Art. 111 - Institut für Strafrecht und Kriminologie

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Strafrecht BT
Tötungsdelikte
Vorlesung vom 27. September 2010
HS 2010
Jonas Weber
Institut für Strafrecht und Kriminologie
Universität Bern
Straftaten gegen Leib und Leben (Erster Titel)
– Systematik
> Straftaten gegen Leib und Leben
- Tötungsdelikte (Art. 111 - 117)
- Schwangerschaftsabbruch (Art. 118 - 121)
- Körperverletzungsdelikte (Art. 122 - 126)
- Gefährdung des Lebens und der Gesundheit (Art. 127 - 136)
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte − Folie 2
Tötungsdelikte (Art. 111 - 117) – Systematik
Tötungsdelikte
(Art. 111 - 117)
Vorsätzliche Begehung
Fahrlässige Tötung
(Art. 111 - 116)
(Art. 117)
Grundtatbestand:
Vorsätzliche Tötung
(Art. 111)
Qualifizierter
Tatbestand:
Mord (Art. 112)
Privilegierte Tatbestände:
- Totschlag (Art. 113)
- Tötung auf Verlangen
(Art. 114)
Sondertatbestand:
Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord
(Art. 115)
- Kindestötung (Art. 116)
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Tötungsdelikte − Folie 3
Tötungsdelikte (Art. 111 - 117) – geschütztes
Rechtsgut; Charakterisierung
> geschütztes Rechtsgut: das menschliche Leben
> Angriffsobjekt: jeder lebende Mensch; jedes (geborene) menschliche
Leben
- auch der todkranke oder sterbende Mensch; grundsätzlich keine
Relativierung aufgrund von unterschiedlichen "Qualitäten" von Leben
(relevant insb. für rechtliche Würdigung der Sterbehilfe)
- ungeborenes (d.h. noch nicht geborenes) Leben: Schutz durch Art. 118
(Strafbarer Schwangerschaftsabbruch)
> Tötungsdelikte sind Erfolgsdelikte; Erfolg = Tod eines Menschen
> nicht strafbar: Selbsttötung und versuchte Selbsttötung
- strafbar ist jedoch unter bestimmten Umständen die Teilnahme an der
Selbsttötung (eines anderen): Art. 115
> entscheidende (Strafbarkeits-) Grenzen: Beginn und Ende des Lebens
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Tötungsdelikte − Folie 4
Tötungsdelikte (Art. 111 - 117) – Beginn des
menschlichen Lebens
> Beginn des menschlichen Lebens im Sinne der Tötungsdelikte: Beginn
des Geburtsvorgangs
- bei Spontangeburt
– h.M.: Beginn der Geburtswehen (= Eröffnungswehen)
– a.M.: Austritt mind. eines Körperteils aus dem Mutterleib
(Art. 116: Kindestötung
Tötet eine Mutter ihr Kind während der Geburt oder solange sie unter dem
Einfluss des Geburtsvorganges steht, so wird sie mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.)
- bei Kaiserschnitt
– h.M.: Öffnung des Uterus
– a.M.: Narkose
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Tötungsdelikte − Folie 5
Tötungsdelikte (Art. 111 - 117) – Ende des
menschlichen Lebens
> Ende des menschlichen Lebens: Tod
- Herz-Kreislauf-Tod: irreversibler Stillstand der Atmung und des
Kreislaufs (= klinischer Tod); oder
- Hirntod: vollständiger irreversibler zerebraler Funktionsausfall des
Gehirns einschliesslich des Hirnstammes
> Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften
(SAMW): Medizinisch-ethische Richtlinien zur Definition und
Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen
(vom 24. Mai 2005)
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Tötungsdelikte − Folie 6
Vorsätzliche Tötung (Art. 111)
Art. 111: Vorsätzliche Tötung
Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, ohne dass eine der besondern Voraussetzungen der nachfolgenden Artikel zutrifft, wird mit Freiheitsstrafe nicht
unter fünf Jahren bestraft.
> Töten (=Tathandlung): Tod eines anderen Menschen in objektiv
zurechenbarer Weise verursachen (Gewalt, List, ...)
> Taterfolg: Tod
> subjektiver Tatbestand: Vorsatz
- Eventualvorsatz reicht aus (besonders aktuell: Raserunfälle mit
Todesfolge; siehe etwa BGE 130 IV 58 und spätere BGE)
> Subsidiarität zu Art. 112 - 116
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Tötungsdelikte − Folie 7
Hinweis: Strafbare Vorbereitungshandlung
(Art. 260bis)
Art. 260bis: Strafbare Vorbereitungshandlung
1 Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer
planmässig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen trifft,
deren Art und Umfang zeigen, dass er sich anschickt, eine der folgenden
strafbaren Handlungen auszuführen:
Art. 111 Vorsätzliche Tötung
Art. 112 Mord
(…)
> Ausnahme zur allgemeinen Strafbarkeitsgrenze des Versuchs
= Vorverlagerung der Strafbarkeit
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Tötungsdelikte − Folie 8
Mord (Art. 112) – Tatbestand
Mord (Art. 112)
=
Vorsätzliche Verursachung des Todes
eines anderen Menschen (Art. 111)
plus
besonders
skrupelloses Handeln
Subjektive Indikatoren:
- Beweggrund
- Zweck
- ...
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Objektive Indikatoren:
- Art der Ausführung
- ...
Tötungsdelikte − Folie 9
Mord (Art. 112) – Qualifizierendes Merkmal:
Besondere Skrupellosigkeit
> muss unmittelbar aus der Straftat selbst hervorgehen (Qualifikation der Tat)
- grundsätzlich nicht zu berücksichtigen: Verhalten des Täters vor oder nach der
Straftat; Vorleben etc.
- keine Bewertung des Charakters oder der Persönlichkeitsmerkmale des Täters, soweit
diese nicht in der Tat selbst zum Ausdruck kommen
> Gesamtbewertung der äusseren (= objektiven) und inneren (= subjektiven)
Umstände, unter denen der Täter im konkreten Fall gehandelt hat
- alle empirisch feststellbaren Gegebenheiten sind für Gesamtbewertung
heranzuziehen; insbesondere eine psychiatrische Begutachtung
> Art. 112 mit exemplarischer (nicht abschliessender) Aufzählung von Indizien, die
besondere Skrupellosigkeit begründen können: "verwerflicher Beweggrund,
verwerflicher Zweck, verwerfliche Ausführung"
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Tötungsdelikte − Folie 10
Mord (Art. 112) – Übersicht: Indikatoren für
besonders skrupelloses Handeln
Besonders skrupelloses Handeln
im Sinne von Art. 112
Subjektive Indikatoren
Objektiver Indikator
(täterbezogen; Handlungsunwert)
(tatbezogen; Erfolgsunwert)
Regelbeispiele gemäss Art. 112
(besonders verwerflicher)
Beweggrund
•
•
•
•
•
•
Habgier
Rache
Hass
fundament. od. polit.
Mordlust
Sexuelle Befriedigung
(bes. verwerflicher)
Zweck
• Extremer Egoismus (Elimination)
• Verdeckung einer
Straftat
• Erbmord
(besonders verwerfliche)
Tatausführung
• ausserordentl.
Grausamkeit
• Heimtücke
• Gift, Feuer, etc. (???)
• unbeteiligte Drittpersonen als Opfer
Fallgruppen aus der Praxis
weitere Indikatoren/Indizien: Umsicht und Planung; besondere Kaltblütigkeit
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Tötungsdelikte − Folie 11
Mord (Art. 112) – Subjektiver Tatbestand
> Mord kann auch eventualvorsätzlich begangen werden
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte − Folie 12
Totschlag (Art. 113) – Allgemeines
Art. 113: Totschlag
Handelt der Täter in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen
Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung, so ist die Strafe
Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
> Definition: Totschlag = vorsätzliche Tötung im Zustand einer entschuld-
baren heftigen Gemütsbewegung (Affekt) oder grossen seelischen
Belastung
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte − Folie 13
Totschlag (Art. 113) – Tatbestand
Totschlag (Art. 113)
=
Vorsätzliche Verursachung des Todes
eines anderen Menschen (Art. 111)
plus
bestimmter entschuldbarer
Gefühlszustand
heftige Gemütsbewegung (Affekt)
grosse seelische Belastung
• akute Drucksituationen mit starker Gefühlsregung, welche die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und im Extremfall auch die
intellektuelle Fähigkeit bis hin zur Zurechnungsunfähigkeit beeinträchtigen
(BGE 118 IV 236)
• Mögliche Gründe für Affekt: Wut, Zorn, Eifersucht, Verzweiflung, Angst, Bestürzung
• Zwangslagen, Erschöpfungssituationen
• Bsp.: Tötung eines unheilbar
Kranken durch einen Angehörigen, der dessen Leiden nicht
länger erträgt
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oder
Tötungsdelikte − Folie 14
Totschlag (Art. 113) – Entschuldbarer
Gefühlszustand
> Gefühlszustand (Affekt oder grosse seelische Belastung) als
Ausnahmezustand muss unmittelbar vor oder während der Tat
bestanden haben.
> Entscheidend für die Privilegierung gemäss Art. 113: Entschuldbarkeit
der heftigen Gemütsbewegung bzw. der grossen seelischen Belastung
- Wichtig: nicht die Straftat selbst muss entschuldbar sein, sondern der
psychisch-seelische Ausnahmezustand
- Massstab: Durchschnittsperson (siehe etwa BGE 107 IV 206); Entstehung
der heftigen Gemütsbewegung muss verständlich erscheinen
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Tötungsdelikte − Folie 15
Tötung auf Verlangen (Art. 114) – Allgemeines
Art. 114: Tötung auf Verlangen
Wer aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, einen Menschen auf
dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen tötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
> Definition: Tötung auf Verlangen ist die vorsätzliche Tötung eines
anderen Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches
Verlangen aus achtenswerten Beweggründen, namentlich Mitleid.
> "ernsthaftes und eindringliches Verlangen des Opfers"
- Zeichen für erloschenen Lebenswillen des Opfers; daher erscheint
Unrecht der Tötung reduziert (= Begründung der Privilegierung)
> Unterscheidung zwischen Suizidhilfe und Tötung auf Verlangen:
Kriterium der Tatherrschaft
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
Tötungsdelikte − Folie 16
Tötung auf Verlangen (Art. 114) – Tatbestand
Tötung auf Verlangen
(Art. 114)
=
Vorsätzliche Verursachung des Todes
eines anderen Menschen (Art. 111)
plus
ernsthaftes und eindringliches Verlangen
des Opfers
(Merkmal des objektiven Tatbestands)
• = qualifizierte Einwilligung des urteilsfähigen
Opfers (wohlüberlegt; ausdrücklich und unmissverständlich erklärt)
• eindringliches Verlangen: beharrliches, sehr
intensives Bitten, das auf den Täter einen
eigentlichen Druck ausübt
• ernsthaftes Verlangen: hinreichend urteilsfähige
Person; darf nicht auf Irrtum oder Zwang beruhen und nicht einer vorübergehenden (depressiven) Verstimmung entspringen
Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10)
achtenswerte
Beweggründe
(Merkmal des subj. TB)
und
• insbesondere Mitleid
(= Bsp. im Gesetzeswortlaut)
Vorsatz
insb.:
• Wissen um das ernsthafte und
eindringliche Verlangen des
Opfers
• Handeln wegen dieses
Verlangens des Opfers
Tötungsdelikte − Folie 17