Referat U. Elbing, B. Mayer: Das Ende des Blindflugs?

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Transcript Referat U. Elbing, B. Mayer: Das Ende des Blindflugs?

Das Ende des Blindflugs?
Erste Überlegungen, um eine
Traumafolgestörung bei Menschen
mit einer geistigen Beeinträchtigung
erkennen zu können.
Ulrich Elbing
Birgit Mayer
1
Einblicke in Fallbeispiele aus dem
Tilia
• „Meine Eltern haben mich auf einem Stuhl fest gebunden und
mich halb tot geschlagen“. (Anm. Verfasserin: im Alter von 8
Jahren)
• „Mein Bruder hat mich zwei Mal vergewaltigt. Er war 16 Jahre
alt. Ich war 9. Er wollte wissen, wie Sex ist“.
• „In der Waffe ist eine Kugel, er spielt jetzt Gott, er wird
abdrücken, er wird mich umbringen, ich kann nichts tun. Er
bringt mich jetzt um!“. „Ich war damals sicher, ich muss sterben.“
• Ich war krank im Tessin und musste ins Spital. Sie haben mir in
den Kopf gebohrt. Er war so geschwollen, ich wusste nicht
weshalb. Es tat so weh. Ich hatte so sehr Angst. (Anm.
Verfasserin: im Alter von 3 oder 4 J.).
2
• „Mein Opa fiel tot um. Ich war dabei. Er hatte sich aufgeregt. Ich
war nicht brav. Ich war alleine mit ihm und er war dann tot.
Meine Oma sagte, ich war schuld, dass er gestorben ist“.
• „Meine Mutter war schizophren. Sie war nie da. Sie war oft in
der Klinik. Das erste Mal bei meiner Taufe“.
• „Mein Grossvater hat sein Glied in meine Scheide eingeführt.
Ich war noch klein“. (Anm. Verfasserin: 7 oder 8 Jahre alt)
• „Wir mussten aus der Wohnung raus. Wir hatten kein Geld. Sie
haben alle meine Sachen weg geworfen. Mein Autos und meine
Legos. Ich hatte nichts mehr. Alles weg“. „Ich hatte oft Hunger.
Es gab kein Geld für Essen“.
• „Sie haben mich im Heim xxx vergewaltigt. Es war ein Pfleger
und 4 Behinderte. Ich konnte mich nicht wehren, ich konnte
mich nicht bewegen“.
3
„Violence induced Mental Disabilities = VIMD“
„Durch Gewalt verursachte geistige Behinderungen“
• J. Oliver prägte den Begriff „Violence induced mental handicap“
= gewaltinduzierte geistige Behinderung.
Misshandlungen im häuslichen Bereich sind verantwortlich für
die geistige Behinderung von mehr als 5% der Menschen mit
Behinderung (1988, zitiert aus Sinason 2000, S. 90).
• Hirnverletzungen, die so schwer sind, dass sie Behinderungen
verursachen können, sind zu 64% das Ergebnis von Gewalt.
• Sobsey rechnet zu den VIMD auch die „Psychogenic
Disabilities“:
Die psychologischen Folgen aller Formen von Missbrauch
können so mächtig sein, dass sie ebenfalls eine
4
Behinderung verursachen oder verstärken können
• Oft begleiten emotionale und körperliche
Vernachlässigung den Missbrauch oder die Misshandlung
- die Folgen für die Behinderung können so gravierend
sein, wie die Gewalttat an und für sich
• Diese psychisch bedingten Behinderungen umfassen
beeinträchtigte kognitive Hirnfunktionen,
Beeinträchtigungen des Lernens und der Kommunikation.
(Von Saurma, M., 2006).
• Missbrauch kann Verhaltensveränderungen verursachen,
die anderen Behinderungen sehr ähneln, z.B.
Entwicklungsstörungen, Autismus, Bewegungsstörungen
 Gefahr des Overshadowing
5
•
Bereits 1953 hat Doll unterschieden zwischen den „echt“ Minderbegabten
und „Pseudoschwachsinnigen“ deren Intelligenz durch Herkunft und
Emotionen blockiert ist
•
Valerie Sinason, englische Psychoanalytikerin:
Betroffene traumatisierte Menschen mit einer Beeinträchtigung
vergrößern aus Gründen der Abwehr oft ihre Schwierigkeiten und
diese sogenannte „sekundäre Behinderung“ kann gravierender
sein, als die primäre Behinderung an und für sich.
•
Sie beschreibt Fälle, bei denen die geistige Behinderung durch
Missbrauch herbeigeführt wurde.
„Manchmal entsteht durch das Trauma Behinderung als Abwehr gegen
die Erinnerung an körperliche oder sexuelle Misshandlung“.
• „Trauma kann Behinderung verursachen (durch sexuellen,
physischen, umweltbedingten, politischen und emotionalen
Missbrauch), es kann die Erfahrung der Behinderung verstärken
und die Behinderung an und für sich kann vom Einzelnen und
von dem ihm nahestehenden als traumatisch erlebt werden“6
• In ihren Einzelfallschilderungen beschreibt sie, wie der IQ
eines Betroffenen durch eine Traumatherapie deutlich
angestiegen ist und sich auch die Kommunikationsfähigkeit massiv verbessert hat.
• Andere Autoren (Buchanan, A. und Oliver, J., 1977)
zeigen ursächliche Zusammenhänge zwischen
Missbrauch und Verwahrlosung und Behinderung.
• Für mehr als die Hälfte der leichten geistigen
Behinderungen und für ca. 30% der schweren geistigen
Behinderungen kann keine Ursache gefunden werden
(McLaren und Bryson, 1987).
•  ein Zusammenhang mit VIMD könnte vermutet werden.
7
Das erleben die Teams:
Menschen, die…
• …immer aufgeregter werden bis hin zu
extremen Eskalationen
• …sich leicht und schnell aufregen, sich aber
nur schwer beruhigen (lassen) können
• …urplötzlich in Panik und sehr aufgeregt
(oder wie erstarrt) sind
• …plötzlich nicht mehr „richtig da“ sind und
sich nur scheinbar unauffällig verhalten
• …sich ansatzlos z.T. extrem und gefährlich
aggressiv oder autoaggressiv verhalten
8
Das macht es oft noch schwerer:
• Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, die sich
nicht oder kaum verbal mitteilen können
• Häufig keine klare, verlässliche Informationen über
Konfrontation mit möglichen Trauma auslösenden
Situationen in der Biografie
• Hartnäckiges Unbehagen im Team: „Irgend etwas
stimmt nicht… da muss doch was gewesen sein…“
• Häufig grundsätzlich erhöhte Erregung / Anspannung
zu beobachten – und manchmal auffälliges
Erschlaffen
• Extreme Erregungszustände, in denen aggressives,
aber auch (massiv) autoaggressives Verhalten
auftreten können
9
Das macht es oft noch schwerer:
•  viele Teams sind wie im „Blindflug“ unterwegs
•  Ansatzpunkt der folgenden Überlegungen
10
Ziele der folgenden Überlegungen:
Erste Hinweise für…
• differentialdiagnostische Vermutungen
durch genaues Beschreiben von
Erregungszuständen und damit
verbundenem Verhalten
• eine hilfreiche Begleitung bei extremen
Erregungszuständen
• Gemeinsamkeiten und Unterschiede in
der Begleitung (differentielle Indikation)
11
Vorgehen bei den folgenden
Überlegungen
• Erfahrungen und Beobachtungen mit sehr
aufgeregtem Verhalten aus dem Alltag mit der
skizzierten Zielgruppe beschreiben und
• Wissen über Erregungsverläufe vor allem aus
der aktuellen Psychotraumatologie zuordnen
• Die Behandlungsempfehlungen aus der
Trauma- und Borderline-Therapie mit nicht
geistig beeinträchtigen Menschen verbinden mit
• Erfahrungen im Umgang mit Personen aus der
12
beschriebenen Zielgruppe
Hohe Erregung und traumabedingte
Stressverarbeitungs-Störung
13
Was genau soll verglichen
werden?
 Verlaufskonturen sehr hoher / extremer
Erregung
14
Aggressive Eskalation mit
Kontrollverlust
• Stetig wachsende Anspannung und
körperliche Unruhe
• Mündet in aggressives Verhalten
• Eskalation mit
– Verlust der Integration von Wahrnehmung,
– Verlust der Verhaltenssteuerung
– Mobilisieren enormer Energien
• Vermutet wird die Wiederbelebung einer
sehr frühen Traumatisierung
(Säuglingsalter)
15
Aggressive Eskalationen mit
Kontrollverlust
Arousal
Eskalation /
Kontrollverlust
Mittleres Arousal
Stressoren
Schockstarre
Erlebte Sicherheit,
Wiederherstellen
der Orientierung
Zeit
16
Aggressive Eskalation mit
Kontrollverlust
• Auslösende / vorausgehende / verstärkende
Faktoren:
– Reizüberflutung
– Überanpassung
– Unklares oder ambivalentes Verhalten von
Bezugspersonen
– Freudige Erregung / Erwartungsspannung
• Kritische Situationen häufig identifizierbar
• Verhalten:
– typische Verhaltensweisen bei erhöhter Erregung,
aggressives Verhalten mit Verlust von Kontrolle,
Ansprechbarkeit, Schmerzempfinden
17
Aggressive Eskalation mit
Kontrollverlust
• Verlauf: Allmähliche Zunahme von
Unruhe und Erregung, eruptiver
Höhepunkt, allmähliche
Erregungsabnahme ggf. mit retrograder
Amnesie / Desorientierung
•  Auftreten und Verlauf häufig
vorhersagbar
18
Flashbacks und intrusive
Erinnerung
• Flash Back:
– Plötzliche massive körperliche
Panikreaktion
– Früher in einer Trauma auslösenden
Extremsituation real erlebt
– Keine bewusste Erinnerung an die
Ursprungsszene
– Der Körper erinnert sich, das Bewusstsein
(noch) nicht)
19
Flashbacks und intrusive
Erinnerung
• Intrusive Erinnerung:
– Flut (damit auch) bewusster
Erinnerungen
– Plötzliches und zum Teil völliges
Überwältigt werden
– Erinnert werden eine oder mehrere
mit Trauma verbundene Situationen
20
Eskalation durch flashbacks oder
intrusive Erinnerung
Arousal
Eskalation /
Kontrollverlust
Erlebte Sicherheit,
Wiederherstellen
der Orientierung
Mittleres Arousal
trigger
Schockstarre
Zeit
21
Eskalation durch Flashbacks oder
intrusive Erinnerungen
• Auslösende / vorausgehende / verstärkende
Faktoren („trigger“):
– Kenntnis der Trauma-auslösenden Situation
kann bei Identifikation der trigger helfen
– Trigger dennoch häufig nicht auffindbar
(fehlende Sprache und mangelnde biografische
Kenntnisse) bzw. nur manchmal und mühsam
durch sorgfältige Beobachtung identifizierbar
• Kritische Situationen häufig nicht
identifizierbar
22
Eskalation durch Flashbacks oder
intrusive Erinnerungen
• Verhalten:
– Heftige Panik-Reaktion oder Erstarren.
– Wenn Aggression, dann als Kampf ums
Überleben, entkoppelt vom Hier und Jetzt
• Verlauf: Plötzliches Auftreten, stetiges,
„fließendes“ Abklingen
•  Auftreten nicht oder selten
vorhersagbar, Verlauf vorhersagbar, weil
nach Beginn stetig
23
Primäre strukturelle Dissoziation
(Steele, Van der Hart, Nijenhuis, 2001; Nijenhuis, 2012)
• Nach einem/mehreren schweren Traumata tritt ein
anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil (ANP) und
ein emotionaler Persönlichkeitsanteil (EP) auf.
ANP:
Handlungssysteme
für die Alltagsfunktionen
EP
Der Überschneidungsbereich ist der
gemeinsame Zugang zu Erinnerungen
EP:
Handlungssysteme
für die
Verteidigung vor
massiver
Bedrohung
B. Mayer
24
Anscheinend normaler
Persönlichkeitsanteil ANP
• Ein ANP passt sich an das Alltagleben an
• Ein ANP funktioniert im Alltag, ist aber eher emotional
abgeflacht
• Ein ANP ist eher gleichgültig und fühlt sich manchmal
wie betäubt
• … ist nicht so „schwingungsfähig“, wie ein EP. Da ANP
mit weniger Emotionen einhergeht, kann ein ANP auch
nicht „mitschwingen“
• … vermeidet traumatische Erinnerungen und damit
verbundene EPs
• Ein ANP hat oft Amnesien für das Trauma
• Hat einen höheren Grad an Bewusstsein als EP, aber
25
niederer als bei Gesunden
Emotionaler Persönlichkeitsanteil EP
• Entsteht um das Überleben des Individuums in
Situationen mit großer körperlicher Bedrohung zu
sichern
• Ist fixiert auf traumatische Ereignisse
• Ist desorientiert in Ort, Zeit und Identität
• Ein EP reagiert auf (wahrgenommene) Bedrohungen
und bleibt im traumatischen Ereignis befangen
• Kann einen niederen Grad an Bewusstsein haben als
die ANPs
• Verteidigungssysteme (EPs):
- Flucht
- Verteidigung
- Schreckstarre
- Unterwerfung
- Hypervigilanz (erhöhte Aufmerksamkeit)
26
Primäre oder einfache Dissoziation
Arousal
Eskalation / Kontrollverlust
Erlebte Sicherheit,
Wiederherstellen
der Orientierung
Mittleres Arousal
trigger
Schockstarre
Zeit
27
Primäre oder einfache Dissoziation
• Auslösende / vorausgehende / verstärkende
Faktoren („trigger“):
• Kritische Situationen häufig nicht
identifizierbar (s.o.)
• Verhalten:
– Häufig scheinbar angepasst und unauffällig, jedoch:
Subtile Hinweise auf fehlenden Kontakt (die Person ist
„nicht richtig da“; leicht verzögerte Reaktionen,
Verlangsamung…: ANP hat Verhaltenskontrolle).
– Inneres Erleben: sehr wahrscheinlich Opfer (EP). In
speziellen Fällen tritt aggressives Verhalten als Teil des
scheinbar angepassten Verhaltens auf (z.B. Soldat) 28
Primäre oder einfache Dissoziation
• Verlauf: Plötzliches Auftreten, plötzliche oder
sehr schnelle „Rückkehr“ (Assoziation):
Beendigung bei veränderter, dann als sicher
wahrgenommener Situation. Hinterher oft
verwirrt, retrograde Amnesie ist möglich
•  Auftreten nicht oder selten vorhersagbar,
Verlauf vorhersagbar, wenn günstiger
Situationswechsel
29
Sekundäre strukturelle Dissoziationen bei
schwereren Trauma-Folgestörungen
(Steele, Van der Hart, Nijenhuis, 2001; Nijenhuis, 2012)
•
•
Dies geschieht meist bei Kindern, die Traumata erleben. Sie haben noch
keine stabile Persönlichkeitsstruktur entwickelt. Wichtige Hirnareale mit
Integrations-funktionen, wie Hippocampus und präfrontaler Cortex sind
noch nicht ausgereift.
Besonders relevant sind dabei desorganisierte Bindungen:
Familienangehörige oder betreuende Personen sind Objekte der Bindung
und der Bedrohung
ANP
EP
Unterwerfung
EP
Einfrieren
EP
Kampf
z.B. Komplexe
PTSD/DESNOS
(dissociative
Disorder, not
otherwise
specified)
B. Mayer
30
Typische Merkmale des Störungsbilder
DESNOS (van der Kolk, 2002)
• Veränderungen
 der Affektregulation und der Impulskontrolle
 der Aufmerksamkeit oder des Bewusstseins (Amnesie/
Dissoziation)
 der Selbstwahrnehmung (z.B. Schuld, Scham,
unverstanden sein)
 der sozialen Beziehungen (z.B. Misstrauen, Einnehmen
einer Opfer- oder Täterrolle)
 der Überzeugungen (Hoffnungslosigkeit, Verlust
früherer Überzeugungen)
 somatischer Funktionen (Verdauungsstörungen,
chronische Schmerzen, Herzbeschwerden,
Sexualstörungen, Konversionssymptome)
31
Wechsel in eine
Emotionale Person (EP)
Arousal
Eskalation /
Kontrollverlust
Mittleres Arousal
trigger
Schockstarre
Erlebte Sicherheit,
Wiederherstellen
der Orientierung
Zeit
32
Wechsel in eine Emotionale Person (EP)
• Auslösende / vorausgehende /
verstärkende Faktoren („trigger“):
• Kritische Situationen häufig nicht
identifizierbar
• Verhalten:
– EP übernimmt die Verhaltenskontrolle. Verhalten je
nach Funktion / Rolle der EP, jedoch: Subtile Hinweise
auf fehlenden Kontakt (die Person ist „nicht richtig da“).
– Aggressives Verhalten möglich: EP „Aggressiver
Beschützer“ oder EP als Täter-Introjekt (gezieltes, sehr
gefährliches Verhalten möglich)
33
Wechsel in eine Emotionale Person (EP)
• Verlauf: Plötzliches Auftreten auch extremer
Wechsel, plötzliches oder sehr schnelles
Wechseln in eine andere Teilpersönlichkeit.
Als sicher wahrgenommene Situation
begünstigt Wechsel in nicht aggressive ANP
oder EP
•  Auftreten nicht oder selten vorhersagbar,
Verlauf auch bei günstigem
Situationswechsel schwer vorhersagbar 34
Begleitung aggressiver Eskalationen
mit Kontrollverlust
• Auslösende Faktoren:
– Unterstützung bei aktiver Stressbewältigung
• Bei bereits erhöhtem Erregungsniveau:
– Situationsgestaltung mit Reiz-Reduzierung
– Erregungsabbau mit zyklischer Bewegung
• Bei Kontrollverlust:
– Herstellen einer Situation, die Schutz und Kontakt
ermöglicht
– Aufrecht Erhalten des Kontaktes auch bei scheinbar
ausbleibender Wahrnehmung / Reaktion durch eine
sichere, präsente Bindungsperson
35
Begleitung aggressiver Eskalationen
mit Kontrollverlust
• Nach Wiedergewinnen der Kontrolle:
– Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der
Realität
– Herstellen von Bindungssicherheit
• Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“):
– Nur rechtzeitig vor Einsetzen des Kontrollverlusts sinnvoll
– Kann der Eskalation die Spitze nehmen
– Bei fachgerechtem Einsatz gute
Wirkungswahrscheinlichkeit
– Risiko der (Re-) Traumatisierung bei Einsatz während /
nach dem Kontrollverlust, dann auch:
– Medikation behindert Re-Orientierung
36
Begleitung bei Flashbacks, intrusiven
Erinnerungen und primärer Dissoziation
• Trigger und auslösende Situationen:
– Wenn bekannt: Vermeiden (z.B. kein Täter-Kontakt)
• Bei Auftreten der Symptome:
– Herstellen einer Situation, die Schutz und Sicherheit vermittelt
(Beenden des Kontakts mit dem trigger)
– Kontaktaufnahme und Begleitung durch Schutzperson
– CAVE: Menschen mit Borderline-Störung brauchen Kontakt,
Menschen mit einer PTSD können sich ggf. auch erst wirklich sicher
fühlen, wenn sie alleine an einem sicheren Ort sind. D.h.:
Sorgfältiges Ausprobieren und Beobachten
– Mit der Schutzperson darf kein Trigger verbunden sein (so weit
bekannt; z.B. können das Geschlecht oder die Kleidung der Person
ein Trigger sein)
37
Begleitung bei Flashbacks, intrusiven
Erinnerungen und primärer Dissoziation
• Nach Wiederherstellung bzw. Abklingen:
– Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der
Realität
– Stabilisierung in sicherer Bindung
• Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“):
– Vor Auftreten (meist) nicht möglich (Unvorhersagbarkeit
der trigger)
– Risiko der Retraumatisierung
– Medikation behindert Re-Orientierung
38
Begleitung bei Wechsel in eine
Emotionale Person (EP)
• Trigger und auslösende Situationen:
– Wenn bekannt: Unterstützung beim Abgrenzen und Vermeiden
(z.B. kein Täter-Kontakt), ggf. Entlastung von Schuldgefühlen
– Oder Schutz geben durch positiv-autoritäres Verordnen /
Durchführen der Vermeidung
• Bei Auftreten der Symptome:
– Situationswechsel und Herstellen einer Situation, die Schutz und
Sicherheit vermittelt (Beenden des Kontakts mit dem trigger)
– Kontaktaufnahme und Begleitung durch Schutzperson – CAVE
s.o.
– Mit der Schutzperson darf kein Trigger verbunden sein (s.o.)
– Die Schutzperson muss selbst gut geschützt sein und zeigen
können: „Ich halte deine aggressiven Anteile aus!“
39
Begleitung bei Wechsel in eine
Emotionale Person (EP)
• Nach Wiederherstellung der AlltagsPersönlichkeit:
– Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der
Realität
– Stabilisierung in sicherer Bindung
• Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“):
– Vor Auftreten (meist) nicht möglich (Unvorhersagbarkeit
der trigger)
– Risiko der Retraumatisierung
– Wirkung unvorhersagbar: Die ANP oder EP unter
Medikation muss keineswegs die exekutive EP sein
40
– Medikation behindert Re-Orientierung
Synopse der Begleitung
• Auslösende Faktoren (trigger): Aktive Stressbewältigung und
Erregungsabbau nur bei stetig anwachsender Erregung möglich und
sinnvoll, sonst: Trigger – wenn bekannt – nach Möglichkeit vermeiden
• Eskalation: Begleitung durch Bindungsperson bei gewährleistetem
Schutz für beide. Bei plötzlicher Eskalation: Erleben von Sicherheit ggf.
auch nur alleine möglich.
• Nach Wiedergewinnen der Kontrolle: Unterstützung der Orientierung
und Verankerung in der Realität. Herstellen von Bindungssicherheit
• Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“):
– Nur bei stetig anwachsender Erregung und rechtzeitig vor Einsetzen des
Kontrollverlusts mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit wirksam
– Risiko der (Re-) Traumatisierung bei Einsatz während / nach dem
Kontrollverlust, dann auch:
– Medikation behindert Re-Orientierung
– Befundlage zu Benzodiazepinen äußerst kritisch
41
Synopse der Begleitung
Stetige
Eskalation
Flashback,
Intrusion
Dissoziation
Wechsel in EP
Auslöser /
Trigger
Aktive Stressbewältigung
vermeiden
vermeiden
vermeiden
Eskalation
Schutz und
Begleitung
Schutz und
Begleitung,
ggf. mehr
Schutz alleine
Schutz und
Begleitung, ggf.
mehr Schutz
alleine
Schutz und
Begleitung,
ggf. mehr
Schutz alleine
Nach Eskalation,
Rückkehr der
Kontrolle
Begleitung und
ReOrientierung
Begleitung und
ReOrientierung
Begleitung und
Re-Orientierung
Begleitung und
Re-Orientierung
NotfallMedikation
Nur rechtzeitig, Gefahr
der Retraumatisierung
Bedingt
sinnvoll, Gefahr
der Retraumatisierung
Nicht sinnvoll,
Gefahr der
Retraumatisierung
Nicht sinnvoll,
Gefahr der
Retraumatisierung
CAVE Benzodiazepine
Nach aktueller bedenklicher Befundlage allenfalls als „sehr begrenzte
Kurzzeitintervention“ (Kapfhammer, 2011, 698)
42
Erregungsverläufe im Vergleich
Arousal
Eskalation /
Kontrollverlust
Mittleres Arousal
Trigger
Stressor
Schockstarre
Erlebte Sicherheit,
Wiederherstellen
der Orientierung
Zeit
43
Was benötigen die Betroffenen?
• In der täglichen Kommunikation:
- immer wieder aussprechen, dass die Betroffenen jetzt, hier in
Sicherheit sind
- auch wenn unklar ist, wie viel der Einzelne/ die Einzelne verstehen
kann
• Versuchen zu fragen, was die Betroffenen erlebt haben:
- Auch Menschen mit Beeinträchtigungen können ihre Erlebnisse
erzählen,
- dies benötigt manchmal kreative Unterstützung
- Auch sie kennen den Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit
• Wie müssen wir die Fragen stellen?
- Sprachlich einfach formulieren, kurze Sätze bilden
- Doppelfragen vermeiden
- Konkrete Namen benutzen
- Mehr Zeit einplanen
- Begriffe verwenden, z.B. für Körperteile, die der Gesprächspartner, die
Gesprächspartnerin, auch verwendet
44
• „Warum“, „wie“ und „wenn“ Fragen vermeiden
• Evtl. zur Unterstützung Anatomie- Puppen verwenden
• Interviewer verhält sich bewusst sehr neutral, auch was die
Stimmlage oder die Körpersprache anbelangt
 Vermeidung sozial erwünschter Antworten
• Fehlende Kenntnisse der Betroffenen bzgl. genauer Anschrift dürfen
nicht überbewertet werden.
Diese sind für Menschen mit Beeinträchtigungen evtl. nicht wichtig/
relevant und ihnen fehlen oft die Informationsgrundlagen
• Wird eine Antwort nicht richtig verstanden, ruhig nachfragen „Ich
habe das jetzt nicht richtig verstanden. Können Sie mir das noch
einmal erklären?“
• Ist die Kommunikation sehr erschwert, möglichst Fragen so stellen,
dass mit „Ja“, „Nein“ oder „Ich weiss nicht“ geantwortet werden
kann, bzw. auf vorgeschrieben Antwortfelder mit diesen
Möglichkeiten gezeigt werden kann
45
Wie frage ich nach einem Trauma? Einem
evtl. Missbrauch?
• Je selbstverständlicher wir danach fragen (die
entsprechenden Stellen, beispielsweise die
Fachdienste), z.B. standardisiert nach einem Neueintritt
für alle Bewohnerinnen und Bewohner, um so einfach
gelingt es
• Aber: Fragen Sie nicht aus heiterem Himmel „Wurden
Sie als Kind missbraucht?“
• Fragen nach traumatischen Erlebnissen beginnen
idealerweise bei eher „neutralen“ Fragen und werden
dann immer spezifischer, also z.B.:
46
Wie frage ich nach einem Trauma? Einem
evtl. Missbrauch? (2)
„Wie war ihre Kindheit? Welche Spiele haben Sie gerne gespielt?“
… und dann:
„Beschreiben Sie bitte die glücklichsten Zeiten in ihrer Kindheit.“
„Beschreiben Sie bitte auch die schwierigen Zeiten in ihrer Kindheit.“
„Wurden Sie bestraft?“
„Wurden Sie als Kind so fest geschlagen, dass Sie blaue Flecken
hatten, oder dass Sie zum Arzt mussten?“
„ Wurden Sie als Kind zu sexuellen Handlungen gezwungen, die Sie
nicht wollten?“
„Mit wem konnten Sie als Kind reden, wenn es Ihnen schlecht ging?“
47
Was können wir tun?
• In erster Linie muss sich unsere Optik verändern:
Reframing: Das Verhalten ist nicht behinderungsbedingt, sondern
hat andere Ursachen
 es benötigt einen speziellen Umgang mit diesen Verhaltensweisen
• Sicheres, stabiles Lebensumfeld. Schaffung eines „sicheren Ortes“
• Zentral: Beziehungsaufbau/ Bindungsangebot.
• Vermeidung von Triggern (Prävention von Re-Traumatisierungen) und
Stress-Situationen im Allgemeinen
• In der ersten Stabilisierungsphase: Selbstregulationsstrategien
aufbauen und immer wieder einüben. Affektwahrnehmung,
Selbstberuhigung etc.
• Betreuende Mitarbeiter an der Basis sind keine Therapeuten.
Aber: ein sicheres Lebensumfeld ist zentraler Ansatzpunkt für weitere
48
Schritte, die Basis für weitere Bewältigung der Traumata
Was benötigen traumatisierten Menschen
mit einer Beeinträchtigung?
• gute Kooperation mit psychologischen Fachdiensten, die
über spezifisches Fachwissen dieser Problematik verfügen
• Adaptation bestehender Traumatherapiemethoden für
Menschen mit Beeinträchtigungen
• Anwendung dieser Methoden in der Praxis
• entsprechende evidenzbasierte Forschung, d.h. auch
Kooperationen mit Hochschulen oder Ausbildungsinstituten
für unterschiedliche Psychotherapiemethoden
• qualifizierte Trauma-Therapiestationen in den
psychiatrischen Versorgungskliniken mit Spezialwissen im
Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen
• entsprechendes Know-how auch in den Akutstationen
49
Was benötigen traumatisierten Menschen
mit einer Beeinträchtigung?
 qualifizierte Fallberatungen und
Teamsupervisionen in den Einrichtungen
 Annäherung der unterschiedlichen Bereiche
 Funktionierende, interdisziplinäre
Kooperationsformen aller beteiligten Disziplinen in
Augenhöhe
 Konsequente Aus- und Weiterbildung der
- Verantwortlichen in den Institutionen
- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „an der Basis“
- der Psychologinnen und Psychologen in Heimen, Kliniken oder in
der Praxis
- Psychiaterinnen und Psychiater in Heimen, Kliniken oder in der
Praxis
50
Literatur
•
•
•
•
•
•
Buchanan, A. und Oliver, J. (1977). Abuse and neglect as a couse of mental
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G.H., Freyberger, H.J. u. Maercker, A. (Hg.) Handbuch der Psychotraumatologie
(S. 685-708). Stuttgart: Klett-Cotta.
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Nijenhuis, E., Seminarunterlagen Kurs THZM München, Oktober 2012.
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Siegel, D. (2007). Das achtsame Gehirn. Freiamt: Arbor.
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Sobsey, D. (1994). Violence and Abuse in the Lives of People with Disabilities.
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Von Saurma, M. (2006). Trauma und Geistige Behinderung. Newsletter Nr. 4.,
2006. TriRegio Netzwerk Psychotraumatologie.
http://triregionet.info/content/newsletter-aus-den-jahren-2006-2010-0.
Originalfassung von der Autorin.
52
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
53