen können: "verwerflicher Beweggrund,
verwerflicher Zweck, verwerfliche Ausführung"
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 4
Mord (Art. 112) – Übersicht: Indikatoren für
besonders skrupelloses Handeln
Besonders skrupelloses Handeln
im Sinne von Art. 112
Subjektive Indikatoren
Objektiver Indikator
(täterbezogen; Handlungsunwert)
(tatbezogen; Erfolgsunwert)
Regelbeispiele gemäss Art. 112
(besonders verwerflicher)
Beweggrund
•
•
•
•
•
•
Habgier
Rache
Hass
fundament. od. polit.
Mordlust
Sexuelle Befriedigung
(bes. verwerflicher)
Zweck
• Extremer Egoismus (Elimination)
• Verdeckung einer
Straftat
• Erbmord
(besonders verwerfliche)
Tatausführung
• ausserordentl.
Grausamkeit
• Heimtücke
• Gift, Feuer, etc. (???)
• unbeteiligte Drittpersonen als Opfer
Fallgruppen aus der Praxis
weitere Indikatoren/Indizien: Umsicht und Planung; besondere Kaltblütigkeit
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 5
Mord (Art. 112) – Subjektiver Tatbestand
> Mord kann auch eventualvorsätzlich begangen werden
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 6
Totschlag (Art. 113) – Allgemeines
Art. 113: Totschlag
Handelt der Täter in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen
Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung, so ist die Strafe
Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
> Definition: Totschlag = vorsätzliche Tötung im Zustand einer entschuld-
baren heftigen Gemütsbewegung (Affekt) oder grossen seelischen
Belastung
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 7
Totschlag (Art. 113) – Tatbestand
Totschlag (Art. 113)
=
Vorsätzliche Verursachung des Todes
eines anderen Menschen (Art. 111)
plus
bestimmter entschuldbarer
Gefühlszustand
heftige Gemütsbewegung (Affekt)
grosse seelische Belastung
• akute Drucksituationen mit starker Gefühlsregung, welche die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und im Extremfall auch die
intellektuelle Fähigkeit bis hin zur Zurechnungsunfähigkeit beeinträchtigen
(BGE 118 IV 236)
• Mögliche Gründe für Affekt: Wut, Zorn, Eifersucht, Verzweiflung, Angst, Bestürzung
• Zwangslagen, Erschöpfungssituationen
• Bsp.: Tötung eines unheilbar
Kranken durch einen Angehörigen, der dessen Leiden nicht
länger erträgt
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oder
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 8
Totschlag (Art. 113) – Entschuldbarer
Gefühlszustand
> Gefühlszustand (Affekt oder grosse seelische Belastung) als
Ausnahmezustand muss unmittelbar vor oder während der Tat
bestanden haben.
> Entscheidend für die Privilegierung gemäss Art. 113: Entschuldbarkeit
der heftigen Gemütsbewegung bzw. der grossen seelischen Belastung
- Wichtig: nicht die Straftat selbst muss entschuldbar sein, sondern der
psychisch-seelische Ausnahmezustand
- Massstab: Durchschnittsperson (siehe etwa BGE 107 IV 206); Entstehung
der heftigen Gemütsbewegung muss verständlich erscheinen
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 9
Fall: BGE 127 IV 10 vom 14. Dez. 2000
X, Vater von 5 Kindern, wuchs in einem anatolischen Bergdorf auf und emigrierte 1988 in die Schweiz, wo
ihm und seiner Familie eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen erteilt wurde. Integrationsschwierigkeiten, die prekären Wohnverhältnisse der siebenköpfigen Familie in einer 2-Zimmer-Wohnung
und die Arbeit in einem Spätschichtbetrieb führten zu einer "Anpassungsstörung mit Krankheitswert" (ICD10 F43.2). Ab 1992 entwickelte sich neben dem Kultur- ein Generationenkonflikt mit der ältesten, im
Dezember 1976 geborenen Tochter. Deren Kontakte zu einem jungen Mann veranlassten X zu einer
"Rekurdisierung" der Familie und insbesondere der Tochter, die er u.a. mit dem Tode bedrohte. Die Tochter
ging den Auseinandersetzungen möglichst aus dem Weg, liess sich aber die Freiräume in ihrem
schweizerischen Beziehungsnetz nicht nehmen.
X, der erkannte, dass seine häufigen Drohungen nicht ernst genommen wurden, verprügelte sie 1995
brutal, als er sie zusammen mit einem eine Drogenspritze ansetzenden Mann sah. Im gleichen Jahr
erzwang er während eines Ferienaufenthaltes die Verheiratung seiner Tochter mit einem Cousin. Anders
als er es sich vorgestellt hatte, waren die Probleme mit der traditionellen Kusinenheirat jedoch nicht gelöst,
zumal die Ehe nicht vollzogen wurde, weil der Ehemann nicht in die Schweiz einreisen konnte. X war der
Gedanke, dass seine inzwischen verheiratete Tochter mit anderen Männern gesehen wurde, unerträglich.
Die Verwandten seines Schwiegersohnes warfen ihm Verrat vor, so dass er im Sommer 1996 dessen
illegale Einreise in die Schweiz organisierte. Auch dieser Versuch erwies sich als Fehlschlag: Die eheliche
Gemeinschaft kam trotz des ausgeübten Druckes nicht zustande.
X wurde es zur Gewissheit, dass dieser Skandal bekannt und ihn der Lächerlichkeit und Entehrung preisgeben würde. In der dadurch ausgelösten chronischen psychosozialen Dauerbelastung tötete er in Abwesenheit seiner hospitalisierten Ehefrau, die jeweils vermittelnd eingegriffen hatte, am Morgen des 19. Juni
1996 seine älteste Tochter bei einer verbalen Auseinandersetzung in der Küche mit einem zufällig dort
liegenden Küchenmesser. Er verliess hierauf die Wohnung und rief aus einer Telefonkabine den Bruder
seiner Frau in der Türkei und eine Familie aus seinem Bekanntenkreis in der Schweiz an und teilte ihnen
mit, dass er die Tochter umgebracht habe. Dann stellte er sich der Polizei.
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 10
Tötung auf Verlangen (Art. 114) – Allgemeines
Art. 114: Tötung auf Verlangen
Wer aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, einen Menschen auf
dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen tötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
> Definition: Tötung auf Verlangen ist die vorsätzliche Tötung eines anderen
Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen aus
achtenswerten Beweggründen, namentlich Mitleid.
> "ernsthaftes und eindringliches Verlangen des Opfers"
- Zeichen für erloschenen Lebenswillen des Opfers; daher erscheint Unrecht
der Tötung reduziert (= Begründung der Privilegierung)
> Unterscheidung zwischen Tötung auf Verlangen und Suizidhilfe:
Kriterium der Tatherrschaft
- Tötung auf Verlangen: Tatherrschaft liegt beim Täter
- Suizidhilfe: Tatherrschaft liegt beim "Opfer" (= Person, die sich das Leben
nehmen will)
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 11
Tötung auf Verlangen (Art. 114) – Tatbestand
Tötung auf Verlangen
(Art. 114)
=
Vorsätzliche Verursachung des Todes
eines anderen Menschen (Art. 111)
plus
ernsthaftes und eindringliches Verlangen
des Opfers
(Merkmal des objektiven Tatbestands)
• = qualifizierte Einwilligung des urteilsfähigen
Opfers (wohlüberlegt; ausdrücklich und unmissverständlich erklärt)
• eindringliches Verlangen: beharrliches, sehr
intensives Bitten, das auf den Täter einen
eigentlichen Druck ausübt
• ernsthaftes Verlangen: hinreichend urteilsfähige
Person; darf nicht auf Irrtum oder Zwang beruhen und nicht einer vorübergehenden (depressiven) Verstimmung entspringen
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
achtenswerte
Beweggründe
(Merkmal des subj. TB)
und
• insbesondere Mitleid
(= Bsp. im Gesetzeswortlaut)
Vorsatz
insb.:
• Wissen um das ernsthafte und
eindringliche Verlangen des
Opfers
• Handeln wegen dieses
Verlangens des Opfers
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 12
Kindestötung (Art. 116)
Art. 116: Kindestötung
Tötet eine Mutter ihr Kind während der Geburt oder solange sie unter dem Einfluss des
Geburtsvorganges steht, so wird sie mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
Geldstrafe bestraft.
> Definition: Kindestötung i.S.v. Art. 116 ist die vorsätzliche Tötung des eigenen
Kindes durch die Kindsmutter während der Geburt (= Abgrenzung von der
Abtreibung) oder unter dem Einfluss des Geburtsvorgangs.
- Sonderdelikt: als Täterin kommt nur die Mutter in Frage
- Tatobjekt: neugeborenes Kind der Täterin
- während der Geburt: nach Einsetzen der Eröffnungswehen (vorher:
Abtreibung)
- gleich nach der Geburt: psychologisch zu verstehen; entscheidend: Die
durch die Geburt hervorgerufene Gemütsbewegung hält noch an.
> Begründung der Privilegierung: Einfluss des Geburtsvorgangs; gesetzliche
Vermutung einer Verminderung der Zurechnungsfähigkeit der Mutter
(Herabsetzung der Schuld)
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 13
Kindestötung (Art. 116) – Besonderheiten
> fahrlässige Kindestötung: fährlässige Tötung gemäss Art. 117
> Teilnehmer an Kindestötung: Bestrafung gemäss Art. 111; Geburtseinfluss als
persönlicher Umstand i.S.v. Art. 27
> Mutter als Teilnehmerin an der von einer anderen Person begangenen Tötung
ihres Kindes: Bestrafung gemäss Art. 116
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 14
Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord
(Art. 115) – Allgemeines
Art. 115: Verleitung und Beilhilfe zum Selbstmord
Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm
dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
> Selbsttötung: Betroffener verursacht seinen eigenen Tod; alleinige
Tatherrschaft des Betroffenen
> grundsätzlich ist Selbsttötung bzw. versuchte Selbsttötung straflos
- Theoretische Konsequenz aus den allgemeinen Zurechnungsregeln:
Teilnahme (Anstiftung oder Gehilfenschaft) an Selbsttötung wäre ebenfalls
straflos
- Art. 115: Ausnahme zur allgemeinen Regel; inhaltlich keine Privilegierung
einer vorsätzlichen Tötung, sondern eigenständiger Tatbestand
- Anknüpfung der Strafbarkeit an "selbstsüchtige Beweggründe"
- Charakterisierung von Art. 115: Teilnahme an einer nicht tatbestandsmässigen Selbsttötung (eines anderen), aus selbstsüchtigen
Beweggründen
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 15
Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115)
– Tatbestand
> objektiver Tatbestand
- keine Tatherrschaft beim "Sterbehelfer"; sonst Art. 114 oder gar
Art. 111
- Voraussetzungen der Tatherrschaft des Betroffenen: Zurechnungsfähigkeit
des Betroffenen
- Selbsttötung muss zumindest versucht worden sein; versuchte Verleitung
ist nicht strafbar (Art. 115 als abschliessende Regelung der strafbaren
Beteiligung an einer eigenverantwortlich begangenen Selbsttötung)
- Tathandlung: verleiten (= Anstiftung im Sinne von Art. 24) oder Hilfe leisten
(= Gehilfenschaft im Sinne von Art. 25)
> subjektiver Tatbestand
- Vorsatz: dolus eventualis ausreichend
- Selbstsüchtige Beweggründe
– finanzielle Motive
– andere Motive wie etwa Befriedigung von Rachsucht, Hass,
Boshaftigkeit
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 16
Fall: BGer-Urteil 6B_48/2009 vom 11. Juni 2009
Dr. med. X., Psychiater mit Praxis in Zürich, war während geraumer Zeit als verschreibender Arzt und Mitglied der EthikKommission bei der Sterbehilfeorganisation Exit tätig. Seit einigen Jahren ist er über die Medien in der Öffentlichkeit
bekannt und umstritten, weil er sich unter anderem für die Suizidbeihilfe auch an psychisch Kranken einsetzt.
Der im Jahr 1955 geborene und seit 1982 als Postbeamter tätig gewesene A. wurde 1986 infolge psychischer Erkrankung
arbeitsunfähig und bezog seit 1987 eine 100%ige IV-Rente. Im Jahr 1986 hielt er sich einige Monate in der Psychiatrischen Klinik Solothurn auf. Im Dez. 1986 unternahm er einen Suizid-Versuch durch Aufschneiden der Pulsadern. Sein
Todeswunsch wurde in der Folge immer stärker. Weitere Suizidversuche unternahm der körperlich gesunde A. allerdings
nicht. Eine Behandlung seiner psychischen Krankheit durch Therapien und/oder Medikamente lehnte er ab. Er wandte
sich zwecks Suizid-Beihilfe an verschiedene Ärzte und an die Organisation Exit, welche ihn aber abwiesen, da ihm
gegenüber eine Sterbehilfe ausser Betracht falle. Schliesslich gelangte A. an X. persönlich, welchen er am 4. April 2001 in
dessen Praxis in Zürich aufsuchte. Dabei übergab er X. ein handschriftliches Schreiben, worin er in einigen Sätzen seine
Befindlichkeit beschrieb, worauf der Beschwerdeführer mit ihm ein rund 2-stündiges Gespräch führte. Am 9., 10., 11. und
18. April 2001 fanden Telefongespräche zwischen A. und dem Beschwerdeführer von jeweils zirka einer halben Stunde
Dauer statt. Es wurde vereinbart, dass der begleitete Suizid am 20. April 2001 in der Wohnung von A. in Basel
durchgeführt werde. Das Geschehen am 20. April 2001 von 13.10 bis 15.18 Uhr zeichnete X. mit einer Videokamera in
Wort und Bild auf. Mehrere Suizidversuche unter Verwendung der von X. mitgebrachten und eigens präparierten MalerAtemschutzmaske, deren Filterstück mit Natronkalk versetzt war, schlugen fehl, unter anderem, weil A. massive Probleme
mit der als sehr quälend empfundenen Atemnot hatte. In der Folge wurde der Suizid unter Verwendung von Lachgas
(N2O) durchgeführt, welches X. sich zunächst noch beschaffte, indem er in einem Supermarkt zwei Rahmbläserflaschen
samt diversen Gaspatronen erwarb. X. füllte Lachgas aus drei Gaspatronen in einen transparenten Plastiksack. Er
befestigte diesen an dem mit Natronkalk versetzten Mundstück der genannten Atemschutzmaske und überreichte diese
A. Dieser atmete das Lachgas ein und starb nach wenigen Minuten. Todesursache war Ersticken durch eine
Sauerstoffunterversorgung des Gehirns, verursacht durch das Einatmen von N2O in Kombination mit dem Rückatmen es
ausgeatmeten CO2. Nachdem er den Tod von A. festgestellt hatte, avisierte X. telefonisch die Polizei Basel-Stadt. Er
wartete in der Wohnung von A. das Eintreffen der Beamten ab und gab diesen bereitwillig Auskunft.
Das gerichtlichen Gutachten von Prof. Dr. med. E vom 8. Juli 2005 kommt zum Schluss, dass A. zum Zeitpunkt seines
Entschlusses, mit Hilfe des X. aus dem Leben zu scheiden, an einer krankhaften Fehlbeurteilung der Realität gelitten
habe, indem er sich für unheilbar psychisch krank gehalten habe, was mangels einer adäquaten Therapie, die er,
wahrscheinlich ebenfalls krankheitsbedingt, abgelehnt habe, nicht den Tatsachen entsprochen habe. Damit seien eine
objektive Erkenntnis und Bewertungsfähigkeit nicht gegeben gewesen und habe nach forensisch-psychiatrischem
Ermessen Urteilsunfähigkeit vorgelegen.
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 17
Sterbehilfe
Sterbehilfe
Ärztliche
Sterbehilfe
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Sterbehilfeorganisationen
wie Exit oder Dignitas
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 18
Sterbehilfe: Sterbehilfeorganisationen
Sterbehilfeorganisationen
wie Exit oder Dignitas
Hilfeleistung für Sterbewillige durch Zurverfügungstellung
von tödlichen Stoffen und/oder Anleitung zur Selbsttötung
Konzept: Tatherrschaft beim Suizidenten; keine "tatherrschaftliche" Tötungshandlung durch den Sterbehelfer
Problem: Zurechnungsfähigkeit des Sterbewilligen (v.a.
bei psychisch Kranken)
Normalfall: Zurechnungsfähigkeit des
Sterbewilligen gegeben (Normalfall):
Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115)
selbstsüchtige Beweggründe?
• in der Praxis meist zu verneinen
• jedoch: Entschädigung für Hilfeleistung; Aufmerksamkeit in Medien und
Öffentlichkeit ("Geltungssucht")
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
bei fehlender Zurechnungsfähigkeit
des Sterbewilligen: Art. 115 und
Art. 114 scheiden aus;
anwendbar ist grundsätzlich Art. 111
Problem: evtl. Sachverhaltsirrtum
hinsichtl. Art. 115 (Irrtum über Zurechnungsfähigkeit des Sterbewilligen);
dann wohl Art. 116 fahrl. Tötung
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 19
Sterbehilfe: Ärztliche Sterbehilfe
Ärztliche Sterbehilfe
im Rahmen der ärztlichen Behandlung oder Betreuung;
bei unheilbarer Krankheit mit baldigem Todeseintritt;
reales od. mutmassliches Einverständnis des Betroffenen
Passive Sterbehilfe
(Unterlassen)
Verzicht auf lebensverlängernde Therapien;
nach h.L. auch Abbruch
von lebensverlängernden Therapien
nicht strafbar
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Aktive Sterbehilfe
(Handeln)
Indirekte
aktive Sterbehilfe
schmerzlinderde
Mittel mit Herabsetzung der Lebensdauer als Nebenwirkung
nicht strafbar
Direkte
aktive Sterbehilfe
zielgerichtete Tötung
zur Verkürzung des
Leidens
strafbar gemäss
Art. 114
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 20
Fahrlässige Tötung (Art. 117) – Allgemeines
Art. 117: Fahrlässige Tötung
Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis
zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
>Tathandlung: fahrlässiges Verursachen des Todes eines anderen
- fahrlässig: pflichtwidrig unvorsichtig
–
Verstoss gegen eine Sorgfaltspflicht: besondere
(insbesondere gesetzlich geregelte) Sorgfaltspflichten und
allgemeine Grundsätze
–
besondere Sorgfaltspflichten: z.B. SVG
– allgemeine Grundsätze: z.B. allgemeiner Gefahrensatz
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 21
Fahrlässige Tötung (Art. 117) – Konkurrenzen
> zu Gefährdungsdelikten: echte Konkurrenz, wenn neben der verletzten
Person noch weitere Personen konkret gefährdet worden sind
- z.B.: Art. 90 SVG
Art. 90 SVG: Verletzung der Verkehrsregeln
1. Wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des
Bundesrates verletzt, wird mit Busse bestraft.
2. Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für
die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
3. (...)
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 22
Tötungsdelikte (Art. 111 - 117) – Strafmass
Vorsätzliche Begehung
Fahrlässige Tötung
(Art. 111 - 116)
(Art. 117)
FS 1 Tag bis 3 Jahre
Grundtatbestand:
Vorsätzliche Tötung (Art. 111)
FS 5 bis 20 Jahre
Qualifizierter
Tatbestand:
Mord (Art. 112)
Privilegierte Tatbestände:
- Totschlag (Art. 113)
FS 10 bis 20
Jahre oder
lebenslänglich
- Tötung auf Verlangen
FS 1 bis 10 Jahre
(Art. 114)
FS 1 Tag bis 3 Jahre
Sondertatbestand:
Verleitung und Bei-hilfe
zum Selbstmord (Art.
115)
FS 1 Tag bis 5 Jahre
- Kindestötung (Art. 116)
FS 1 Tag bis 3 Jahre
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 23
Tötungsdelikte – Strafmass
>
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Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 24