Stufe 1 - Verein Lesen und Schreiben

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Transcript Stufe 1 - Verein Lesen und Schreiben

Lesen und Schreiben –
(k)eine Selbstverständlichkeit
Sensibilisierungsveranstaltung zum Thema Illettrismus
Institution
Name
Datum
Ablauf
Illettrismus – ein gesellschaftliches Phänomen




Lesen und Schreiben: komplexe Fähigkeiten
Steigende Anforderungen: früher - heute
Hohe Erwartungen – Realität
Tabu und soziales Stigma
Die Situation einzelner Betroffener
 Der Ursachen-Folgen-Komplex
 Die Strategien
Der Weg hinaus
 Erfolgsgeschichten
 Die Rolle der Vermittlerpersonen
Lesen und Schreiben –
komplexe Fähigkeiten
Wörter zerlegen
Wie heisst dieses Tier?
Zuordnung: Zeichen - Laute



     .
A= 
B=
E=
I=
K=
L=
    .
N=
R=
S=
T=
SCH = 
Zu Wörtern verschmelzen
Ersatzteillagerregaleinlegeboden
Telekommunikationskundenschutzverordnung
Donaudampfschifffahrtsgesellschaftkapitänskajütenschlüsselanhängerbeschriftungsaufkleber
Wörter als Ganzes wahrnehmen
Luat eienr Stduie der Cambrdige Uinevrstiät speilt es kenie Rlloe in
welcehr Reiehnfogle die Buhcstbaen in eniem Wrot vorkmomen,
die eingzie whictige Sahce ist, dsas der ertse und der lettze
Buhcstbae stmimt. Der Rset knan ein vlilöges Duchrienanedr sein
und knan trtozedm prboelmols gelseen wreden.
Der trainierte Blick
Automatisch lesen
blau rot gelb blau grün rot
rot blau gelb grün blau rot
blau gelb grün rot blau grün
nach John Ridley Stroop: der Stroop-Effekt, 1935
Wissen, was man liest
1. Gesamtmenge in mehrere Teilmengen aufteilen.
Dabei Eigenschaften der Teilmengen berücksichtigen.
2. Den vorgesehenen Apparat einschalten und richtig einstellen.
3. Erste Teilmenge und Zusatzmittel einfüllen.
4. Apparat in Gang setzen. Der Arbeitsvorgang darf nicht
unterbrochen werden.
5. Nach Ende des Vorgangs die Teilmenge entnehmen und
Einzelstücke senkrecht stellen.
6. Für alle Teilmengen ab 1. wiederholen.
7. Einzelstücke neu sortieren und waagrecht stellen.
Wie Sprache funktioniert
Im Coiffeur-Salon der zusammengesetzten Wörter:





der Haartrockungsapparat
die Farbpigment-Entfernung
das Hinterkopf-Kontroll-Instrument
gesichtshaarbefreit
Schnitthaar- und Verschmutzungs-Schutz für Kundentextilien
Habe ich es richtig verstanden?
Soll der Zugang zur erleichterten Einbürgerung durch den Bund
erschwert werden?




ja
eher ja
eher nein
nein
www.smartvote.ch, 2011
Wissen, was für einen Text man liest
Der Textsorte angepasste Strategie wählen:








von A-Z lesen
wiederholtes Lesen
im Text hin und her springen
markieren, Notizen schreiben
unbekannte Begriffe nachschauen
andere Texte zum selben Inhalt lesen
nachfragen, diskutieren
weitere personen- oder textspezifische Strategien
Wissen, wozu man liest
3 Arten des Lesens:
 Globalverstehen
 Informationen suchen
 Wort für Wort-Verstehen
Geeignete Texte auswählen
Wer gewann die Goldmedaille?
An den olympischen Spielen 2012 in London wurden in der
Sportart «Boxen» erstmals drei Gewichtsklassen für Frauen
eingeführt: Fliegengewicht, Halbweltergewicht,
Halbschwergewicht.
Schreiben
Stift oder Tastatur
Orthografie und Grammatik
Endlich Frühling!
Vorwissen und Weltwissen
Wissen, wem man schreibt
Schreiben für sich
 Tagebuch
 Notizen
 Listen
Schreiben für andere
 bekannte private Empfänger: Briefe, SMS, Mails
 Öffentlichkeit: Schilder, Artikel
 für Vorgesetzte: Rapporte, Berichte
 im Internet: Foren, Social Media
Wissen, wem man schreibt
Ein Märchen in Amtssprache:
Das unmündige weibliche Subjekt, das durch wiederholtes Tragen
einer aufgrund der Einfärbung klar definierten Kopfbedeckung
einen ihm eigenen Rufnamen erworben hatte und das auf einer
Expedition zwecks Besuch einer Verwandten 2. Grades mit einem
Lebewesen der Art lupus in Kontakt kam.
Strategien und Vorgehensweisen






«Aus-dem-Bauch-heraus-schreiben»
Von einer Idee, einer Figur, einer Gegebenheit ausgehen
Entwurf schreiben und überarbeiten
bestehende Textversionen zusammenfügen
Texte umschreiben / anpassen
planendes Schreiben (vorher Kapitel, Struktur festlegen)
Ständig überwachen
Aus der Praxis
Mürren
Wo ist Mürren im Berner Oberland von Bern nach Spitz wie ja
Luzern Interlaken west danach Wilderswil Zweilütschinen und
nach Lauterbrunnen durch das Dorf und wieder bis Stechelberg da
muss man auf die seil Bahn Schilthorn, mann kann wie ja
Grimmelwald nach Mürren oder nach Schilthorn. Es ist wunder
schön da auf Mürren.
Text eines Kursteilnehmenden
Aus der Praxis
Ich war vor 4Wochen in Egybden auf einer Tauchsafari mit meiner
Tauchschule von Olten nach Zürich Flughafen dann nach
Maselam nach einer kleiner Bus fart nach Port Ghalib zum
Jachthafen haben wir eine Nachtfart auf genomen mit dem
Schiff. [...] Ich Tauchte weiter er zeigte mir das Finimeter an ich
zeigte meins auch an ich hatte noch 30 Par Luft Achmed gab mir
seine Luft .und konnte der Tauchgang fort sezen.
aus dem Tagebuch eines Kursteilnehmenden
Aus der Praxis
Feuerzeug erinnert mich an früher wo ich noch geraucht habe
,und jetzt 8 Jahre später, kommt mir Romantische Abend im
Kerzen Licht. So vern ich das Feuerzeug dabei habe, und nicht
vergessen im Ausgang wo immer wider nach Feuer gefragt wird.
Text eines Kursteilnehmenden
Aus der Praxis
Thema: Autoprüfung
…und ich hatte auch wirich keiten bei der Theori ich konnte alles
erklären wenn ich unter wegs war auf dem Programm nichts. Aber
ich habe sie bei 3 Mal bestanden. Und seit zwei Wochen habe ich
die Praktische Autoprüfung bestanden und ich war happy
Text eines Kursteilnehmenden
Fazit
Lesen und Schreiben:
 sind lebenslange Lernprozesse
 kann man wieder verlernen
 lernt man nur mit viel Übung, Motivation
und Selbstsicherheit
Gestiegene Anforderungen:
früher – heute
Im Beruf: Geschäftskorrespondenz
Im Beruf: Arbeitseinsätze
Im Beruf: Arbeitsplätze ohne Schreibarbeit
Im Beruf: Menge der Schreibarbeit
Im Alltag: Automaten
Im Alltag: Wortschatz-Explosion
Im Alltag: Geräte
Schreibmittel
Fazit
 Nur wer eine gute Basis hat, kann sich ständig weiterentwickeln.
 Wer nicht dranbleibt, wird abgehängt
 Eine dauernde Überforderung führt zu Stress.
Hohe Erwartungen – Realität
Stufen der Lesekompetenzen
5
4
Flexible Nutzung unvertrauter komplexer Texte
Detailliertes Verständnis komplexer Texte
3
Integration Textelemente / Schlussfolgerungen
2
Herstellen einfacher Verknüpfungen
1
Oberflächliches Verständnis einfacher Texte
Stufe 1: Lesen
 Mein Name ist Peter Muster.
 Ich arbeite bei der Beispiel AG.
 Bitte vorwärts parkieren.
Stolpersteine Stufe 1:
Der Bus verkehrt am Wochenende erst ab 8.00 Uhr.
Die Sitzung findet um 17.00 Uhr statt.
Stufe 1: Schreiben
Wo ist Mürren im Berner Oberland von Bern nach Spitz wie ja
Luzern Interlaken west danach Wilderswil Zweilütschinen und
nach Lauterbrunnen durch das Dorf und wieder bis Stechelberg da
muss man auf die seil Bahn Schilthorn, mann kann wie ja
Grimmelwald nach Mürren oder nach Schilthorn. Es ist wunder
schön da auf Mürren.
Stufe 2: Lesen
Der Bus verkehrt von Montag bis Samstag von 7.00 – 21.00 Uhr.
An Sonn- und Feiertagen von 9.00 – 19.00 Uhr.
Stufe 2: Schreiben
Was ist Fussballspiel zwei Mannschaften spielen zusammen. Sie
Spiel um einen EM Tietel. Aber es kosten viel Geld um das EM
durch zufeuren, Sie machen viel Werbung weg dem EM. Viel
Geschäfte machen wegen dem Fussballspiel viel geld. Aber viel
Menschen haben kein Essen und Geld.
Text eines Kursteilnehmenden
Stufe 3: Lesen
Wegen der Umbauarbeiten an der Bachwiesstrasse
verkehrt der Bus 14 vom 12. Oktober bis zum
14. November 2012 jeweils nur bis 17.00 Uhr.
Die Fahrgäste werden gebeten während dieser Zeit,
von 17.00 – 22.00 Uhr den Bus 22 zu benützen.
Stufe 3: Schreiben
Es ist einfach ganz speziell wenn man jetzt den Mut hat einfach so
zu schreiben was einem gerade durch den Kopf geht. Und nicht
denken muss, ja ist das gut oder lachen dann die anderen über
meine Fehler! Nein, ist egal will einfach schreiben auch mit
meinen Fehlern.
Aus einer E-Mail einer Kursteilnehmerin
Stufe 3: Schreiben
Ohne das Selbstbewustsein, dass ich im lesen und
schreiben bekommen habe würde ich das alles nicht schaffen.
Aus einem Brief einer Kursbesucherin, die nach einem Arbeitsunfall ihres
Mannes einen kleinen Handwerksbetrieb alleine führen muss.
Stufe 4 / 5: Lesen
Beim Sumerischen handelt es sich um eine genetisch isolierte
agglutinierende Ergativsprache mit grammatikalischem
Geschlecht, die bis ins 20. Jh. v. Chr.
in der mesopotamischen Alluvialebene (südlich von Nippur) als
Standardsprache fungierte.
Situation in der Schweiz
Bundesamt für Statistik, Adult Literacy and Lifeskills Survey ALL, 2006
Lesekompetenz in der Schweiz
Fast 800‘000 Personen im Alter von
16 bis 65 Jahren erreichen im Lesen
Stufe 1 (ca. 16%).
435‘000 Migrant/innen (inkl. Secondos)
325‘000 Schweizer/innen
ALL-Studie, Bundesamt für Statistik 2006
Lesen von Texten allgemein
0%
20%
Stufe 1
40%
Stufe 2
60%
Stufe 3
80%
100%
Stufe 4/5
ALL-Studie, Bundesamt für Statistik 2006
Lesen, Schematische Darstellung nach Alter
Stufe 1
56-65
Stufe 2
46-55
Stufe 3
Stufen 4/5
36-45
26-35
16-25
0%
20%
40%
60%
80%
100%
ALL-Studie, Bundesamt für Statistik 2006
Lesen von Texten nach Berufsgruppen
Stufe 1
Stufe 2
Stufe 3
Stufe 4 / 5
Akademische Berufe
Technische Berufe
Führungskräfte
Bürokräfte / Kaufmännische Angestellte
Verkauf
Handwerkliche Berufe
Bedienung und Montage von Maschinen
Hilfsarbeitskräfte
Landwirtschaft und Fischerei (Fachkräfte)
0%
20%
40%
60%
80%
100%
ALL-Studie, Bundesamt für Statistik 2006
Lesen von Texten nach Ausbildung der Eltern
Welche Stufe erreichen Sie?
Beim Lesen...
eines Krimis?
eines Textes aus Ihrem Fachbereich?
aus einem fremden Fachbereich?
einer Anleitung zur Installation einer Software?
beim Bedienen eines SBB-Billett-Automaten?
eines Handy-Abo-Vertrags?
des Begleithefts zu den eidgenössischen Abstimmungen?
Welche Stufe erreichen Sie?
Beim Schreiben...
einer Einkaufsliste?
eines Dankesbriefes?
eines Kondolenzschreibens?
eines Rapportes oder beim Ausfüllen eines Formulars?
eines Frühlingsgedichts?
eines Sitzungsprotokolls?
eines Fachberichts?
Texte im Alltag
Diktat
Lan trichte Schehe
Rinn glingen lan trichte Schehe. Wentert raspen rinn gescheht:
Punsten, Rahbelben, Charpin ing Barnfriesen.
Len Friesen din len Barnen nellen tricht.
Fazit:
 An die Lese- und Schreibkompetenzen der einzelnen
Menschen werden sehr hohe Erwartungen gestellt.
 Lese- und Schreibdefizite sind oft mit Schamgefühlen und
niederem Selbstwert verbunden.
Tabu und soziales Stigma
Das Tabu «Illettrismus»
Folgen des Tabu
Betroffene…
 wissen nicht, dass sie nicht die Einzigen sind.
 kennen niemanden, mit dem sie darüber sprechen könnten.
 wissen nicht, dass es passende Angebote gibt.
Illettrismus – ein Tabuthema
 Über welche Tabuthemen sprechen Sie mit ihren Klient/innen?
 Was beachten Sie dabei? Wie gehen Sie vor?
 Wo sind die Schwierigkeiten?
Die Schublade «Illettrist/in»
Folgen der Stigmatisierung
Betroffene….
 glauben selbst, dass sie «dumm» sind.
 glauben nicht, dass sie besser lesen und schreiben lernen
können.
 geben oft ihre Schwäche vor sich selbst und vor anderen
nicht zu.
Fazit:
Darüber sprechen ist schwierig.
Aber nur ein offenes Gespräch ermöglicht Lösungen.
Die Situation einzelner Betroffener
Hindernisse im Lernprozess (Ursachen)
 Gesundheit: nicht erkannte Seh- oder Hörschwäche, Absenzen
durch lange Krankheit, Legasthenie
 Persönlichkeit: Konzentrationsschwierigkeiten,
Entwicklungsdefizite
 Biographie: kritische Lebensereignisse
 Soziales Umfeld: bildungsferne Familie, ungünstige Situation in
der Schule
Gesellschaftliche Aspekte als Verstärker
komplexe Fähigkeiten
Frust, Resignation
steigende Anforderungen
Überforderung, Stress
hohe Erwartungen
Scham, fehlendes Vertrauen
Tabu und Stigma
Keine Auseinandersetzung
Strategien als Folgen und Verstärker
vermeiden
verheimlichen
anders bewältigen
Strategien: Was würden Sie tun?
 Sie sitzen im Restaurant und verstehen die Karte nicht.
 Sie erhalten einen Brief von einem Amt eine schriftliche
Aufforderung für einen Termin.
 Sie müssen vor Ort ein Formular ausfüllen.
 Sie müssen in einer Weiterbildung auf einen Flipchart
schreiben.
Die Folgen für Betroffene
 Gesundheit: Stresssymptome/-erkrankungen wie Burn-Out,
hoher Blutdruck, Magenbeschwerden
 Beruf: erschwerter Zugang zu Weiterbildungen, Ablehnung von
Beförderungen, schlechte Lohnbedingungen, Stellenverlust
 Soziales Umfeld: Abhängigkeit, erschwerte Teilnahme am
sozialen und kulturellen Leben, Schwierigkeiten bei der
schulischen Begleitung der Kinder
Der Weg hinaus…
Einzelne Schritte
Eingeständnis
Bedarf erkennen, Schwäche eingestehen
Entscheidung
Zutrauen in die eigene Lernfähigkeit
Anmeldung
den Schritt wagen, Kursbesuch organisieren
Kursbesuch
dranbleiben
ohne
Leistungsdruck
individuell
persönlich
Lese- und Schreibkurse für Erwachsene
Lese- und Schreibkurse für Erwachsene
Persönlich
Beratung, Erstgespräch, kleine Gruppen
Individuell
Rücksicht auf die Lernbiographie, individuelle Lernziele,
Niveau-Gruppen
Ohne Leistungsdruck
keine Noten, individuelle Lernzielkontrolle,
keine Schulsituation
Neue Strategien
sich auseinandersetzen, statt verheimlichen
lesen und schreiben, statt vermeiden
selber Erfolge erleben, statt delegieren
Die Rolle der Vermittlerpersonen
erkennen
Vermittlerpersonen können Betroffene erkennen




an den Ursachen / Risikofaktoren
an den Folgen
an den Alternativstrategien
beim Übernehmen von Lese- und Schreibaufgaben
ansprechen
Vermittlerpersonen können Betroffene ansprechen




auf Ursachen / Risikofaktoren
auf Folgen
auf Alternativstrategien
auf das Thema allgemein
kleine Hilfe zur Gesprächsführung
Wie schätzen Sie Ihre Kompetenzen ein?
1
10
Können Sie die Anforderungen an Sie erfüllen?
1
10
Wie fühlen Sie sich dabei?
1
10
Prozess und einzelne Phasen
Eingeständnis
Hinweise erkennen, weite Verbreitung
erwähnen, Kurse erwähnen, aktiv zuhören
Entscheidung
Kurse beschreiben, zum Erstgespräch
motivieren, aktiv zuhören
Anmeldung
Rahmenbedingungen schaffen,
Anmeldeformalitäten
Kursbesuch
motivieren, unterstützen, nachfragen
Unterschiedliche Bedürfnisse
Die Lebenssituation der Kursteilnehmenden war zu Kursbeginn
 klar geregelt, damit das Lernen überhaupt möglich wurde.
 war auf vielen Ebenen unsicher und ein Kursbesuch konnte als
konkreter Ansatz zur Veränderung wirken.
Eine von vielen Ansprechpersonen
Eine betroffene Person braucht auf ihrem Weg mehrere
Gesprächspartner/innen. Man braucht nur eine/r davon zu sein.
Erfolgsgeschichten...
Boggsen – Wer zur Schule
gegangen ist, kann lesen und
schreiben.
Von Jürg Neuenschwander (2011)
Herzlichen Dank!