Einführungsvorlesung 4 - Institut für Volkskunde

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Transcript Einführungsvorlesung 4 - Institut für Volkskunde

Einführung in die
Europäische Ethnologie
Teil 4
WS 2012/13
Prof. Dr. Johannes Moser
Folien unter:
http://www.volkskunde.unimuenchen.de/download/index.html
Einführung in die Europäische Ethnologie
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Alltag
• Kultur und Alltag sind zentrale Perspektiven, mit
denen sich die Beziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft sinnvoll erfassen lassen.
• Alltag und Alltagskultur sind in der Volkskunde
selbstverständliche – sozusagen alltägliche –
Begriffe, so dass sie oft gar nicht mehr genauer
bestimmt werden.
• Auch für andere Disziplinen wie Geschichte und
Soziologie ist der Alltagsbegriff bedeutend.
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• In der Volkskunde gibt es schon früh Hinweise
auf die Beschäftigung mit dem Alltag, so kann
man bei Wilhelm Heinrich Riehl fündig werden,
der über „alltägliches Daseyn“ schrieb.
• Populär wurde der Begriff seit den 1970er Jahren, aber es gibt wie beim Kulturbegriff eine Fülle
von Definitionen.
• Norbert Elias hat 1978 in einem kurzen Überblick
aufgezeigt, welche verschiedenen, sich teilweise
überschneidenden Bedeutungen dem Begriff
innewohnen. Und er hat deshalb auch vor der
inflationären Verwendung des Begriffs gewarnt.
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• Alltag unterscheidet sich nach Elias Definition
vom Festtag, es umfasst den Familienalltag und
die private Sphäre ebenso wie den öffentlichen
Erwerbsarbeitsalltag.
• Unter Alltag wird auch das Repetitive verstanden, die sich wiederholenden, routinisierten
Handlungen, die dem Besonderen und Einmaligen entgegenstehen.
• Oft wird unter Alltag auch das Leben der „breiten
Masse“ verstanden im Gegensatz etwa zum Leben der Prominenz.
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• Wir müssen uns zudem vergegenwärtigen, dass
die Betrachtung des Alltags auch eine Frage der
Perspektive ist: Für den einzelnen Menschen
sind Geburt, Krankheit, Hochzeit oder Tod ganz
besondere Ereignisse im Leben, aus der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft und aus einer
Makroperspektive stellen sie nichts anderes dar
als den Alltag von Menschen.
• Schließlich ist der Alltag durch eine spezifische
Wahrnehmungsform gekennzeichnet: durch ein
spontanes und unreflektiertes Erleben und durch
besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte
Interpretations- und Verhaltensmuster.
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• Die Traditionen der modernen Alltagsforschung
reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als der
Philosoph Edmund Husserl seine Theorie der
Lebenswelt entwarf. Diese Lebenswelt nannte er
auch Alltagswelt oder beschränkte Umwelt.
• Diese Theorie der Lebenswelt beschreibt die konkrete anschauliche Welt, in die der Mensch hineingeboren wird. In dieser Welt lebt und kommuniziert
man mit anderen Menschen. Und diese Welt ist für
das Individuum wie für alle anderen darin lebenden
Menschen die unhinterfragbare Wirklichkeit.
• Alltag ist demnach das selbstverständlich Hingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und handelnd erleben.
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• Aus dieser alltäglichen „Seinsgestaltung“, wie Husserl das genannt hat, ziehen Menschen auch ihre
Seinsgewissheit. Die gemeinsame Praxis verleiht
nach Husserl dem Alltag eine intersubjektive „Geltungswirklichkeit“.
• Für die moderne Alltagstheorie sind dann die Ausführungen von Alfred Schütz aus den 1950er Jahren zentral geworden, insbesondere seine Aussagen in dem mit seinem Schüler Thomas Luckmann
verfassten Buch „Strukturen der Lebenswelt“.
• Wesentliche Elemente sind auch in dem bis heute
einflussreichen Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und
Thomas Luckmann enthalten.
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• Schütz meinte, die alltägliche Lebenswelt sei jener Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in
unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. In die alltägliche Lebenswelt kann der
Mensch eingreifen und er kann sie verändern, indem er in ihr wirkt. Gleichzeitig wird er in diesem
Bereich in seinen freien Handlungsmöglichkeiten
durch andere eingeschränkt.
• Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich der
Mensch mit seinen Mitmenschen verständigen
und mit ihnen zusammenwirken. Nur in ihr kann
sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt
konstituieren.
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• Unter alltäglicher Lebenswelt soll demnach jener
Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der
wache und normale Erwachsene in der Einstellung
des gesunden Menschenverstandes als schlicht
gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden
Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch erscheint.
• Schütz zählt auch die „fraglosen“ Gegebenheiten
der alltäglichen Lebenswelt auf, die als Totalität für
das handelnde Subjekt vorhanden sind:
a die körperliche Existenz von anderen Menschen
b dass diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das
dem meinen prinzipiell ähnlich ist;
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c dass die Außenweltdinge in meiner Umwelt und in der
meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und
grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben;
d dass ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung
und Wechselwirkung treten kann;
e dass ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann;
f dass eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsraum für mich und meine Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie
die ‚Naturwelt’;
g dass also die Situation, in der ich mich jeweils befinde,
nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene
ist.
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• Die Lebenswelt ist also eine intersubjektive Welt
vertrauter Wirklichkeit, in der die einzelnen Menschen als Handelnde gefordert sind.
• Für diese Lebenspraxis steht den Menschen
nach Schütz der kulturell ererbte und enkulturierte Wissensvorrat zur Verfügung, aber auch die
Eigenerfahrung situationaler Problemlösungen.
• Es dürfte klar geworden sein, dass eine Bedingung des Zusammenlebens und der Interaktion
in diesem Lebens- und Alltagsweltkonzept die
Vorstellung der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist.
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• Das meint, dass auch der jeweils Andere in der
Lage ist, meine Perspektiven zu verstehen; ja
mehr noch wird vorausgesetzt, dass die Bedeutungssysteme der miteinander interagierenden
Menschen übereinstimmen. Gemeinsame Wissensbestände und Interpretationsverfahren gehören dazu.
• Um nun die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Handlungen zu vereinfachen, bedient
sich das praktische Alltagsdenken bestimmter
Routinen – z.B. Festlegungen, was normal ist;
oder Typisierungen von Situationen und Personen.
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• Alles, was in diesen Wahrnehmungen stört und
fremd ist, wird ausgeblendet oder gar ausgegrenzt,
weil es nicht in das vorgefaßte Schema passt.
• Diese Strategien und Klassifikationsmuster haben
in der Literatur durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Wertungen erfahren. Den einen
erscheint dieser Alltag häufig borniert und blind;
die anderen überbetonen den so genannten „Eigensinn“, wie Carola Lipp kritisch anmerkte.
• Auf jeden Fall meint Alltag in dieser hier vorgestellten wissenssoziologischen Theorie einen besonderen Typus der Erfahrung, des Handelns und
des Wissens.
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• Eine systematische Weiterentwicklung dieses Konzepts findet sich in der Schule des Symbolischen
Interaktionismus und in der Ethnomethodologie.
• Das sind – streng genommen soziologische Schulen –, die auf vielfältige Weise auch die Kulturwissenschaften beeinflusst haben.
• Der symbolische Interaktionismus ist verbunden
mit George Herbert Mead und Herbert Bulmer, im
weitesten Sinn auch mit Erving Goffman.
• Der symbolische Interaktionismus geht davon aus,
dass die gesamte Interaktion zwischen Menschen
auf dem Austausch von Symbolen besteht.
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• Wenn wir mit anderen interagieren, so suchen wir
ständig nach Anhaltspunkten, die uns sagen, welche Art von Verhalten im betreffenden Kontext
richtig ist und wie das zu interpretieren sei, was
der andere meint oder beabsichtigt.
• Der symbolische Interaktionismus lenkt unsere
Aufmerksamkeit auf die Details der interpersonellen Interaktion und darauf, wie diese Details
verwendet werden, um dem, was gesagt und getan wird, Sinn zu verleihen.
• Der symbolische Interaktionisus konzentriert sich
vor allem auf face-to-face-Interaktionen in den
Kontexten des Alltagslebens.
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• Erving Goffman ist mit seinen Arbeiten diesbezüglich besonders prägend geworden. In der Goffmanschen Ausprägung bietet der symbolische Interaktionismus vielerlei Einblicke in die Natur unserer Handlungen im Laufe unseres täglichen sozialen Lebens.
• Goffman hat etwa für die Analyse der sozialen Interaktion auf die Begriffe des Theaters zurückgegriffen. So zum Beispiel in seinem Buch „Wir alle
spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“
Schon der Begriff der sozialen Rolle, der in den
Sozialwissenschaften weit verbreitet ist, stammt
aus dem Theatermilieu.
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• Rollen sind sozial definierte Erwartungen, die eine
Person, die einen bestimmten Status oder soziale
Position innehat, erfüllt oder zu erfüllen hat.
• Goffman verwendet ein dramaturgisches Modell,
um das soziale Leben zu betrachten. So als handle es sich dabei um ein Schauspiel auf einer Bühne – oder auf vielen Bühnen, weil unser Handeln ja
von verschiedenen Rollen geprägt ist, die wir zu
verschiedenen Zeitpunkten einnehmen.
• Menschen sind sehr sensibel gegenüber dem Bild,
das andere von ihnen haben. Daher versuchen
sie, diesen Eindruck zu manipulieren, damit andere Menschen in der gewünschten Form reagieren.
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• Obwohl diese Manipulation in berechnender Weise
geschehen kann, gehört es üblicherweise zu den
Dingen, die wir tun, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
• Eine besondere Unterscheidung trifft Goffman mit
den Begriffen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“.
• Die „Vorderbühne“ ist jener Bereich der sozialen
Kontakte und Anlässe, bei denen formale und stilisierte Rollen gespielt werden.
• Die Hinterbühne ist jener weniger stark formalisierte Bereich, in dem das Tun auf der Vorderbühne vorbereitet oder begleitet wird.
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• Ein besonders interessantes Buch von Erving
Goffman heißt „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Hier zeigt Goffman, dass „normale“ Menschen Personen mit einem Stigma oft äußerst wirksam, wenn auch oft
gedankenlos, diskriminieren.
• Stigmatisierte Personen wissen das und unternehmen dann Versuche, das zu korrigieren. Entweder
indem sie die objektive Basis ihres „Fehlers“ beheben, indem sie diesen „Fehler“ zu verstecken
suchen oder etwa indem sie zu beweisen suchen,
dass sie in Tätigkeitsbereichen bestehen können,
von denen andere annehmen, sie könnten das
wegen gewisser Einschränkungen nicht erreichen.
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• Wenn jemand mit einem Stigma versuchen will,
andere zu täuschen, bedarf es eines immensen
Aufwandes. Was für so genannte „Normale“ Routineangelegenheiten sind, kann für einen Diskreditierbaren, also jemanden der noch nicht durch sein
Stigma diskrediert ist, zu einem richtigen Organisationsproblem werden.
• Das Individuum mit einem geheimen Fehler muss
sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglichkeiten bewusst sein. Die für andere unkomplizierte Welt ist
es für ihn keineswegs. Was für andere trivial ist,
wird für den Diskreditierbaren zum Problem.
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• Goffman greift immer auf eindrückliche Beispiele
zurück. Sie führen ganz deutlich vor Augen, was in
den theoretischen Ausführungen zur Alltags- und
Lebenswelt theoretisch bereits ausgesagt wurde.
• In der Alltagswelt vereinfachen wir, greifen auf
Normalitätsvorstellungen und Deutungsroutinen
zurück, die uns helfen, eine komplexe Umwelt in
den Griff zu bekommen, in denen aber auch ein
gehöriges Potential an Diskrminierungsmustern
steckt.
• Die Beispiele aus Goffmans Buch verraten gerade
dadurch, dass sie stigmatisierte Menschen und
ihre Umgangsweisen damit in den Blick nehmen,
wie Kommunikation funktioniert.
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• Hier setzt auch die Ethnomethodologie an. Sie ist
die Untersuchung der Ethnomethoden, das sind
die von Laien benutzten Methoden.
• Diese Methoden werden angewandt, um den Sinn
dessen, was andere Menschen tun, und vor allem
dessen, was sie sagen, zu entschlüsseln.
• Wir alle verwenden in der Interaktion mit anderen
Menschen Methoden, um dem Handeln und Reden der anderen einen Sinn abzugewinnen, wobei
wir diesen Methoden üblicherweise keine gesonderte Aufmerksamkeit schenken.
• Oft können wir einer Situation nur Sinn abgewinnen, weil wir den sozialen Kontext kennen, der in
den Worten selbst nicht in Erscheinung tritt.
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• Selbst die unbedeutendsten Formen des alltäglichen Lebens setzen ein kompliziertes gemeinsames Wissen voraus.
• Die in der alltäglichen Kommunikation verwendeten Wörter haben keine präzisen Bedeutungen und
was wir sagen möchten bzw. das Verständnis des
Gesagten wird durch die unausgesprochenen Annahmen festgelegt, die den verschiedenen Bedeutungen zugrunde liegen.
• Wir haben also bei unserer tagtäglichen
Kommunikation „Hintergrunderwartungen“ und für
diese Hintergrunderwartungen etwa interessiert
sich die Ethnomethodologie.
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• Der Soziologe Harold Garfinkel hat durch Krisenexperimente versucht, Kommunikationsstrukturen
und Hintergrunderwartungen offen zu legen. Das
funktioniert etwa in der Form, dass man den Sinn
der beiläufigsten Bemerkungen und allgemeiner
Kommentare nicht einfach hinnimmt, sondern ichnen nachgeht, um ihren Sinn zu präzisieren.
• Die Experimente sollen dazu beitragen, die grundlegenden Modi unseres Zusammenlebens zu verstehen.
• Die Stabilität und Sinnhaftigkeit unseres täglichen
sozialen Lebens hängt vom gemeinsamen Besitz
unausgesprochener „kultureller“ Annahmen darüber ab, was warum gesagt wird.
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• Wären wir nicht in der Lage, diese Annahmen
vorauszusetzen, wäre sinnvolle Kommunikation
unmöglich.
• Jeder Frage oder jedem Beitrag zu einer Konversation müsste ein massives Suchverfahren folgen,
wie es in Garfinkels Experimenten gezeigt wurde,
die Interaktion würde schlicht zusammenbrechen.
• Was also auf den ersten Blick als unwichtige Konventionen der Rede erscheint, stellt sich als fundamental für das Gewebe des sozialen Lebens
heraus, weshalb der Verstoß gegen Konventionen
eine so ernsthafte Sache ist.
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• Ein anderer Ansatz der Alltagstheorie stellt eine
eher gesellschaftspolitische Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaften dar
und kritisiert die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Beispielhaft dafür steht Henri
Lefèbvres „Kritik des Alltagslebens“, die viele
Disziplinen beeinflusst hat.
• Die Entdeckung des Alltags kann aus dieser Perspektive als das kulturelle Konstrukt einer „Generation der Entfremdung“ verstanden werden, meinte
etwa die andere marxistische Denkerin des Alltags
– Agnes Heller.
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• So argumentierte Utz Jeggle in den „Grundzügen
der Volkskunde“ 1978, es sei vom Alltag gesprochen worden, als er in die Krise gekommen sei, als
das Gewohnte problematisch geworden sei.
• Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik an
einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten Alltag, der nicht
entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Diktat spätkapitalistischer
Kulturindustrie folgte.
• Das Thema Alltag war also politisch aufgeladen
und hing in der Volkskunde – wie auch in anderen
Fächern – mit der Diskussion um fachpolitische
Standortbestimmungen zusammen.
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• In der Volkskunde geht die Rezeption des Alltagsbegriffs einher mit der Neubestimmung der
Volkskunde gegen Ende der 1960er und zu Beginn
der 1970er Jahre.
• Der Begriff Alltag tauchte programmatisch erstmals
bei den Falkensteiner Diskussionen auf, bei denen
1970 über Selbstverständnis, Erkenntnisziel und
Aufgaben der Volkskunde gerungen wurde.
• Gerhard Heilfurth argumentierte bereits vor Falkenstein mit dem Begriff Lebenswelt und Ina-Maria
Greverus forderte 1971 eine „Wende zur Lebenswelt“, weil sie die Volkskunde geradezu als prädestiniert ansah, die „alltägliche Lebenswelt des
europäischen Menschen“ zu erforschen.
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• Greverus legte bei der Neuausrichtung des Frankfurter Instituts und dessen Umbenennung in „Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie“ ein
klares Bekenntnis zur angelsächsischen Kulturund Sozialanthropologie ab, deren theoretische
Basis ihr geeignet erschienen, die Kultur und Alltagswelt in europäischen Gesellschaften zu untersuchen.
• In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte sich
Greverus mit der kulturkritischen Position der
neueren Alltagsdiskussion auseinander und geht –
in der Tradition der Kulturkritik – von einer
Trennung von Kultur und Alltag aus.
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• Der Alltagsbegriff verweist für sie auf eine „deformierte Umwelt“. Dem hält sie ihren Kulturbegriff
entgegen, in dessen Zentrum die Vorstellung einer
aktiv vom Menschen gestalteten Lebenswelt steht.
• Der Mensch war für sie „Schöpfer und Geschöpf“
der Kultur und sie betonte die „Fähigkeit des Menschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und
Veränderung der Umwelt wie der eigenen Verhaltensweisen“.
• In Tübingen wiederum, wo sich das Fach Volkskunde in Empirische Kulturwissenschaft umbenannt hatte, war die Erforschung des Alltags zunächst von einem politischen Emanzipationsprozess geprägt.
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• Später entwickelte sich daraus eine historisch
orientierte Alltags- und Kulturforschung, die – vor
allem durch Utz Jeggle – auch ethno-psychoanalytische Einflüsse erhielt.
• Zunächst wurde – ebenfalls in der Tradition der kritischen Theorie – auf dem Hintergrund des Entfremdungsmodells argumentiert und es wurde versucht, die antagonistischen Widersprüche in der
kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren.
• Danach wurde diese materialistische Alltagsforschung an die Entwicklung des Faches rückgebunden und führte zu einer verstärkten Erforschung
von Gruppenkulturen. Dies zeigte sich unter anderem an der Arbeiterkulturforschung.
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• In Tübingen wurde die historische Dimension des
Alltagskonzepts besonders betont.
• Der alltagsweltliche Zugang ist wegen der Zuwendung zu den Akteuren attraktiv. Aufgegriffen wurde
er in den Geschichtswissenschaften, die über die
traditionelle Struktur- und Herrschaftsgeschichte
zu den historischen Subjekten vordringen wollte.
• Daraus resultierte eine veränderte Wahrnehmung
der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man begann
unter dem Signum der Alltagsforschung, sich mit
dem „Blick von unten“ zu beschäftigen. Das beinhaltete auch eine dichotome Vorstellung von Kultur und Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten
Unten und Oben.
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• Geprägt waren diese Formen der Alltagsforschung
zunächst von der kritischen Theorie und von einem
Klassenkonzept, das von kultureller Hegemonie
und kulturindustrieller Manipulation ausging.
• In der Arbeiterkulturforschung setzte sich dann das
leninistische Zweikulturenmodell von unterdrückter
und unterdrückender Klasse durch, das allerdings
modifiziert wurde durch Einflüsse von Edward P.
Thompson, der die Aneignungs- und Widerstandsformen der Arbeiterklasse betonte.
• Aus dem Umfeld einer Alltagsgeschichtsforschung
entwickelten sich einige viel diskutierte Ansätze.
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• Vor allem aus der Beschäftigung mit den unteren
Schichten vor der Industrialisierung, also in der
Frühen Neuzeit, entstanden Konzepte, die fragten,
wie Verhaltensmuster und Mentalitäten über einen
längeren Zeitraum hinweg tradiert werden.
• So entwickelte sich das Konzept des „Eigensinns“
der unteren Schichten. Dieser Eigensinn schreibt
der Arbeiter- und Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur zu, eine
sich im Alltag formierende und formulierende
Differenz, ein kollektives „Wir-Bewußtsein“.
• Für diese Ausrichtung stehen etwa die Arbeiten
des Historikers Alf Lüdtke, aber frühe Arbeiten des
Europäischen Ethnologen Wolfgang Kaschuba.
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Gemeindeforschung
• Gemeindeforschungen verfügen innerhalb der
Sozialwissenschaften über eine lange, innerhalb
der Volkskunde/Europäischen Ethnologie immerhin über eine gewisse Tradition.
• In der Alltagsethnographie der Dorf- und Gemeindeforschung ging man davon aus, „daß sich
im begrenzten Ausschnitt einer dörflichen Gesellschaft deren historische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und
soziale Gruppierungen sehr präzise beobachten
und in ihrem Zusammenwirken als ein überschaubares ‚soziales‘ Universum analysieren
lassen“ (Kaschuba).
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• Dabei gibt es ganz unterschiedliche Formen der
Gemeindeforschung oder community studies.
Die Bandbreite reicht von der Untersuchung kleiner Agrargemeinden, über rückständige Orte in
urbanisierten Nationen über suburbane Gemeinden bis hin zu enthnischen Gruppierungen und
Quartieren in Großstädten. In den USA wurden
auch ganze Städte als communities untersucht.
• Auch in der Volkskunde wurden community
studies durchgeführt, besonders bekannt wurde
etwa das von Tübingen aus viel untersuchte
Kiebingen.
• Gemeindestudien erfuhren aber auch einige Kritik.
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• Gisela Welz hat einige Kritikpunkte zusammengefasst: „Gemeindeforschung reproduziert die
Gemeinde (…) als eine Verknüpfung von Kultur
und Identität. Immobilität, geringe Aktionsradien,
intensive Binnenkommunikation, konformitätserzeugende Überschaubarkeit werden in der Sozialforschung gerne der kleinen Gemeinde und
ihren Bewohnern zugeschrieben“.
• Heute ist die Gemeindeforschung aus der Mode
geraten ist. Noch 1967 hatte Sigurd Erixon die
Gemeindeforschung zu den dringenden Fachaufgaben gezählt, aber nach einem kurzen
Boom in den 1970er und zu Beginn der 1980er
Jahren sind die entsprechenden Forschungen
wieder zurückgegangen.
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• Angesichts spätmoderner Diskurse von Globalisierung, Enträumlichung, Entbettung und wie die
Begrifflichkeiten alle lauten, handelt es sich bei
der Gemeinde um ein überholtes Konzept, wie
manche meinen.
• Für viele ist die Gemeinde heutzutage etwas
Anachronistisches. Sie wird als ein Stadium
einer Entwicklung gesehen, das überholt ist.
• In komplexen Gesellschaften hätten kontraktuelle Beziehungen jene Bindungen und Interaktionen ersetzt, die für Gemeinden typisch gewesen
seien.
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• In diese Richtung gingen schon Argumentationen, bevor Gemeindestudien in Europa populär wurden. Auch Carola Lipp und Wolfgang
Kaschuba haben den Begriff „Gemeinde“ bereits
in den 1970er Jahren in Frage gestellt: „Vor der
Beschäftigung mit Phänomenen des ‚Lebens in
der Gemeinde‘ steht somit bei allen gesellschaftlichen Siedlungseinheiten immer die Frage
nach der Gültigkeit des ‚Begriffs‘ als Definitionsrahmen; beschreibt er überhaupt noch die wesentlichen strukturellen Grundlagen gesellschaftlicher Existenz?“
• Aber mit solchen voreiligen Schlüssen sollte
man vorsichtig sein.
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• Zunächst gilt es zu klären:
1. Was ist unter Gemeinde zu verstehen?
2. Spielt sie in der Alltagswelt der Menschen eine Rolle
3. Stellt sie für die Disziplin weiterhin ein tragfähiges Konzept darstellt?
• Ausgehend davon können wir den Veränderungen von Gemeinde nachspüren und die mögliche Irrelevanz des Konzeptes behaupten.
• Gemeinde wird hier synonym mit dem englischen Begriff community benutzt. Im englischen
community schwingt die Doppelbedeutung von
Gemeinde und Gemeinschaft stärker mit als in
der Verwendung des Begriffs Gemeinde in
vielen deutschsprachigen Arbeiten zum Thema.
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• Der Begriff Gemeinde kann in einem umfassenden Sinn verwendet werden, wie dies in der Kultur- und Sozialanthropologie üblich geworden ist.
Gemeinde wird demnach durch zumindest drei
Aspekte charakterisiert, die einander einschliessen können, aber nicht müssen.
1. Erstens kann Gemeinde als eine sozialräumliche
Einheit verstanden werden, die den Lebensmittelpunkt einer Gruppe von Menschen darstellt.
So sieht z.B. Hermann Bausinger die Gemeinde
als eine sozialräumliche Einheit, die durch eine
„Spannung zwischen Enge und Weite“ charakterisiert wird. Diese gemeinsame Lokalität kann
darüber hinaus eine politische Einheit sein, wie
z.B. ein Dorf.
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2. Zweitens kann Gemeinde ein gemeinsames Sozialsystem oder eine gemeinsame Sozialstruktur
bezeichnen, die lokal verankert sein können,
aber nicht notwendigerweise müssen [z.B. Großbauern].
3. Drittens kann sich das Konzept der Gemeinde
auf gemeinsame Interessen zwischen Menschen
beziehen [z.B. Sportverein].
• In allen Fällen stellt Gemeinde ein symbolisches
und kontrastives Konstrukt dar, das durch ein
gemeinsames Bewusstsein einer Grenze gegenüber andere soziale Gruppen bestimmt ist. Dabei können diese Grenzen je nach Perspektive
variieren.
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• Gemeinden existieren dementsprechend nicht
vorwiegend aus sozialstrukturellen Systemen
und Institutionen, sondern als Bedeutungswelten
in den Vorstellungen ihrer Mitglieder.
• In den meisten Gemeindestudien werden allerdings Gemeinden bzw. Gemeinschaften immer
an eine spezifische Lokalität wie Stadt, Dorf oder
zumindest Ortsteil geknüpft.
• Ein Dilemma durchzieht fast alle Gemeindeforschungen. Es handelt sich um das Ideal von
Gemeinde, das oft explizit, meist jedoch implizit
in den Arbeiten zum Ausdruck kommt.
• Um dies zu verstehen, muss auf ein frühes Konzept von Gemeinschaft zurückgeblickt werden.
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• Ferdinand Tönnies führte 1887 ein solches Konzept in die wissenschaftliche Diskussion ein.
• Tönnies war ein bedeutender deutscher Soziologe – neben Max Weber und Georg Simmel der
wichtigste in der Frühzeit der Soziologie um die
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
• Sein Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist
das erste – explizit als soziologisch ausgewiesene Grundlagenwerk des Faches. Die erste
Auflage erschien 1887, aber erst die zweite
Auflage 1912 wurde zum Erfolg, weil mittlerweile
die Jugendbewegung zu jener Zeit, die nach Gemeinschaft suchte, dieses Werk populär machte.
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Ferdinand Tönnies (1855-1936)
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• Tönnies stellte dem Konzept der Gemeinschaft
dasjenige von Gesellschaft gegenüber. Bei Gemeinschaft handelt es sich um ein romantisches,
rückwärts gerichtetes Konzept, welches die ‚positiven‘ Aspekte der Gemeinschaft vorindustrieller Prägung den ‚negativen‘ Folgen der Industrialisierung gegenüberstellt, die sich im Bild der
Gesellschaft bündeln.
• Ungefähr zur gleichen Zeit – nämlich 1893 – hatte der französische Soziologie Émile Durkheim
sein Werk „Über die Teilung der sozialen Arbeit“
– De la division du travail social – verfasst. Die
moderne Industriegesellschaft – so führte Durkheim aus – unterscheide sich von anderen Gesellschaften durch die Arbeitsteilung.
Einführung in die Europäische Ethnologie
Émile Durkheim (1858-1917)
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• Durch die Arbeitsteilung nämlich und die daraus
resultierende Spezialisierung seien die Menschen aufeinander angewiesen. Daraus ergeben
sich zwei Formen von Solidarität: die mechanische und die organische Solidarität.
• Die mechanische Solidarität sei die ältere Form,
die für so genannten segmentäre Gesellschaften
typisch sei. Diese Gesellschaften seien weniger
gegliedert und würden durch Traditionen, Sitten
und Sanktionen zusammen gehalten.
• Die organische Solidarität zeichnet sich durch
kontraktuelle Strukturen aus, in die Menschen in
unterschiedlicher Form eingebunden sind.
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• Auch Durkheim sah also im damaligen Zustand
der europäischen Gesellschaften zwei Arten, wie
Menschen miteinander verbunden sind. Der
grundlegende Unterschied liegt jedoch in der Beurteilung der damaligen Strukturen. Bei Tönnies
wirkt die Einschätzung der neuen Strukturen negativ (zumindest können seine Ausführungen so
gelesen werden) und er bezeichnete die älteren
Bedingungen der Gemeinschaft als „quasi-organisch“, während die moderne Gesellschaft „quasimechanisch“ sei. Für Durkheim wiederum war es
genau umgekehrt, denn er sah die neueren Entwicklungen positiv. Für ihn waren die historisch älteren Formen mechanisch, während er die jüngeren als organisch bezeichnete.
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• Beide Autoren hatten den lang andauernden
Prozess sozialen Wandels auf zwei relativ statische Typen reduziert. Durkheim hatte aber wenigstens eine Entwicklung anzudeuten versucht,
in dem er die Verbindung zwischen den beiden
Typen darin sah, dass sie verschiedene Stufen
der Arbeitsteilung darstellten.
• Seit damals, so schreibt Norbert Elias, „blieb die
Verwendung des Begriffes Gemeinde bis zu einem gewissen Grad mit der Hoffnung und dem
Wunsch verbunden, noch einmal die geschlosseneren, wärmeren und harmonischeren Formen von Verbindungen zwischen Menschen
wiederzubeleben, die vage früheren Zeiten zugeschrieben werden“.
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• Gemeinde wurde gleichgesetzt mit „gutem Leben“
und in irgendeiner Form von Gemeinde möchte jeder Mensch leben. Als Resultat dieser Einstellung
entstand eine Vermischung von empirischen Beschreibungen, was Gemeinde ist, und normativer
Festschreibung, was sie sein sollte; sie ist also ein
wissenschaftliches und ein moralisches Konzept.
• Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde vorgeschlagen, den Begriff Gemeinde durch den der Lokalität zu ersetzen und die wechselseitigen Beziehungen von sozialen Institutionen in spezifischen
Lokalitäten zu untersuchen. Die Problematik dieses Vorschlages liegt jedoch darin, dass Gemeindestudien damit immer an eine Lokalität gebunden
wären, was jenen nicht an die Lokalität gebundenen Faktoren von Gemeinde nicht gerecht wird.
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• Dieses hier skizzierte Dilemma, dass Gemeinde
im Sinne von Gemeinschaft etwas Positives sei,
zeichnet viele Gemeindestudien aus dem
Umkreis der Europäischen Ethnologie aus.
• Dabei ist Gemeinschaft häufig als ein
traditionelles Gesellschafts-ideal verstanden und
dort vorausgesetzt worden, „wo sie gar nicht
vorhanden war – ein Bezugsrahmen für die
Annahme traditionsgelei-teter Einheiten, in
denen soziales Gefälle, Desintegration und vor
allem gesellschaftliche Binnenkonflikte kein
Thema waren“ (Gyr).
• Dem gleichen Problem unterliegen jene Studien,
die den positiven Zuschreibungen die negativen
Charakterisierungen entgegenhalten.
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• Martin Bulmer warf die Frage auf, ob die große
Nähe innerhalb von Gemeinden zur machtvollen
Kontrolle über alle Mitglieder führen kann.
• Um diese Positionen überwinden zu können, unterbreitete Hermann Bausinger den Vorschlag
einer Perspektivenverlagerung, sprach von der
„Einheit des Orts“: „Während der Ausdruck ‚dörfliche Einheit‘ die Assoziation der Einigkeit weckt
und damit der Vorstellung des in allen Teilen abgestimmten, geschlossenen Organismus nahekommt, steckt die Bezeichnung ‚Einheit des Orts‘
zunächst lediglich einen Raum ab, in dem sich
das Geschehen vollzieht. Dieses umfasst verschiedene Charaktere, verschiedene Handlungen, es schließt Konflikte und Spannungen ein“.
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• Laurence Wylie „Dorf in der Vaucluse. Der Alltag
einer französischen Gemeinde“ (1957)
• Wylie war Romanist, der später Anthropologie
studierte. Im Jahr 1950 entschied er sich, ein
Jahr mit seiner Familie in Südfrankreich, im Ort
Peyrane in der Vaucluse, zu leben.
• Er wollte dort Feldforschung betreiben, um
Genaueres über den Alltag und die Wurzeln der
Franzosen zu erlangen.
• Ziel war die Zustandsbeschreibung des Lebens
in einem französischen Dorf, die Darstellung von
lebenden
Personen
im
Rahmen
einer
systematischen Beschreibung ihrer Kultur
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• Peyrane, es handelt sich um ein Pseudonym,
das Wylie in einer späteren Auflage seines
Buches gelüftet hat – es handelt sich um den Ort
Roussillon. Peyrane liegt ca. 80 km nördlich von
Marseille und 20 Kilometer östlich von Avignon;
es hatte zum Zeitpunkt der Untersuchung ca.
750 Einwohner.
• Ausgesucht hatte Wylie den Ort, indem er
Mittelwerte aus den Departments erhoben hatte
bezüglich Wohlstand, Infrastruktur, Landnutzung
usw. Der Ort sollte keine außergewöhnliche
Lage haben (also Isolation oder Großstadtnähe)
und es sollte keine Dominanz eines einzelnen
Arbeitgebers geben (z.B. Bergwerk).
Einführung in die Europäische Ethnologie
56
• Wylie fuhr in den Ort, sondierte die Umgebung
und mietete ein Haus im Ortskern, wo er mit seiner Familie wohnte. Er versuchte sich in das Gemeindeleben zu integrieren, indem er in der
Grundschule, in die sein ältester Sohn ging, Englisch unterrichtete und indem er als Gemeindechronist und als Fotograf tätig wurde.
• Die Menschen beeindruckte, dass der Aufenthalt
von Wylie durch Forschungsstipendien ermöglicht wurde. Wylie meinte dazu: Sie erhöhten in
diesem Dorf den Respekt vor der Zivilisation
mehr, als es jede Propaganda vermocht hätte.
• Wylie beginnt seine relativ deskriptive, aber
doch einfühlsame Schilderung des Ortes mit der
historischen Entwicklung der Wirtschaft.
Einführung in die Europäische Ethnologie
57
• Neben der Landwirtschaft lebte man in Peyrane
bis ins 19. Jahrhundert von der Seidenraupenzucht und von der Gewinnung von rotem Farbstoff aus der Wurzel der perance. Die Höfe in
Peyrane waren aufgrund der Erbteilung klein.
• Der Zweite Weltkrieg stellte eine Zäsur dar, wobei Wylie psychologische und wirtschaftliche
Nachwirkungen benennt. Wirtschaftlich gab es
eine Stagnation und Abwanderungsprozesse.
Die Notsituation führte dazu, dass die Menschen
illegale Geschäfte mit Mangelwaren betrieben
und auf dem Schwarzmarkt aktiv wurden.
Psychologisch herrschte Pessimismus und die
Menschen versicherten Wylie immer wieder, er
hätte vor dem Krieg kommen müssen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
58
• Die wirtschaftliche Grundlage zu Wylies Zeit bildete fast ausschließlich die Landwirtschaft: Export von Obst und Gemüse (Kirschen, Erdbeeren, Oliven, Spargel und Tomaten). Dazu kam
noch der Abbau von Ocker.
• Insgesamt war die Wirtschaft von Peyrane nach
Wylie sehr kompliziert. Das Einkommen und
staatliche Unterstützung stellen bei weitem nicht
das ganze Einkommen einer Familie dar. Es gibt
viele zusätzliche Möglichkeiten dies zu erhöhen.
Die Zahl der Transaktionen – Warentausch und
Dienstleistungen – ist so groß und ihre Beschaffenheit so undurchsichtig und kompliziert, dass
eine genaue Übersicht der Wirtschaft von Peyrane unmöglich ist.
Einführung in die Europäische Ethnologie
59
• Die Infrastruktur des Ortes sah so aus, dass es
relativ gute Straßen gab, aber nur an drei Tagen
der Woche eine Busverbindung nach außen
bestand. Es gab keine WC’s, keine Kanalisation,
keine Abfallentsorgung und keinen vollständigen
Anschluss ans Stromnetz. Es gab weder einen
Arzt noch Polizei, auch fast keine Telefone. Die
Massenmedien waren unbedeutend.
• Der soziale Mittelpunkt des Ortes war „le bourg“,
der Marktflecken. Das war der Dorfkern mit dem
Café als Informationszentrum. Dort waren auch
Läden, das Rathaus, die Schule, die öffentlichen
Waschräume, die Kirche und der Bouleplatz.
Einführung in die Europäische Ethnologie
60
• Was die Religion anbelangt gab es nur 5%
aktive Katholiken, meist ältere Frauen. Unter den
politischen Parteien war die Kommunistische
Partei Frankreichs am stärksten, die laut Wylie
als „Protestpartei“ gewählt wurde und fast 50%
der Stimmen erhielt, die Sozialisten waren
ebenfalls stark, aber die Konservativen schwach.
• Ein gutes Gemeindemitglied musste „sérieux“,
also seriös, sein. Damit ist gemeint: zuverlässig,
berechenbar, gewissenhaft, fleißig, erwachsen
(worunter verheiratet verstanden wird), respektiert und respektierend, integriert in seine Familie. Außerdem sollte er einige Freunde haben,
aber auch Gegner.
Einführung in die Europäische Ethnologie
61
• Die Kinder sollten „sage“, also artig, sein. 13und 14jährige, die aus der Schule kommen,
würden die gesellschaftlichen Regeln am besten
beherrschen, meint Wylie. Sie stellten die am
besten angepasste Gruppe im Dorf dar. Danach
folgt der Wandel zum Erwachsenen. Den Jugendlichen wird zugestanden, über die Stränge
zu schlagen und sich auszutoben, ehe sie zu
seriösen Erwachsenen werden. In der Erziehung
gibt es einen Gruppendruck; die Eltern sind dominant. Kinder, die sich schlecht benehmen,
werden lächerlich gemacht.
• In der dörflichen Kommunikation ist Klatsch
extrem wichtig; darüber werden Neuigkeiten
ebenso verbreitet wie Gerüchte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
62
• Zum Klatsch gehört, dass es eine Idealvorstellung davon gibt, wie jemand zu sein habe. Diese
Idealvorstellung wird aber von niemanden erreicht, weshalb diese Abweichung stets zum Gesprächsstoff wird.
• Geschenke werden nicht gerne angenommen,
wenn Menschen nicht in der Lage sind, Gegengeschenke zu machen. Wylie wollte sich beispielsweise eine Fotografie nicht bezahlen lassen und das Gleichgewicht wurde erst wieder
hergestellt, als der Fotografierte sich mit Eiern
revanchiert hatte.
• Die Peyraner haben vor allem Angst, was von
außen kommt – das ist für sie gefährlich,
anonym, unangreifbar, übermächtig.
Einführung in die Europäische Ethnologie
63
• Die massivste Bedrohung ist für sie der Staat
und die Regierung mit ihren Erlassen. Der Staat,
die Verwaltung und die Außenwelt bedeuten für
die Menschen in Peyrane Ausbeutung und Manipulation des Einzelnen. Die Gesetze werden als
unflexibel wahrgenommen, weshalb man sich
abschottet. Dagegen werden die Familie, Freunde und Beziehungen als Stütze angesehen.
• Gleichzeitig haben sie aber ein generelles Misstrauen untereinander. Jeder erachtet den anderen prinzipiell als feindselig, weil er davon ausgeht, dass ihn die anderen ebenso feindselig betrachten wie er sie. Es gibt ein großes Potential
an Konflikten unter der Bevölkerung, das Zerstrittensein ist ein wichtiger sozialer Faktor.
Einführung in die Europäische Ethnologie
64
• Gruppenbildungs- und Identitätsbildungsprozesse finden über Institutionen und Organisationen
statt:die Freiwillige Feuerwehr, der Jagdclub und
die Genossenschaften, wo sich die Menschen
nach Interessen, Berufssparten oder auf der
Basis von Freundschaften zusammenfinden.
• Im Café gibt es einige Unterhaltungsmöglichkeiten, die stark zu einer männlichen Gruppenbildung führen – etwa Boule oder das Kartenspiel
Belote.
• Veränderungen gegenüber ist man sehr misstrauisch, obwohl sie ständig passieren. Wylie
stellte fest, dass sich vor allem das Wertesystem langsamer wandelt als die wirtschaftlichen Verhältnisse.
Einführung in die Europäische Ethnologie
65
• Wylie versucht, einen umfangreichen Überblick
über den Alltag in diesem Dorf Peyrane zu
geben. Dabei ist die Studie besser zu lesen, als
die Wiedergabe der zentralen Erkenntnisse
vermuten lässt.
• Auf den ersten Blick hat Wylie mit Peyrane eine
recht homogene, komplexe und geschlossene
Gemeinschaft beschrieben, die eine übersichtliche Binnenstruktur und eine klare Abgrenzung
nach außen hin aufweist.
• Bei genauerer Lektüre ergibt sich jedoch ein viel
differenzierteres und komplizierteres Bild. Dennoch hat die synchrone Vorgehensweise ihre
Tücken, weil alles so zeitlos gültig erscheint.
Einführung in die Europäische Ethnologie
66
• Wylie hat, weil es bis 1957 dauerte, ehe das
Buch fertig war und publiziert werden konnte, in
einem Nachwort Veränderungen aufgezeigt.
• William Foote Whyte: Die Street Corner Society.
Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin –
New York: Walter de Gruyter 1996 (11943).
• Cornerville ist ein Slumviertel einer amerikanischen Großstadt – Whyte hat in der dritten
Auflage offenbart, dass es sich um das North
End von Boston handelte.
• Cornerville wird großteils von italienischen Einwanderern bewohnt. Es ist als Slum ein Problem
für die Stadt und wird nur unter Krisenszenarien
– hohe Arbeitslosigkeit, geringe sanitäre Standards, hohe Kriminalitätsrate etc. – gesehen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
67
• Solche Bilder haben aber den Nachteil, keine
menschlichen Individuen zu zeigen. Um wirklich
einen detaillierten Einblick zu erlangen, müsse
man in Cornerville leben und am Leben der dortigen Menschen teilnehmen, meint Whyte. Um
spektakuläre Ereignisse wie Verbrechen etc. zu
verstehen, müsse man sie im Verhältnis zu den
Alltags-strukturen des Lebens sehen – denn das
Leben in Cornerville hat für Whyte eine Struktur.
• Nach einer kurzen Schilderung der Geschichte
der italienischen Ein-wanderung stellt Whyte
fest, dass die in Amerika geborene Genera-tion
eine eigene Gesellschaft aufgebaut hat, die nicht
mehr nach den Regeln der Elterngeneration
funktioniert.
Einführung in die Europäische Ethnologie
68
• Bei den jüngeren Männern unterscheidet Whyte
zwei Hauptkategorien: die corner boys und die
college boys.
• Die corner boys, die Eckensteher, sind Gruppen
von jungen Männern, deren Aktivitäten sich an
bestimmten Straßenecken konzentrieren und in
den umliegenden Billlardsalons, Clubs, Imbißstuben. Sie sind in ihrer Altersgruppe die unterste Stufe der Gesellschaft und stellen zugleich die Mehrheit der jungen Männer in Cornerville. Nur wenige haben die High School abgeschlossen, viele sind sogar aus der Schule
ausgestiegen. Während der Wirtschaftskrise waren viele von ihnen arbeitslos oder unregelmäßig
beschäftigt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
69
• Die college boys sind eine kleine Gruppe junger
Männer, die sich durch eine bessere Ausbildung
über die Stufe der corner boys erhoben haben
und die den sozialen Aufstieg versuchen.
• Anhand von Doc und seiner Eckenstehergang
und Chic und seinem college boys-Club will
Whyte die Unterschiede zwischen den beiden
Gruppen erklären.
• Beide seien jedoch kleine Nummern in Cornerville, die großen Tiere seien Gangster und Politiker. Das Gangstertum und die politischen Organisationen durchdringen die Gesellschaft von
Cornerville von oben bis unten, verknüpfen sich
miteinander und bilden den Hintergrund für einen großen Teil des Lebens im Bezirk.
Einführung in die Europäische Ethnologie
70
• Im ersten Teil der Arbeit widmet sich Whyte den
corner boys und den college boys.
• Doc war der Kopf der Nortons, einer Gang aus
der Norton Street. Doc hatte aufgrund einer Kinderlähmung einen verkümmerten linken Arm,
den er allerdings so trainierte, dass er ihn einigermaßen gebrauchen konnte. Doc erzählte, wie
er sich durch Prügeleien, Schnelligkeit und Cleverness seine Position erarbeitete. er war für
seine Intelligenz & Ausdrucksfähigkeit geachtet.
• Als Whyte zu den Nortons kam, war Doc 29 und
der Rest der Gruppe zwischen 29 und 20. Neben
Doc spielten Mike (29) und Danny (27) eine führende Rolle.
Einführung in die Europäische Ethnologie
71
• Long John nahm eine Sonderposition ein, weil er
zur Führungsgruppe gehörte, aber keinen Einfluss auf die Gangmitglieder hatte. Die restlichen
neun Mitglieder der Nortons nennt Whyte followers. Whyte beschreibt die Funktionsweise der
Gruppe, die Hierarchien und Unterordnungen. Er
schildert die Gang ziemlich ausführlich bis zu
ihrem endgültigen Auseinanderbrechen.
• Chick Morelli verkehrt mit seinen college boys im
Italian Community Club, in dem auch die corner
boys einige Zeit verkehrt hatten.
• Chicks Vater hatte zwei Läden betrieben, ehe er
starb, als Chick noch ein Junge war. So mussten
die Läden aufgegeben werden und die Familie
fristete ein kärgliches Dasein.
Einführung in die Europäische Ethnologie
72
• Chick zeigte Aufstiegswillen, ging immer irgendwelchen Jobs nach, schaffte die Highschool und
die Aufnahme ins College. Er studiert sogar an
einer relativ renommierte Universität Jura.
• Chick gründet mit Freunden den Italian Community Club, der den Aufstiegswillen und das
Selbstbewußtsein der gebildeteren jungen Italiener bezeugen sollte. Sie betonen den hervorragenden Beitrag der Italiener zur Weltkultur und
sehen sich als einen entscheidenden Bestandteil
der Nation. Gesellschaftliche Verbindungen zu
Leuten von intellektuellem Niveau sollen aufgebaut werden und das eigene Viertel sollte die
eigenen Bildungsmöglichkeiten verbessern und
lokale Interessen gezielt wahrnehmen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
73
• Whyte schildert sehr genau die Auseinandersetzungen um verschiedene Vorhaben, Wahlen etc.
• Die Nortons und der Italian Community Club waren auf unterschiedlichen sozialen Ebenen angesiedelt und auf völlig unterschiedlicher Grundlage organisiert. Gleichwohl waren sie für Cornerville repräsentativ, vor allem die Aussagen über
die Nortons würden für viele Straßengangs gelten, dem Community Club vergleichbare Klubs
gab es nicht so viele.
• Die informelle Gang hatte weder Satzung noch
Statuten, Entscheidungen gründen auf informellen Verbindungen und werden selbst dann vorab
informell getroffen, wenn sie nachträglich einer
formalen Abstimmung unterliegen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
74
• Das Nachbarschaftszentrum und die Sozialarbeiter spielten im Leben der Männer beider Gruppen eine bedeutende Rolle. Die Sozialarbeiter
konnten kein Italienisch, sie hatten kein fundiertes Wissen über die sozialen Verhältnisse in der
italienischen Heimat ihrer Klientel und sie trachteten nur nach der Durchsetzung ihrer eigenen
Maßstäbe. Die Sozialarbeiter waren weder bei
den Nortons noch beim Community Club beliebt.
• Im Kapitel Loyalität und soziale Mobilität berichtet Whyte zunächst, wie die college Boys vorangekommen sind und die corner boys nicht. Chick
macht eine politische Karriere und würde auf diesem Weg, ebenso wie die Sozialarbeiter, die corner boys als faul und unkooperativ bezeichnen
Einführung in die Europäische Ethnologie
75
• Zu den am eifrigst gepflegten demokratischen
Glaubensartikeln gehöre nach Whyte, dass in
der US-Gesellschaft Intelligenz und Fähigkeit an
die Spitze gelangen. Aber offensichtlich lassen
sich die unterschiedlichen Karrieren von Chick
und Doc nicht mit einem Unterschied an Intelligenz und Begabung erklären.
• Deshalb müsse es eine andere Erklärungsmöglichkeit geben. Eine Erklärung liegt in der Bildung, dass also ein Collegestudium für den sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung außerordentlich wichtig ist.
• Aber die college boys waren schon als Jungs
anders, meint Whyte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
76
• Das Modell sozialer Mobilität in Cornerville lasse
sich am besten begreifen, wenn man es mit dem
Modell der Verhaltensweisen der corner boys
kontrastiert.
• Einer der bedeutendsten Unterschiede ist das
Verhältnis zu Geld. Der college boy kommt aus
einer ökonomischen Welt, die vom Sparen und
Investieren geprägt ist. Der corner boy gehört einem ökonomischen System an, wo das Geldausgeben die größte Rolle spielt.
• Der college boy spart, um seine Ausbildung zu finanzieren und seine geschäftliche oder berufliche Karriere in Gang zu bringen zu. Deshalb kultiviert er die Mittelschichttugend Sparsamkeit.
Einführung in die Europäische Ethnologie
77
• Der corner boy muss sein Geld mit anderen
teilen, vor allem wenn er eine ranghohe Position
in der Gang besetzen will, wobei dies unbewusst
stattfindet. Prestige und Einfluss hängen teilweise vom großzügigen Umgang mit Geld ab.
• Ein weiterer Unterschied lässt sich an Chick und
Doc manifestieren. Chick beurteilte Menschen
nach ihrer Fähigkeit vorwärts zu kommen. Doc
beurteilte sie nach ihrer Loyalität ihren Freunden
gegenüber und nach ihrem Verhalten in persönlichen Beziehungen.
• Whyte erklärt in seinem Buch aber auch noch
die Politik und das organisierte Verbrechen in
Cornerville, die Rolle der Polizei etc.
Einführung in die Europäische Ethnologie
78
• Whyte zeigt die Interdependenzen und Abhängigkeiten innerhalb der Gangs, der Einzelne ist
dabei nicht so wichtig wie die Gang.
• Alle Institutionen von Cornerville – die Gangs,
die Syndikats- und Polizeiorganisationen, die politische Organisation und die soziale Struktur
stellen eine Hierarchie persönlicher Beziehungen
dar, die auf einem System gegenseitiger Verpflichtungen beruhen.
• Die Street Corner Society ist vor allem auch methodisch ein großartiges Werk. Mit der notwendigen Empathie verfasst, mit Respekt für die untersuchten Personen und mit der notwendigen
Reflexivität, was die eigene Rolle im Feld
anbelangt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
79
• An diese Beispiele soll nun noch einmal mit einigen Überlegungen angeknüpft werden, welche
Rolle Community Studies in der spätmodernen
Forschungslandschaft noch spielen können.
• Conrad M. Arensberg hat die Unterscheidung
getroffen, Gemeinde entweder als Objekt oder
als Paradigma zu verstehen.
• Wird die Gemeinde selbst zum Forschungsobjekt, so Arensberg, dann zielen die Fragen „alle
auf die Natur der Gemeinde als Gegenstand
eigener Art hin“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
80
• „Auf der anderen Seite steht die hiervon deutlich
unterschiedene Fragestellung, die die Gemeinde
als ein Untersuchungsfeld oder Paradigma betrachtet, innerhalb dessen etwas anderes als die
Gemeinde selbst erforscht werden soll“. Die Gemeinde soll dabei für ein Ganzes – die Gesellschaft oder die Kultur – kennzeichnend sein.
• Viele klassische Gemeindestudien waren so
konzipiert. Robert und Helen Lynds erfolgreiche
Untersuchung „Middletown. A Study in American
Culture“ aus dem Jahr 1929 beispielsweise zielte
nicht auf die Spezifik der untersuchten Stadt
Muncie in Indiana, sondern wollte typisches
amerikanisches Kleinstadtleben bzw. überhaupt
amerikanisches Alltagsleben präsentieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
81
• Sie schreiben, für ihre Auswahl der Gemeinde
waren zwei Überlegungen entscheidend: „(1)
sollte die Stadt für zeitgenössisches amerikanisches Leben so repräsentativ wie möglich
sein, und (2) sollte sie gleichzeitig kompakt und
homogen genug sein, um eine so umfassende
Studie durchführbar zu machen“.
• Wollten die Lynds zunächst religiöse Vorstellungen und Praktiken untersuchen, so erkannten
sie bald, dass diese Phänome nicht isoliert zu
betrachten und die vielfältigen Beziehungen zu
anderen sozialen Institutionen zu berücksichtigen sind. Middletown diente über Jahrzehnte als
Vorbild für andere Gemeindestudien und rief
eine Reihe von ähnlichen Studien auf den Plan.
Einführung in die Europäische Ethnologie
82
• Sollte mit Middletown die amerikanische Kultur
paradigmatisch erforscht werden, so verfolgte
Lloyd Warner ein noch umfassenderes Ziel. Er
wollte verschiedene Gesellschaften auf der Welt
miteinander vergleichen und gleichzeitig anthropologische Techniken, die für die Untersuchung
einfacher Gesellschaften entworfen worden waren, auf moderne Gesellschaften anwenden. Ziel
war eine Taxonomie aller Gesellschaften.
• Mit einem Team untersuchte er in den 1930er
Jahren den Ort Newburyport in Massachussetts
nach allen Regeln der damaligen Anthropologie.
Einführung in die Europäische Ethnologie
83
• Beeinflusst von Malinowski und Radcliff-Brown
wählte Warner einen strukturfunktionalistischen
Ansatz und verstand die Stadt als eine Art Organismus, in dem jeder Teil bestimmte Funktionen innehat. In seinem Programm stand Yankee
City für die amerikanische Gesellschaft – sie war
„ein mikroskopisches Ganzes, das die gesamte
amerikanische Community“ repräsentiert.
• Diese Betrachtungsweise der Gemeinde als paradigmatisch für größere Zusammenhänge wie
Regionen, Staaten oder nationale Kulturen findet
sich in vielen Gemeindestudien wieder, erfuhr
aber seit den 1960er Jahren eine heftige Kritik.
Einführung in die Europäische Ethnologie
84
• So sprach sich Norbert Elias gegen atomistische
Traditionen aus, die die ganze Gesellschaft in
kleine Teile zerlegen und damit wiederum das
Ganze erklären wollen.
• Clifford Geertz meinte, diese Vorgehensweise
habe der Sache der Anthropologie besonders
geschadet. Das „mikroskopische“ Modell („Jonesville-ist-die-USA“), das die Welt in einem
Sandkorn sieht, sei ein offensichtlicher Trugschluß. „Die Vorstellung, man könne das Wesen
nationaler Gesellschaften, Zivilisationen, großer
Religionen oder ähnliches in zusammengefasster und vereinfachter Form in so genannten
‚typischen‘ Kleinstädten und Dörfern antreffen,
ist schierer Unsinn“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
85
• Diese Position sieht Gemeindeforschung als eine Methode, wie es Bjarne Stoklund – ähnlich
wie Clifford Geertz – für die Europäische Ethnologie ausgedrückt hat. Anliegen ist, „das Gemeindestudium als spezifisch ethnologische Methode zu beleuchten. Es geht also nicht um das
Studium von kleinen Gemeinden, sondern um
das Studium in kleinen Gemeinden. Oder anders
gesagt: Gemeinde als Mittel, nicht als Objekt“.
• Diese Ausrichtung grenzt sich gegen zwei Positionen ab: 1. wird das bereits genannte mikroskopische Modell verworfen, nach dem eine Gemeinde für eine gesamte Kultur steht. 2. wird der
Gemeinde als Forschungsgegenstand eigener
Art die Forschungsrelevanz abgesprochen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
86
• Allerdings ist diese zweite Position Perspektive
im Lichte neuerer theoretischer Ansätze nicht
unproblematisch.
• Europäische Ethnologen untersuchen in Gemeinden spezifische Probleme, die nichts mit der
Natur einer Gemeinde zu tun haben. Darüber
hinaus gibt es aber kulturelle Spezifika von
einzelnen Gemeinden, die diese selbst als
interessant erscheinen lassen.
• Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass
das Konstrukt Gemeinde Strukturelemente aufweist, die den Fokus einer Richtung von Gemeindeforschung ausmachen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
87
• Gemeindestudien können auch unter den Bedingungen, die in spätmodernen komplexen Gesellschaften herrschen, sinnvoll sein:
1. Gemeinde darf nicht als ein Mikrokosmos verstanden werden, der isoliert für sich selbst funktioniert. Gemeindeuntersuchungen müssen so
konzipiert werden, dass an konkreten Orten Aspekte erforscht werden, die über die Lokalität
hinausweisen. Hier treffen globale kulturelle
Flüsse auf spezifische Gegebenheiten und erfahren so jene Differenzierungen, die die Dynamik kultureller Prozesse ausmachen. Das bedeutet keineswegs, dass es nicht auch andere
Untersuchungsformen und -bereiche gibt, mit
und an denen kulturanthropolgische Themen
Einführung in die Europäische Ethnologie
88
• sinnvoll erforscht werden können. Selbstverständlich kann die Komplexität des Zusammenspiels kultureller Flüsse, verschiedener Bedeutungsebenen und konkreter Praktiken heute
nicht allein in einzelnen lokal gebundenen Gemeindestudien erforscht werden. Sollen transnationale Gemeinschaften in den Blick genommen
werden, dann sind Formen „mobiler Feldforschung“ an unterschiedlichen Orten unerlässlich.
Hier interessiert allerdings, wie sich Veränderungen, die durch globale Prozesse angestoßen
werden, in einer konkreten Gemeinde niederschlagen.
• 2. Ich glaube, es gibt so etwas wie ein Ethos von
Gemeinden. Diese Eigenart,die Gemeinden oder
Einführung in die Europäische Ethnologie
89
• oder auch Städte auszeichnen können und die
sie unverwechselbar machen, hat Andrew Kirby
zu folgender Feststellung veranlasst: „Die Kommunalpolitik von Houston unterscheidet sich von
der von San Francisco, obwohl beide Städte
komplexe urbane Wirtschaftsräume sind, in denen dieselben Ziele der Wohlstandswahrung
und politischer Stabilität verfolgt werden.
• Darüber hinaus gibt es unzählige weitere
Unterschiede in den religiösen Überzeugungen,
in den Einstellungen gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Wohnsituation und Architektur sowie in den kulturellen Praktiken, kurz
gesagt: in all dem, was Clifford Geertz (1983)
‚lokales Wissen‘ genannt hat“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
90
• Eine Gemeindestudie muss also nicht nur jene
Aspekte berücksichtigen, die über eine konkrete
Gemeinde hinausweisen, sondern sie auch in
ihrer Eigenart analysieren und darstellen.
• Ein Kennzeichen von Gemeinden ist auch eine
Form von Zugehörigkeitsgefühl welches Menschen aus verschiedenen Gründen zu einer Lokalität entwickeln können. Diese Einzigartigkeit
von kleineren soziokulturellen „Gebilden“ in geeigneter Form zu repräsentieren, gehört nicht zu
den schlechtesten Traditionen anthropologischer
Forschung, obwohl dazu selbstredend auch der
Blick über die Grenzen der Gemeinde zählt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
91
• 3. Eine Gemeindeforschung neuer Prägung
muss sich zudem davon verabschieden, ein holistisches Bild einer ganzen Gemeinde zu vermitteln und eine zeitlose Perspektive zu entwerfen. Es wurde bereits darauf verwiesen, wie problematisch die Unterscheidung von Gemeinde
als Objekt oder Methode ist. Es gibt sinnvolle
Gründe, beide Perspektiven im Auge zu behalten und zwar durchaus gleichzeitig. Es gilt vor
allem der Prozesshaftigkeit der kulturellen Phänomene gerecht zu werden, indem man nicht
nur synchrone Ausschnitte produziert, die dann
im ethnographischen Präsens präsentiert werden und ein zeitloses Bild einer einzigen Realität
suggerieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
92
• Es bedarf der Ergänzung durch eine diachrone
Betrachtungsweise, wofür historische Methoden
und Materialien herangezogen werden müssen,
damit sich die Perspektiven einer Gegenwartsund einer historischen Ethnographie verbinden
können.
• 4. Den symbolischen wie realen Grenzen, die
eine Gemeinde von einer Außenwelt oder von
verschiedenen Außenwelten trennen, muss
besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Diese Grenzen dürfen jedoch nicht als etwas
Undurchlässiges verstanden werden, sondern
als ein Raum oder ein Feld, in dem sich die
Dinge vermischen und Neues entsteht.
Einführung in die Europäische Ethnologie
93
• Gleichzeit muss auf die internen Grenzziehungen geachtet werden, denn Gemeinden sind
nie harmonieträchtige Gebilde ohne Stratifizierungsmerkmale, sondern sind unter anderem
durch Hierarchien, Machtverhältnisse und verschiedene Gruppierungen geprägt.
• Heute wird oft behauptet, lokale Identität, Ansässigkeit und face-to-face-Kommunikation spielten
eine immer geringere Rolle und Gemeindeforschungen suggerierten oder konstruierten diesbezüglich etwas, was gar nicht mehr existiert.
Dabei handelt es sich um einen voreiligen Abgesang an historisch entwickelte Lebenswelten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
94
• Die Reduktion von Komplexität führt nicht nur
außerhalb sondern auch innerhalb der Akademie zu Vorausurteilen. Sicherlich, wenn die Europäische Ethnologie dahin tendiert, aus einer
Schreibtischperspektive die kulturellen und sozialen Veränderungen in den europäischen Gesellschaften zu untersuchen, dann mag der Eindruck entstehen, als lösten sich bisherige Relevanzsysteme vollständig auf und die Menschen
befänden sich in einem Zustand ständiger Mobilität, und in einem Reich der Freiheit freiwillig
gewählter Verortungen und Identitätskonstruktionen. Es soll nun nicht behauptet werden, Phänomene der Individualisierung, der Mobilität und
der Enttraditionalisierung spielten keine Rolle,
Einführung in die Europäische Ethnologie
95
• aber die Welt war schon immer komplexer, als
die Produzenten einfacher Wahrheiten und „logischer“ Entwicklungsmuster uns glauben machen wollten. So können sich vermeintliche
Ungleichzeitigen als besonders überlebensfähig
erweisen. Wenn wir erst einmal die eigene Lebenswelt und die Zitadellen der Metropolen verlassen, so finden wir im Lokalen eine Vielzahl
von Vergemeinschaftungs- und Identitätsbildungsprozessen, die einer genaueren Erforschung durch die Europäische Ethnologie harren, die damit zu einem komplexeren und realitätsgerechteren Bild sozialer Wirklichkeit beitragen könnte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
96
Identität
• Identität ist zweifellos ein wichtiger Begriff für die
Volkskunde und darüber hinaus für die Kultur- und
Sozialwissenschaften. Identität bedeutet zunächst
einmal die Übereinstimmung eines Gegenstandes
mit sich selbst, sein „In-Sich-Gefestigt-Sein“.
• Der Begriff Identität ist zunächst vor allem in der
Sozialpsychologie und in der Entwicklungspsychologie verwendet worden.
• In der Sozialpsychologie u.a. bei George Herbert
Mead (1863-1931), dessen Ansätze aber erst viel
später aufgegriffen wurden, als er sie geäußert
hatte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
97
• In der Entwicklungspsychologie war es der Psychoanalytiker und Psychotherapeuth Erik H. Erikson (1902-1994), der den Identitätsbegriff verwendete und über seine Disziplin hinaus popularisierte.
• Erikson kam als Sohn dänischer Eltern bei Frankfurt am Main auf die Welt. Nachdem sich seine Eltern schon vor seiner Geburt getrennt hatten, heiratete seine jüdische Mutter einen jüdischen Arzt.
• Erikson verließ Deutschland im Jahr 1933, um
dann in den Vereinigten Staaten als Entwicklungspsychologe zu reüssieren.
• Erikson beschrieb die Entwicklung der Ich-Identität
als einen langwierigen Prozess.
Einführung in die Europäische Ethnologie
Erik H. Erikson
98
Einführung in die Europäische Ethnologie
99
• Er wurde mit seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung bekannt. Dieses Modell unterteilt
die Entwicklung des Menschen von seiner Geburt
bis zu seinem Tod in acht Phasen.
• Eriksons Schlüsselkonzept ist jenes der Identität
bzw. der Ich-Identität, die in jeder dieser Phasen
durch Auseinandersetzung mit seiner Umwelt herausgebildet wird.
• Ein Schwerpunkt seiner Analyse, das wird durch
die Stufen deutlich, liegt bei der Entwicklung der
Kinder und Jugendlichen, die zwischen Nachahmung und Abgrenzung von Erwachsenen changieren müssen, um eine Ich-Identität ausbilden zu
können.
Einführung in die Europäische Ethnologie
100
Phasen
Psychosoziale
Krisen
Radius wichtiger
Beziehung.
Grundstärken
Kernpathologie/
Grundlegende
Antipathien
Ich-Erkenntnis
I: Säuglingsalter
Grundvertrauen /
Grundmisstrauen
Mütterliche
Person
Hoffnung
Rückzug
Ich bin, was man
mir gibt
II: Kleinkindalter
Autonomie /
Scham + Zweifel
Eltern
Wille
Zwang
Ich bin, was ich
will
III: Spielalter
Initiative /
Schuldgefühl
Kernfamilie
Entschlusskraft
Hemmung
Ich bin, was ich
mir vorstellen
kann zu werden
IV: Schulalter
Regsamkeit /
Minderwertigkeit
Nachbarschaft/
Schule
Kompetenz
Trägheit
Ich bin, was ich
lerne
V: Adoleszenz
Identität / Identitätskonfusion
Peer-Groups und
fremde Gruppen
Treue
Zurückweisung
Ich bin, was ich
bin
VI: Frühes Erwachsenenalter
Intimität
/Isolierung
Partner, Freundschaft, Sexualität, Wettbewerb,
Zusammenarbeit
Liebe
Exklusivität
Ich bin, was mich
liebenswert
macht
VII: Erwachsenenalter
Generativität /
Stagnation
Arbeitsteilung
und gemeinsamer Haushalt
Fürsorge
Abweisung
Ich bin, was ich
bereit bin zu
geben
VIII: Alter
Integrität
/Verzweiflung
„Die
Menschheit“,
Menschen
meiner Art“
Weisheit
Hochmut
Ich bin, was ich
mir angeeignet
habe
Einführung in die Europäische Ethnologie
101
• Bei Erikson vollzieht sich der kindliche Identitätsaufbau räumlich, körperlich, psychisch, emotional
und sozial. So löst sich das Kind aus der emotionalen Symbiose mit den Eltern und der Familie
und integriert sich in die so genannten peer groups
– also Gleichaltrigengruppen.
• Diese Integrationsleistungen sind nach Erikson
allerdings nicht nur bei Kindern und Jugendlichen,
sondern auch in den weiteren Lebensabschnitten
immer wieder nötig.
• Interessanterweise hat Erikson zwar mit dem Identitätsbegriff gearbeitet und diesen auch für sein
Phasenmodell verwendet, aber er hat nie wirklich
dargelegt, was er darunter versteht.
Einführung in die Europäische Ethnologie
102
• Überhaupt ist es mit dem Identitätsbegriff so, wie
mit vielen anderen Begriffen, die uns hier
beschäftigen. Er ist etwas unscharf und wird zum
Teil in unterschiedlicher Form verwendet.
• Bei aller Unschärfe beinhaltet er ein konstitutives
Merkmal und das ist seine soziale Dimension.
• Der Soziologe Anselm Strauss hat dies gut zum
Ausdruck gebracht: „Identität ist immer verbunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner
selbst – durch sich selbst und durch andere.“
• Identität konstituiert sich also, das haben wir ja
auch in Eriksons Modell gesehen, durch Auseinandersetzung mit anderen Menschen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
103
• In dieser Auseinandersetzung hat das Individuum
die Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen
und Erwartungen sowie den Erwartungen und Anforderungen der Anderen auszugleichen.
• Identität ist ein ständiger Balanceakt: Einerseits
bedarf der Einzelne der Bestätigung durch andere,
um sich als identisch zu erfahren. Andererseits
darf er den Erwartungen der Anderen nur in einem
solchen Umfang entsprechen, dass er nicht in
deren Erwartungen aufgeht, will er als eigenes
Subjekt mit seiner Lebensgeschichte und seinen
Erwartungen und Bedürfnissen in der Interaktion
zur Geltung kommen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
104
• Bei all diesen Ausbalancierungsbemühungen ist es
dennoch so, dass der Begriff Identität ein Moment
von Ordnung und Sicherheit verkörpert inmitten
eines ständigen Wandels und Wechsels.
• Insofern meint er aber auch nichts Festes und
Starres, sondern ist durchaus elastisch.
• Der Begriff Identität ist ein analytisches Konstrukt.
Dieser Konstruktionscharakter bedeutet aber keineswegs, dass Identität nicht direkt erfahrbar wäre.
• Identität ist z.B. als ein Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner
Umgebung erfahrbar.
Einführung in die Europäische Ethnologie
105
• Deutlicher noch ist es in seiner negativen Form
wahrzunehmen – nämlich im Bewusstsein oder
Ge-fühl mangelnder Übereinstimmung.
• „Identität bezeichnet“ – nach Hermann Bausinger –
die Fähigkeit des Einzelnen“, „sich über alle Wechselfälle und Brüche hinweg der Kontinuität seines
Lebens bewusst zu bleiben.“
• In diesem Sinn kann man Identität als ein Grundmuster verstehen, das die Menschen dazu anleitet,
sich als soziales Wesen in seine Umwelt einzupassen. Einpassen meint aber nicht vollständiges Anpassen. Vielmehr will das Individuum durch Übereinstimmung ebenso wie durch Abgrenzung seinen spezifischen „sozialen Ort“ finden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
106
• Dabei meint Identität immer zweierlei: einerseits eine relativ konsistente Vorstellung von seinem sozialen Ich und andererseits einen Aushandlungsprozess über diese Vorstellung.
• Die Vorstellung und die Aushandlungsprozesse
enthalten dabei immer sowohl eher feste als auch
eher verhandelbare Komponenten.
• Viele Formen geschlechtlicher, religiöser und auch
sozialer Identität können üblicherweise selten verändert werden, wenn es denn überhaupt gewollt
wird. So gibt es zum Beispiel – bezogen auf die
Gesamtgesellschaft in Deutschland – relativ wenige Menschen, die ihre geschlechtliche Identität
ändern möchten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
107
• Oder ein anderes Beispiel: Ab dem Zeitpunkt, wo
man sich bewusst zu einer religiösen Gemeinschaft bekennt, wird dieser Aspekt religiöser Identität ebenfalls seltener gewechselt.
• Und wie wir aus vielen Studien – etwa zur Elitenforschung – wissen, lässt sich auch unsere soziale
Identität weniger leicht wechseln, als wir das in
unserer Leistungsgesellschaft vermuten.
• Es gibt aber bestimmte Wertvorstellungen, Stile
oder altersbedingte Rollen, die zwar für den Moment ebenfalls sehr stabil scheinen, um zu einem
geschlossenen Selbstbild zu gelangen, die aber
dennoch wandelbar sind und manchmal sogar
kurzfristigen Veränderungsprozessen unterliegen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
108
• Damit sind wir auch bei einer Schwierigkeit des
Identitätsbegriffs. Aus dem bisher Gesagten dürfte
deutlich geworden sein, dass wir von einer
personalen oder Ich-Identität und einer kollektiven
Identität sprechen können.
• Ebenso deutlich dürfte sein, dass die personale
Identität nicht unabhängig von der kollektiven Identität betrachtet werden kann, sie sind miteinander
verschränkt.
• In dieser Unterscheidung zwischen personaler und
kollektiver Identität liegt eine der Ursachen, warum
der Identitätsbegriff in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten ist.
Einführung in die Europäische Ethnologie
109
• Eine andere Ursache liegt in den sich wandelnden
Begrifflichkeiten in der Wissenschaftslandschaft.
• Stuart Hall spricht etwa von einer „Krise der Identität". Diese Krise, sei „als Teil eines umfassenden
Wandlungsprozesses zu sehen, der die zentralen
Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften“ verschiebt. So würden die Netzwerke unterminiert, die den Individuen in der sozialen Welt eine
stabile Verankerung gaben“.
• Aus diesem Grund sympathisiert Hall mit der These einer dezentrierten oder fragmentierten Identität; diese ist „nicht aus einer einzigen, sondern aus
mehreren, sich manchmal auch widersprechenden
oder ungelösten Identitäten zusammengesetzt“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
110
• In diese Richtung argumentieren viele weitere Autoren, unter denen der Soziologe Zygmunt Bauman und der Sozialpsychologe Heiner Keupp, der
hier an der LMU gelehrt hat, genannt seien.
• Identität ist zudem situationsabhängig. Die eigene
Identität mag zwar durch gewisse Verhaltensmassregeln und Identitätsmerkmale vorbestimmt sein,
aber ein konkretes Verhalten hängt immer von den
Kontexten ab, in denen wir uns befinden.
• Zwar werden wir in irgendwelchen Gesprächssituationen kaum unsere geschlechtliche oder Altersidentität grundsätzlich in Frage stellen können
und wollen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
111
• Aber wie wir Züge unseres Selbstbildes nuancieren, hängt von der jeweiligen Situation und davon ab, über wie viel Verhaltensspielraum wir in
solchen Situationen verfügen.
• Identität bezieht sich also immer auch auf ein
konkretes Aushandeln in konkreten Situationen.
In solchen Situationen kann es jeweils unterschiedliche Zuordnungen und Bezüge geben.
Jeder soziale Ort weist eigene Strukturen von
Verhaltensregeln und Verhaltensspielräumen
auf. Die Verhaltensregeln liegen relativ fest und
müssen respektiert werden (Wolfgang Kaschuba).
Einführung in die Europäische Ethnologie
112
• Die Verhaltensspielräume sind relativ offen und
können gestaltet werden. Deshalb ist die Herausbildung einer Identität immer eine soziale Praxis,
bei der allgemeine Regeln und Vorstellungen über
die eigene Identität in konkretes Verhalten umgesetzt werden.
• Ein Beispiel für die Situationsabhängigkeit von
Identitätskonstruktionen stammt aus der Gemeindestudie in der Südweststeiermark, mit der ich die
Vorlesung eingeleitet habe.
• Da unterhielten wir uns etwa mit dem größten
Bauern im Ort, der uns erzählte, wie er in dieser
peripheren Lage versucht, wirtschaftlich Erfolg zu
haben.
Einführung in die Europäische Ethnologie
113
• Er ist besonders darauf bedacht, sein Österreichertum
herauszustreichen.
Dieses
Österreicher-tum versteht er dabei als ein
deutschsprachiges. Im Interview meint er unter
anderem: „Ja, ich habe von Grazern gehört,
dass das ein zweisprachiges Gebiet ist.“
• Daher konnte ich es im Nachhinein fast nicht
glauben, als ich hörte, dass Slowenisch seine
Muttersprache ist und auch seine Frau aus Slowenien stammt. Seine Ziehmutter und deren
Schwester stammen zudem beide aus dem slowenischen Teil Kärntens und sprechen untereinander kaum ein Wort Deutsch.
Einführung in die Europäische Ethnologie
114
• In unterschiedlichen Kontexten werden also unterschiedliche Rollen gespielt, was häufig problemlos
vonstatten geht, manchmal aber zu größeren
Schwierigkeiten führen kann. In diesen Situationen
findet nämlich jeweils ein Aushandlungsprozess
zwischen den Selbstbildern und den Fremdbildern
statt und dabei handelt es sich um einen sehr komplizierten Balanceakt.
• Besonders deutlich wird das, wenn dieser Balanceakt nicht gelingt, wenn wir es also nicht schaffen, Fremdbild und Selbstbild „unter einen Hut“ zu
bekommen. Das passiert etwa, wenn Andere auf
uns nicht entsprechend reagieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
115
• Daraus können zwei Problemlagen entstehen.
Einerseits ein Identitätsverlust und andererseits
Überidentifikation.
• Der Identitätsverlust kann bei existentiellen oder
psychischen Krisen der Fall sein (Vgl. dazu und im
Folgenden: Kaschuba, Einführung).
• Überidentifikation dann, wenn ein zentraler Identitätsbezug völlig in den Vordergrund rückt, wenn
also jemand völlig von einem zentralen Identitätsbezug abhängig wird. Etwa von einem bestimmten
Körperlichkeitsbild oder von der Akzeptanz einer
bestimmten Bezugsgruppe – als besonders drastische Beispiele könnten hier Sekten oder nationalistische Bewegungen genannt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
116
• In diesem Zusammenhang ist es wichtig, ob man
die Frage der Identität vom Individuum her denkt
oder von einem Kollektiv. Vom Individuum her gedacht bedeutet Identitätskrise „eine intensiv erlebte
Erfahrung grundlegender sozialer und kultureller
Dissonanzen mit der gesellschaftlichen Umwelt.
• Der Begriff Identitätskrise wird aber auch im Zusammenhang mit kollektiver Identität oder kollektiven Identitäten genannt. Etwa im Zusammenhang
mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.
• Da werden Identitätskrisen als Ausdruck jener Erfahrungen gedeutet, die in Form rasanten sozialen
und kulturellen Wandels auf die Menschen zukommen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
117
• Etwa durch globale Veränderungen von ökonomischer und technologischer Rationalität oder durch
eine zunehmende Entwurzelung durch Mobilität
und Migration.
• Verschiedene Wissenschaftler haben sich in den
letzten Jahren dazu geäußert. George Marcus etwa hat den Tod der Trope des Lokalen in der Anthropologie proklamiert (Trope ist in der Rhetorik
eine Stilfigur, wobei für einen Ausdruck ein
verwandter bildhafter Begriff eingesetzt wird).
• Er meint, die Idee einer ortsgebundenen Produktion von Identität sei nicht mehr länger gültig, weil
Identität simultan an verschiedenen Orten hergestellt würde, an denen Aktivitäten stattfinden –
daher sein Konzept einer multi-sited Ethnography.
Einführung in die Europäische Ethnologie
118
• Vom Subjekt her gedacht, mag diese Behauptung
berechtigt sein, wie auch Stuart Hall argumentiert.
• Hall sieht die Entstehung eines postmodernen
Subjekts, „das ohne eine gesicherte, wesentliche
oder anhaltende Identität konzipiert ist. Identität
wird ein ‚bewegliches Fest‘. Sie wird im Verhältnis
zu den verschiedenen Arten, in denen wir in den
kulturellen Systemen, die uns umgeben, repräsentiert oder angerufen werden, kontinuierlich gebildet
und verändert“.
• In eine ähnliche Richtung tendieren die Ausführungen des britischen Soziologen Zygmunt Bauman:
Der Existenzmodus der Subjekte sei gekennzeichnet durch unzureichende Bestimmtheit, Unabgeschlossenheit, Motilität und Wurzellosigkeit.
Einführung in die Europäische Ethnologie
119
• Die Identität des Subjekts sei weder vorgegeben,
noch werde sie autoritativ bestätigt. Sie muss konstruiert werden, jedoch kann kein Konstruktionsentwurf als vorgeschrieben oder narrensicher gelten. Die Konstruktion der Identität bestehe aus aufeinander folgenden Versuchen und Irrtümern“.
• Trotz oder sogar wegen dieser Veränderungen gibt
es Formen einer kollektiven Identität, die hier noch
etwas beleuchtet werden sollen.
• Clifford Geertz meinte einmal, kein Mensch lebe in
der Welt im allgemeinen, „jeder, sogar der Exilierte, der Getriebene, der Diasporische (…), lebt in
einem eingeschränkten und begrenzten Ausschnitt
davon – der Welt um einen herum“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
120
• Ausgehend davon sind jene Schnittmengen fragmentierter personaler Identitäten interessant, die
wiederum ein Kollektiv ergeben.
• Zwar hat Hermann Bausinger schon vor mehr als
zwanzig Jahren auf die Gefahr hingewiesen, dass
häufig unreflektiert von Kollektividentitäten gesprochen wird, aber er konstatierte eben auch, dieses
Konstrukt Identität sei „als Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und mit
seiner Umgebung“ direkt erfahrbar.
• Viele Untersuchungen innerhalb der Europäischen
Ethnologie haben sich daher mit Fragen lokaler
oder regionaler Identitätskonstruktion auseinandergesetzt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
121
• Wenn man sich solchen Fragen lokaler oder
regionaler Identitätskonstruktion zuwendet, muss
man sich auch gewisser Gefahren bewusst sein.
Etwa dass durch die Begrenztheit des örtlichen
Erlebens durch einen Forscher, der sich an einem
bestimmten Ort aufhält, auch ein begrenzter
Blickwinkel entstehen kann, der wichtige Dinge
ausblendet: etwa die Außenbeziehungen.
• Damit wird nicht bestritten, dass territoriale Bindungen mit Identität verknüpft werden, sondern es
werden Denkmuster hinterfragt, in denen Identität
und räumliche Bindung zwangsläufig als Einheit
gedeutet werden. Daher sollten Aspekte einer lokalen Identität als eine Möglichkeit unter anderen
Möglichkeiten verstanden werden, territoriale Zugehörigkeit & Identitätskonstruktion zu verbinden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
122
• Dennoch: Der „Dauerbrenner“ Identität, wie es
Konrad Köstlin ausgedrückt hat, spielt sich hauptsächlich auf lokaler Ebene ab: „in Gewohnheiten,
im Dialekt, auf immer wieder gegangenen Wegen
und landschaftlichem Bild basierend, bei Gerüchen
und Geräuschen“.
• Dieser lokale Raum ist für die Menschen von
zentraler Bedeutung, hier findet ein Großteil jener
identitätsstiftenden Interaktionen statt, die für Menschen so bedeutsam sind.
• Dabei wird der Grundstein für jene Diskursformationen gelegt, als welche Aleida Assmann kollektive Identitäten sieht. Diese Identitäten stehen und
fallen mit jenen Symbolsystemen, „über die sich
die Träger einer Kultur als zugehörig definieren
und identifizieren“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
123
• Lokale Identität speist sich einerseits aus Quellen
der Kommunikation und Interaktion, andererseits
aus den Möglichkeiten, eigene Bedürfnisse – z. B.
nach Wohnen und Arbeit, nach der Teilhabe an
politischen Entscheidungen, nach der Gestaltbarkeit usw. – in der eigenen Lebensumwelt zu befriedigen.
• Einen besonderen Weg zur Erforschung und sogar
Überprüfung lokaler Identität beschritt die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus.
• Ausgehend von der Untersuchung von Dorferneuerungen, die mit den Modernisierungsprozessen
seit den 1960er Jahren einhergingen, interessierte
sie sich für die Einstellung der dörflichen Bevölkerung zu den Veränderungsprozessen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
124
• Sie rückte sowohl bei den Veränderungen als
auch bei der Frage des Denkmalschutzes Fraugen der Raumbezogenheit und der Raumorientierung von Menschen ins Zentrum ihres Interesses.
• Mit ihrem Vorgehen wollte sie ein öffentliches
politisches Vorgehen erreichen, das ein die Privatinteressen übergreifendes und ortsbezogenes Handeln ermöglicht. Über aktive Mitgestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten sollte eine
Identifikation der Bewohner mit ihrem Ort stattfinden.
• Greverus stellte drei Hypothesen bezüglich
räumlicher bzw. lokaler Identität auf:
Einführung in die Europäische Ethnologie
125
1. Die Identifikation mit einem Raum hängt vom Grad
der in diesem Raum möglichen Befriedigung von
Lebensbedürfnissen ab, denen verschiedene
Raumorientierungen zugrunde liegen. Je besser
diese Bedürfnisse befriedigt werden, desto größer
ist das Identifikationspotential, das zur Anerkennung dieses Raums führt.
2. Je konfliktreicher sich in einem gegebenen Raum
für die Einzelnen die unterschiedlichen Raumorientierungen gegenüberstehen und je sozioökonomisch heterogener der Raum besetzt ist, desto
stärker ist die Tendenz zur privatistischen Konfliktlösung im Rahmen individueller und/oder interessengruppenspezifischer Möglichkeiten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
126
3. Je stärker in eine räumliche Entwicklungsplanung
eine kollektive Konfliktlösungsstrategie einbezogen wird, desto größer sind die Chancen für eine
solidarische Zusammenarbeit der Bewohner hinsichtlich der Interessenvertretung ihres Lebensraumes.
• Zur Überprüfung dieser Hypothesen hat Greverus
dann ihr so genanntes Raumorientierungsmodell
entwickelt, bei dem es sich um die Weiterentwicklung eines Modells des Soziologen Erik Cohen handelt. In ihrem Modell gibt es vier wesentliche Raumorientierungskategorien:
1. Die instrumentale Raumorientierung bezieht sich
auf die Ressourcen für die materielle Existenzsicherung, ihre Erschließung und ihre Nutzungsmöglichkeiten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
127
2. Die kontrollierende Raumorientierung bezieht sich
sowohl auf die formelle als auch informelle Kontrolle
und Mitbestimmung, die die Bewohner im öffentlichen und privaten Bereich der Raumnutzung und –
gestaltung besitzen.
3. Die soziokulturelle Raumorientierung erwächst aus
der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen
sozialen und kulturellen Betätigungsmöglichkeiten.
Dazu zählen Interaktionsmöglichkeiten, Erholungsmöglichkeiten und insgesamt die verschiedenen
Aktivitätsmöglichkeiten.
4. Die symbolische Raumorientierung bezieht sich sowohl auf ästhetische Präferenzen als auch auf die
spezifischen Traditions-, Image- und Erinnerungswerte, die mit den Räumen und Raumdetails
verbunden sind und in die Weltsicht der an ihnen
orientierten Menschen eingehen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
128
• Je konfligierender sich nun in einem gegebenen
Raum die unterschiedlichen Raumorientierungen
gegenüberstehen, desto stärker wird die Identitätsdiffusion in und gegenüber diesem Raum sein,
desto stärker wird die Identität beschädigt.
• Hinter dem Raumorientierungsmodell steht der
Gedanke, dass alle vier Kategorien für das menschliche Wohlbefinden von gleicher Wichtigkeit
sind, gerade in den gegenwärtigen komplexen
Gesellschaften aber von einem ausgewogenen
Verhältnis der Raumorientierungen nicht mehr die
Rede sein kann.
• Bei Untersuchungen auf der Basis des Raumorientierungsmodells wurde auf eine ganze Palette
von Untersuchungsmethoden zurückgegriffen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
129
• Wenn es um regionale Identität geht, finden sich
oft positive Zuschreibungen an Orte Regionen etc.
• Es gibt aber auch die Kehrseite solcher Identitätsbildungsprozesse. Dafür bringt Wolfgang Kaschuba in seiner Einführung in die Europäische Ethnologie ein glänzendes Beispiel:
• Jean Améry (1912 in Wien geboren, im Salzkammergut aufgewachsen, und nach einer Buchhandelslehre in Wien an der Volkshochschule tätig,
ehe er 1938 nach Belgien floh. Zweimal von den
Nationalsozialisten verhaftet, schwer gefoltert und
in die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald
und Bergen Belsen verbracht – überlebte und war
nach dem 2. Weltkrieg als Essayist und
Schriftsteller tätig, wählte 1978 den Freitod).
Einführung in die Europäische Ethnologie
130
• Améry hat die Schwierigkeiten mit dem Begriff
Heimat aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen immer wieder zum Thema gemacht – unter
anderem in seinem Essay „Wieviel Heimat braucht
der Mensch?“
• Darin schildert er, wie er als österreichischer Jude
– allerdings als assimilierter, katholisch erzogener
Jude – und Linker 1938 vor dem Nazismus nach
Belgien flieht, in Antwerpen als Exilant und Antifaschist jenes Deutschland bekämpft, sich zugleich aber auch vor Heimweh nach ihm verzehrt.
• Améry beteiligt sich am aktiven Widerstand. Kurz
bevor er 1943 verhaftet, gefoltert und ins
Konzentrationslager gesteckt wurde, erlebte er
Folgendes.
Einführung in die Europäische Ethnologie
131
• Seine Wohnung, die als Stützpunkt der illegalen
Arbeit dient, wird von einem im Hause wohnenden
SS-Mann betreten, der sich nichts ahnend lediglich wegen des Lärms aus dieser Nachbarwohnung beschweren und seine Nachtruhe einfordern
will. Die Situation wird für Améry grotesk und er
schreibt: „Er stellt seine Forderung – und dies war
für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene – im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte
lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und
darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch,
ihm in seiner Mundart zu antworten. Ich befand
mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn
der Kerl … erschien mir plötzlich als ein potentieller Kamerad.“
Einführung in die Europäische Ethnologie
132
• Einerseits fühlt sich Améry überwältigt durch die
Rührung, diesen seit Jahren nicht mehr vernommenen Dialekt als „Heimatklang“ wieder zu hören
– die Sprache als den symbolischen Ort der
Heimat.
• Andererseits überwältigt ihn die Todesangst dieser
Situation, in der sein Landsmann zu seinem Mörder werden könnte. Es ist ein fast absurder Zwiespalt, der gefühlsmäßige Momente eines völligen
Identisch-Seins mit dem klaren Wissen eines
absoluten Nicht Identisch-Seins verbindet.
• Was heißt da Heimat, was nationale Identität,
wenn er bei Fremden in Belgien Sicherheit finden,
während er vom Nachbarn den Tod erwarten
kann?
Einführung in die Europäische Ethnologie
133
• Améry antwortet darauf: „Die Feindheimat wurde
von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das
Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden
war. Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat
wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch
das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz
verlangte.“
• Interessant ist hier allerdings nicht nur die Frage,
die Wolfgang Kaschuba stellt, was hier Heimat
heißt. Ebenso interessant ist die Tatsache, dass
Améry seiner Herkunftsregion affektiv so verbunden ist, dass er es trotz aller Schrecken und Geschehnisse nicht vermag, diese emotionale
Bindung zu kappen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
134
• Identität konstituiert sich überhaupt erst durch die
Bezugnahme auf ein Anderes. Diese klassische
Konstruktion, das „Eigene“ vom „Anderen“ oder
„Fremden“ zu unterscheiden, diente der Versicherung seiner selbst.
• Das „Andere“ konnte als „Fremdes“ getrennt vom
„Eigenen“ gedacht werden – es war sozusagen
eine andere Welt irgendwo außerhalb des eigenen
Kosmos.
• Wenn heute die Rede von „kultureller Identität“ ist,
dann häufig in einem ganz spezifischen und für
unsere Disziplin gefährlichen Sinn – nämlich dann,
wenn kulturelle und ethnische Identität gleichgesetzt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
135
• Der Sozialwissenschaftler Frank-Olaf Radtke hat
einmal einen groben historischen Überblick über
Inklusions- und Exklusionsmechanismen gegeben.
• Er meinte im Mittelalter wurde die Vorstellung von
Innen und Außen durch die Religion geregelt. In
der Zeit des Industrialismus und Kolonialismus sei
die „Rasse“ als Unterscheidungskriterium in den
Mittelpunkt getreten; danach hätten Volk und Nation, die auf einer positiven Bestimmung von Gemeinschaft beruhten, die Betrachtung von Innen
und Außen bestimmt.
• Am Ende des 20. Jahrhunderts sei es nun die
„Kultur“, mit der die Differenz zwischen „eigen“ und
„fremd“ ausgedrückt werde.
Einführung in die Europäische Ethnologie
136
• In dieser von vielen Sozialwissenschaftlern geteilten Einschätzung erscheint das Konzept von „Kultur“ als Fortschreibung rassistischer und nationalistischer Ausgrenzungsstrategien. Demzufolge wird
Kultur, so wie zuvor Rasse oder Nation, als Unterscheidungsmerkmal zur Einordnung von Menschen in feststehende Kollektive eingesetzt.
• Bestehende Unterschiede in der Bevölkerung werden kulturalisiert, um die sozialen und ökonomischen Differenzen zu verschleiern. Die Zuschreibung Kultur lege Menschen auf eine Zugehörigkeit
zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften fest. Französische Kritiker wie Pierre-André Taguieff bezeichneten Kultur daher als
eine Art kollektiven Kerker, in dem das Individuum
gefangen bleibt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
137
• Diese sozialwissenschaftliche Debatte ist auch in
den ethnologischen Disziplinen nicht unbekannt.
Auch hier wurde kritisiert, dass der Kulturbegriff
zur Ausgrenzung von Migranten und Minderheiten
herangezogen wird.
• Wolfgang Kaschuba etwa thematisierte die verzerrte Interpretation von sozialen Problemen als
Ausdruck kultureller Differenzen als eine zunehmende Tendenz zum Kulturalismus.
• Mit dem Begriff des „Othering“ wurde darauf hingewiesen, dass praktisch aus der Disziplin selbst
ein Beitrag zur Bereitstellung von Fremdheit als
Ausgrenzungskategorie geleistet wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
138
• Dennoch unterscheiden sich die Debatten in den
Sozialwissenschaften und in den anthropologischen Disziplinen in einem Punkt maßgeblich. Die
anthropologischen Disziplinen, wir haben das ja in
dieser Vorlesung schon durchgenommen, gehen
von einem Kulturbegriff aus, der weit über die
Ethnisierung hinausweist.
• Kultur verstehen wir als eine Praxis sozialer Verständigung und symbolischer Darstellung. Insbesondere geht es uns um die Analyse der Prozesse
sozialen Wahrnehmens und Deutens, um die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, dem Aushandeln von Sinnzusammenhängen und die Praktiken symbolischer Ein- und
Ausgrenzung.
Einführung in die Europäische Ethnologie
139
• Das verweist auf alle Phänomene der Alltagskultur
und auf die Dynamiken, die sich etwa aus dem
Zusammentreffen unterschiedlicher Gruppierungen ergeben.
• Kultur wird nicht nur ethnisierend verstanden.
• In den ethnologischen Disziplinen erschöpft sich
Kultur also nicht in dem Aspekt menschlicher
Kulturgebundenheit, die an den Traditionsbestand
einer Herkunftsgruppe gebunden ist.
• Zum Konzept der Kultur gehört genauso der Aspekt der Kulturfähigkeit, die es ermöglicht mit Situationen kreativ umzugehen. So führt das Aufeinandertreffen des Eigenen mit dem Anderen nicht
automatisch zur Ausgrenzung, sondern führt meist
sogar zur Entstehung von etwas Neuem.
Einführung in die Europäische Ethnologie
140
• Dies steckt etwa schon in dem Bild von „Collage“,
mit dem Ina-Maria Greverus gearbeitet hat und mit
dem sie den produktiven Umgang von Menschen
mit Fremdem zeigen wollte.
• Auch Hermann Bausinger betonte, Kultur sei die
Fähigkeit des Menschen, auf Veränderungen mit
Veränderungen zu reagieren.
• Diese prinzipielle Offenheit, die wir im Alltag ständig beobachten können, ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist aber die, dass sich Gruppen oder sogar ganze Gesellschaften dennoch
nach dem Prinzip der Kulturgebundenheit voneinander abgrenzen. Dabei wird – bewusst oder
unbewusst – die Fähigkeit zum Kulturaustausch
und zur Durchlässigkeit außer Acht gelassen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
141
• Ethnische Fremd- und Selbstdefinitionen und ihre
politische Verwendung scheinen gerade in den
spätmodernen komplexen Gesellschaften wieder
zuzunehmen.
• In seinem Klassiker „Ethnic Groups and Boundaries“ ist Frederik Barth der Frage nachgegangen,
wie sich ethnische Identität formiert und welche
Rolle Kultur dabei spielt.
• Seine Hauptthese meint, dass es keine vorexistente objektive Kultur ist, aus der eine ethnische
Gruppe als natürliche Repräsentantin dieser Kultur
hervorgeht. Vielmehr kreieren sich ethnische
Gruppen aus ihren kulturellen Ressourcen Unterscheidungsmerkmale, um sich nach innen zu vergemeinschaften und nach außen abzugrenzen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
142
• Erst in diesem Prozess konstruiert sich die Ethnie als distinkte Gruppe mit eigenen Traditionen
und eigener Herkunftsgeschichte.
• Barth muss durch Ansätze aus der politischen
Anthropologie und verwandter Disziplinen ergänzt werden, wofür die Namen Benedict Anderson, Ernest Gellner oder Eric Hobsbawm stehen.
• Auch bei Ihnen wird die Konstruktion ethnischer
Identität nicht als quasi zeitlose Form betrachtet,
sondern als Produkt einer ganz bestimmten
historischen Entwicklung. Es ist die Idee der Nation, die ausgehend vom 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
143
• Und mit der Idee der Nation gewinnen auch das
Prinzip des Ethnos und das Denken in ethnischen Kategorien an Bedeutung.
• Das Ethnische ist hier eine Antwort auf die Auflösung der traditionalen Strukturen, die in der
Moderne stattfinden. Das Ethnos erscheint dabei
als ein Instrument kollektiver Unterscheidung,
das sich mit der Moderne entwickelt und in der
Figur des Nationalstaats seine Wirkung zeigt.
• Erst im Rahmen dieser politisch-gesellschaftlichen Anwendung verliert das Prinzip ethnischer
Grenzziehungen jene „Unschuld“, die es bei
Barth noch hat.
Einführung in die Europäische Ethnologie
144
• Die Grenzen stehen nun für faktische Machtverhältnisse, wie sie sich typischerweise in der
asymmetrischen Beziehung zwischen ethnischen Minderheiten und nationalen Mehrheiten
ausdrücken.
• In der nationalistischen Version – vor allem in
Deutschland – erhält Ethnos in seiner Übertragung auf den deutschen Begriff Volk aber nicht
nur die Zuschreibung einer kulturellen Daseinsform, die in einer kollektiven Identität ihren Ausdruck findet.
• Zur kulturellen Dimension, die an sich schon
nicht unproblematisch ist, kommt das biologische Abstammungsprinzip.
Einführung in die Europäische Ethnologie
145
• Volkszugehörigkeit wird als Resultat des Hineingeboren-Werdens in eine Abstammungsgemeinschaft verstanden. Sie meint eine blutsmäßige
Bindung, die entsprechende Zuschreibungen
physischer, mentaler und kultureller Verwandtschaft nach sich zieht. Sie verweist auf angeblich „angestammte“ räumliche Grenzen und Territorien.
• Die Idee der Nation impliziert also eine radikale
Umorientierung der Vorstellung, wie eine Gesellschaft im Innern organisiert sein sollte.
• Bis dahin war das europäische Gesellschaftsbild
geprägt von horizontal übereinander geschichteten und klar voneinander abgegrenzten Ständen, an deren Spitze ein Herrscher regierte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
146
• Das Modell „Nation“ eröffnete dagegen die Möglichkeit einer vertikal über alle sozialen Unterschiede hinweg organisierten Gemeinschaft, die
alle zu einem Staatsvolk verbindet.
• Diese Konstruktion enthält einerseits das sozialrevolutionäre Potential eines sich selbst regierenden, demokratisch verfassten Volkes und basiert auf der Idee der Gleichberechtigung aller
Bürger.
• Andererseits enthält sie aber genauso die Vorstellung eines Volkes, das seinen Exklusivanspruch auf einen Staat und ein Territorium ethnisch begründet.
Einführung in die Europäische Ethnologie
147
• Und zwar begründet mit der Vorstellung einer jeweils eigenen, von anderen ganz klar abgrenzbaren Geschichte und Kultur als Grundlage nationaler Identität. Diese beiden Prinzipien des
Demos und des Ethnos, und die sich daraus ergebenden Widersprüche und Konflikte sind in
unterschiedlicher Gewichtung in allen modernen
Staaten weiter repräsentiert.
• Nationalisierungsprozesse sind allerdings nie
vollständig abgeschlossen. Gerade in der Entwicklung moderner Staaten wechseln sich Phasen liberaler Offenheit mit Phasen nationaler
Rückorientierung ab.
Einführung in die Europäische Ethnologie
148
• Ein gelungenes Beispiel jüngerer Nationalismusforschung stammt von der Münchner Europäischen Ethnologin Irene Götz. Sie thematisiert
die Konjunktur des Nationalen in Europa im
Zeitalter von Globalisierung und großräumiger
Mobilität.
• Sie betrachtet Diskurse und Praktiken in Deutschland nach 1989, die sie von einer Wiederentdeckung des Nationalen sprechen lassen.
• In diesem Zusammenhang spielt die LeitkulturDebatte ebenso eine Rolle wie z.B. der eher
spielerische Umgang mit nationaler Symbolik im
Rahmen der Fußball-WM 2006.
• Irene Götz: Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989. Köln 2011.
Einführung in die Europäische Ethnologie
149
• Entlang solcher Konjunkturen lassen sich wenig
ethnisierte bis zu hoch ethnisierten Kontexten
beobachten. Immer jedoch behauptet sich das
Denken in ethnonationalen Kategorien als zumindest latent vorhandenes Distinktionsmuster.
• Besonders in Zeiten ökonomischer Krisen oder
in gesellschaftlichen Umbruchsituationen scheint
sich der offensive Rückgriff auf ethnonationale
Unterscheidungsmuster und Grenzziehungen
als politische Strategie anzubieten.
• Das Denken in ethnischen Kategorien und ein
dies scheinbar begründender Kulturbegriff ist –
trotz aller Dekonstruktionsbemühungen der Wissenschaft - ein in die Moderne eingeschriebenes
Muster.
Einführung in die Europäische Ethnologie
150
• Dieses Muster ist nicht auf die Phantasien von
Nationalisten und Neo-Rassisten beschränkt.
• Wir alle haben gelernt, in diesen Kategorien zu
denken und uns die Welt wie selbstverständlich
in Nationalitäten und darauf gründende Staaten
aufgeteilt vorzustellen.
• Insofern schreibt Wolfgang Kaschuba, dass sich
ethnische Zusammengehörigkeitsgefühle nicht
nur aus Ideologie und Imagination zusammensetzen, sondern auf konkreten sozialen Praktiken beruhen.
• Bilder ethnischer Identität sind fester Bestandteil
unserer alltagskulturellen Vorstellungswelt und
ein selbstverständliches Zuordnungsschema etwa in Arbeitswelt, Medien, Literatur oder Kunst.
Einführung in die Europäische Ethnologie
151
• Noch die vehementesten Kritiker ethnonationaler
Ausgrenzung bleiben in diesem Diskurs gefangen, wenn ihnen nicht bewusst wird, wie sehr ihr
eigener Kulturbegriff ethnisch bestimmt und begrenzt wird.
• Das wird nach Frank-Olaf Radtke gerade auch bei
den Vertretern des Multikulturalismus klar, die
„kulturelle Vielfalt“ gegen nationale Einheit
verteidigen, aber letztlich nicht über die Zielvorstellung einer multiethnischen „Vielvölkerrepub-lik“
hinauskommen und so dasselbe Muster un-ter
anderen Vorzeichen perpetuieren.
• Aus anthropologischer Perspektive und unterstützt durch ethnographisches Material können
ethnonationalistische
Diskurse
dekonstruiert
werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
152
• So könnte auch die ethnisierte Verwendung von
Kultur in manchen sozialwissenschaftlichen
Diskursen überwunden werden.
• Anknüpfend an Barth können wir nämlich feststellen, dass kulturelle Praxis stets die im
ethnonationalen Diskurs angelegte Vorstellung
einer abgeschlossenen Kultur überwindet.
• Unsere Untersuchungsfelder Alltagskultur und
Identität sind dabei jene Felder, an denen immer
schon widerständige Erfahrungen unbedrohlicher, grenzüberschreitender Verständigung gemacht werden können. Und sie wäre zudem jenes Feld, in dem das Potential einer Vergemeinschaftung jenseits ethnonationaler Begrenzungen zu suchen ist