Diagnose Gewalt Gewalt aus der Sicht der Geriatrie Thomas Frühwald Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel 3.

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Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


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Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

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Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

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Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

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Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 3

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 4

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 5

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 6

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 7

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 8

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 9

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 10

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 11

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 12

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 13

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 14

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 15

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 16

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 17

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 18

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 19

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 20

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 21

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 22

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 23

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 24

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25


Slide 25

Diagnose Gewalt
Gewalt aus der Sicht der Geriatrie
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel
3. FSW-ExpertInnenforum
Wien, 18.November 2008

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 1

Gewalt an alten Menschen
Definition

The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse.WHO, 2002

„Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das

Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung
geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden
oder Leid zufügt.“
„Gewalt an alten Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung und eine
signifikante Ursache von Verletzungen, Krankheit und Verzweiflung...“

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 2

Formen der Gewalt
Gewalthandlungen sind meist mehrdimensional






Direkte Gewalt:
• bestimmtes Handeln bzw. Nicht-Handeln
• Täter und Opfer in direkter Beziehung zu einander
• meist Misshandlung, d.h. ein aktives Tun
Strukturelle Gewalt:
• im Unterschied zur direkten Gewalt zeigt sie sich nicht gleich
• ist „geräuschlos“ (L.Seidel, 2007), das „stille Wasser“ (J.Galtung, 1984)
• weist eine große Stabilität auf, denn Sozialstrukturen sind recht träge
• ermöglicht viele Formen direkter Gewalt, durch kulturelle Gewalt gefördert
Kulturelle Gewalt:
• Ageism, Altersdiskriminierung, neg. Altersstereotyp, Defizitmodell (medial
transportiert) – fördern Gewaltbereitschaft gegenüber alten Menschen
• Altenpflege traditionell (kulturell) als weibliche Rolle verstanden –
Übertragung der Mutter-Kind-Beziehung auf Altenpflege, Infantilisierung...
Hemmschuh der Professionalisierung und Qualifizierung der Pflege...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 3

Formen der direkten Gewalt
nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Physische Gewalt
(seltener als die anderen
Formen)

Bewusstes Zufügen
v. Schmerz,
körperlicher Zwang

Psychische Gewalt

Bezieht sich auf
verbalen u.
emotionalen Bereich

Finanzielle Ausbeutung

Kontrolle über
Eigentum, Übergriff
auf Besitz
Behinderung der
Wahrnehmung von
Grundrechten

Schlagen, mechan. Fixierung, sexueller
Missbrauch, unnötige Katheter,
Zwangsernährung, Zwangsmedikation;
Vorenthalten von Wohnung, Wärme u.
Behaglichkeit...
Aussetzen - „Abandonement“ „Granny
Dumping“
Anschreien, Beschimpfen, Beleidigen,
div. Drohungen, Einschüchterung
Verletzung d. Schamgefühls,
Erniedrigung, Verspotten
Überreden Geschenke zu machen,
Zwang zur Abgabe der Kontrolle über
Finanzen, Änderungen im Testament
Strukturelle Vorgaben brechen den
Willen (“totale Institution“), Isolation v.
sozialen Kontakten, Einsperren, keine
freie Wahl des Wohnortes

Freiheitseinschränkung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 4

Formen der direkten Gewalt

Forts.

nach L.Seidel, 2007
Gewaltform

Definition

Beispiele

Vernachlässigung

Passiv: unterlassene
Handlung bei falscher
Einschätzung
Aktiv: bewusstes
Vorenthalten v. nötigen
Maßnahmen
Physische u./od.
psychische Gewalt

Exsikkose, Mangelernährung,
Decubitus, keine Hilfe bei ADL‘s, keine
Inkontinenz-Betreuung, inadäquate
Grundpflege; nicht durchgeführte bzw.
vorenthaltene Diagnostik, Therapie,
Rehab; „eingesparte“ Medikamente
Am ehesten betroffen: überfordertes,
unter Zeitdruck arbeitendes, schlecht
qualifiziertes PP; Kratzen, Schlagen,
verbale Aggression, Burnout des PP...
Wie oben + Vorwürfe, psychischer
Druck, Beschimpfungen, „Erpressung“,
Ausnützen v. Schuldgefühlen...

Gewalt am
Pflegepersonal
„Carer Abuse“
Gewalt an pflegenden
Angehörigen
„Carer Abuse“
„Resident-to-resident
aggression“

Physische u./od.
psychische Gewalt

Aggressives Verhalten
unter Bewohnern (Pat.),
(Rosen T et al, JAGS 2008) negative physische,
psychische, verbale
Interaktion.

35 versch. Formen aggressiven
Verhaltens: Anschreien, Schubsen,
Schlagen, sexuelle Übergriffe...
29 Triggersituationen z.B. Unruhe od.
Lärm durch den anderen, Eifersucht,
„Territorialkonflikte“, TV-Präferenzen...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 5

Strukturelle Gewalt
Beispiele
nach R.Hirsch, 2001














unzureichende, den Bedürfnissen der älteren kranken Menschen nicht
entsprechende Versorgung in Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens
erzwungenes Leben in institutionellen Rahmenbedingungen wegen nicht
ausreichend vorhandener alternativer Betreuungsformen
zu kurze Aufenthaltsdauer in nicht „geriatrisierten“ KH-Strukturen
unangepasstes, die Therapie, Pflege und Rehabilitation geriatrischer Pat. beund verhinderndes Milieu: z.B. Delir-, Inkontinenz-, Sturz-, Verletzungs-,
Mangelernährungs-, Depressionsrisiko fördernd...
nicht ausreichende Rehabilitationskapazitäten für geriatrische Patienten
schlechtes, nicht vorhandenes, Entlassungs- bzw. Case-Management
Mangel an Privatsphäre, erzwungenes Zusammenleben mit anderen Personen
in einem Zimmer, Reglementierung der Tagesstruktur im PH u. KH
Qualifikationsmangel - mangelnde Aus- u. Weiterbildung des Personals (z.B.
insuffiziente akademische Ausbildung in der Pflege u. in der Medizin...)
(versteckte) Rationierung, schlechte Personalressourcen
mangelhafte Qualitätsstandards, unzureichende Kontrolle von Institutionen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 6

Inzidenz und Prävalenz von Gewalt an alten Menschen
Cooper C et al: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review.
Age&Ageing 2008; 37:151-160

• Metanalyse von 49 Untersuchungen zur Gewalt an alten Menschen (nur 7
verwendeten validierte Erkennungs- u. Messmethoden...)
• signifikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat bei 6,3% der Älteren (>65a)
• bei den 7 Studien mit validierten Instrumenten: 25% signifikante psychische
Gewaltanwendung an dafür vulnerablen Personen
• 5% der betreuenden Angehörigen berichteten physische Gewaltanwendung an
dementen alten Menschen im vergangenen Jahr, 30% andere Gewaltformen
• 16% des Pflegeheimpersonals gaben psychische Gewaltanwendung zu... In
einer anderen Studie: 10% der PP gaben physische, 40% psychische Gewalt zu
• 80% des PH-Personals gaben Beobachtungen von Gewaltanwendung durch
andere zu, nur 2% davon wurden dokumentiert und der Heimleitung gemeldet
• nur ca. 1% der Gewaltanwendungen wird behördlich gemeldet
• Schätzung der American Geriatric Society, 2007:
• US-weite Inzidenz: 450 000 pro Jahr
• Prävalenz ca. 700 000 bis 1,2 Millionen
• ca. 4% der >65-Jährigen ist betroffen, vor allem Frauen...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 7

Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen










unmittelbare Verletzungsfolgen bei physischer Gewalt
Vernachlässigungsfolgen: Exsikkose, Malnutrition, Decubitus, Kontrakturen,
Inkontinenz...
Depression, Angst
Regression, soziale Isolation
beschleunigter kognitiver Abbau
durch mechanische Fixierung: Imobilisierung, Dekonditionierung, höhere Sturzund Verletzungsgefahr
durch „chemische“ Fixierung: Psychopharmaka-NW, kognitiver Abbau, Stürze,
Malnutrition...
mehr Pflege- und Betreuungsbedarf
höhere Mortalität: 3-Jahres Mortalität bei Gewaltopfern: 91% vs. 58%
(Lachs MS et al: The mortality of elder abuse, JAMA, 1998; 280:428-443)



erhöhter Betreuerstress, Abstumpfung, Potentierung des Burnouts

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 8

Ursächliche Faktoren für die Gewalt an alten Menschen
meist multifaktorieller Prozess


begünstigende strukturelle Faktoren:
• unzureichende Gesetzeslage
• Armut
• inadäquate Betreuungssysteme
• Ressourcenmangel
• Mangel an Wissen und Problembewusstsein



kulturelle Faktoren:
• Ideologie
• Biomedikalisation des Alters
• Ageism



persönliche Faktoren:
• Biografie - Beziehungsgeschichten - Anamnese der Gewalt
• unentrinnbare Abhängigkeiten, auch finanziell
• Familiengeschichte
• Psychopathologie beim Täter u./od. Opfer: Alkoholismus, psychiatrische
Erkrankungen, kognitives Defizit
• „carer abuse“ als „reverse abuse“ insb. bei Anamnese häuslicher Gewalt



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 9

Risikofaktoren für Gewalt an alten Menschen
nach Lachs MS, Pillemer K: Abuse and neglect of elderly persons. NEJM 1995; 332, 437-443












kognitive Beeinträchtigung der betreuten und/oder der betreuenden Person
hoher Abhängigkeitsgrad des älteren Menschen von der betreuenden Person
aber auch vice versa – emotionale, materielle Abhängigkeit ...
als Opfer: Frauen, >80J, Frailty
aktuelle und frühere familiäre Konflikte und Probleme, z.B.:
• innerfamiliäre Gewalt
• Alkohol- oder Drogenabusus
• psychiatrische Erkrankung
• intellektuelle Behinderung
finanzielle Schwierigkeiten auf beiden Seiten
familiäre Belastungssituationen, z.B: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Todesfälle
soziale Isolation
beengte, inadäquate Wohnsituation
zu hohe Betreuungslast („caregiver burden“), Überforderung d. BetreuerInnen

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 10

Warnzeichen für Gewalt an älteren Menschen
Wann sollte man bei der Anamnese hellhörig werden...













die ältere Person, oder deren BetreuerIn gibt inkohärente, widersprüchliche
Erklärungen für festgestellte Verletzungen
der Betreuungsperson scheint das Wohlergehen der betreuten Person egal
die Betreuungsperson zeigt Überforderungs- bzw. Erschöpfungszeichen
lauter, verbal aggressiver Ton zwischen BetreuerIn und betreuter Person in
Anwesenheit anderer (Arzt / Ärztin, PP, SozialarbeiterIn)
die betroffene ältere Person erscheint depressiv, geängstigt, verschreckt
er / sie ist ungepflegt, die Wohnung ebenfalls
Fehlen von Habseligkeiten und Geld der betroffenen Person
die ältere Person wird daran gehindert, mit Arzt / Ärztin, SozialarbeiterIn, PP
alleine zu sprechen
die betreuenden Personen meiden Arztvisiten, od. Besuche der Sozialdienste
viele unbezahlte Rechnungen...
leerer Kühlschrank

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 11

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt








Gespräch mit d. PatientenIn / BewohnerIn / KlientIn u. der Betreuungsperson
getrennt und ungestört
einfühlsame Fragen und Beurteilung im Hinblick auf:
• physische Gewaltanwendung
• aktive / passive Vernachlässigung
• psychische Gewalt
• Betreuerstress, Burnout
• Selbstvernachlässigung, „self-neglect“ (DD.: Messie-Syndrom)
Berücksichtigung ethnischer, kultureller Unterschiede bei der Beurteilung von
Gewalt und Vernachlässigung
Beurteilung der (kognitiven) Fähigkeit / Möglichkeit d. Betroffenen selbst über
die Situation zu urteilen und zu entscheiden
die Entscheidung der dazu kompetenten Person muss akzeptiert werden
die Autonomie d. älteren Person muss beachtet und gewahrt werden, er / sie
darf ihr (der Autonomie) aber nicht ausgeliefert sein...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 12

Anamneseerhebung bei Verdacht auf Gewalt
Fragenbeispiele











„Möchten Sie mir etwas über schwierige, sie belastende Situationen,
unangenehme Zwischenfälle zu Hause (auf der Station, im Heim) erzählen?“
„Hat jemand versucht, Sie zu verletzen?“
„Wurden Sie angebrüllt, beschimpft?“
„Wurden Sie gezwungen, Dinge zu machen, die Sie nicht wollten?“
„Kommen Sie mit Ihrem Geld aus?“
„Haben Sie etwas unterschreiben müssen, ohne zu wissen was es ist?“
„Fürchten Sie sich vor jemanden zu Hause (im Heim)?“
„Werden Sie oft alleine, ohne Hilfe, gelassen?“
„Sind Ihnen Sachen abhanden gekommen?

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 13

Symptome physischer Gewalt an alten Menschen









verwahrloste Kleidung, mangelhafte körperliche Hygiene
unterschiedlich alte Prellmarken, Hämatome, Abschürfungen, Wunden - insb.
wenn bilateral, auf Innenseite der Extremitäten; Kopfverletzungen
perigenitale Verletzungen
häufige, unterschiedlich, widersprüchlich erklärte Stürze
Angst, Nervosität des / der Pat. in Anwesenheit der Betreuungsperson
Unterwürfigkeit d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
verzögerte Behandlung von Verletzungen, Nicht-Einhalten von
Kontrollterminen, häufiger Arztwechsel
Aussagen d. Pat. über Gewaltanwendung (auch wenn dement!)

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 14

Symptome psychischer Gewalt an alten Menschen








ungeduldiges, irritiertes Verhalten, abschätzige Bemerkungen seitens der
Betreuungsperson
Ambivalenz, Angst, Ärger d. Pat. gegenüber d. Betreuungsperson
unerwartete Depression
plötzliche Zurückgezogenheit
schlechte Compliance, häufig versäumte, abgesagte Kontrolltermine
häufiges Verlangen von sedierender Medikation

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 15

Symptome von Vernachlässigung
Beispiele











Kontrakturen
Dehydratation, nicht krankheitsassoziierte Malnutrition
unbeachtete Antriebslosigkeit, Depressivität
inadäquate Inkontinenz-Betreuung
mangelhafte Intervention bei häufigen Stürzen
Decubitus
inadäquate Reaktion auf offensichtliche medizinische Probleme
unangemessene, inadäquate, unkontrollierte Medikation (Psychopharmaka!)
„Undermedication“, „Overmedication“
unzureichende, offensichtlich inkompetente medizinische Betreuung

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 16

Gewalt - Screening
verlangt hohes Problembewusstsein und gutes klinisches Urteilsvermögen
Lachs MS et al: Elder abuse. Lancet. 2004; 364:1263-1272

Was soll erhöhte Aufmerksamkeit wecken?
• spärliches, schlecht funktionierendes soziales Netz
• Hinweise auf Konflikte zwischen Pat. und BetreuerIn
Was ist zu tun?
• als Arzt/Ärztin; Pflegeperson:
• dem klinischen Urteil / Instinkt vertrauen
• komplette körperliche Untersuchung
• besondere Beachtung der kognitiven Funktion
• d. Pat. persönlich, ungestört befragen
• sensibler, empathischer Umgang mit d. Betreuungsperson


als Angehöriger:
• dem Gefühl / Instinkt vertrauen
• Reinlichkeit, Ernährungssituation beachten
• auf Verletzungszeichen, Mobilitätsverschlechterung achten
• den Umgangston beachten
• unangemeldete Besuche

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 17

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Optionen
nach Australian Society for Geriatric Medicine, Position Statement Elder Abuse, 2003











Krisenintervention:
• akute KH-Aufnahme (z.B. geriatrische Abteilung)
• „Notaufnahme“ ins PH, od. „Respite Care“, od. betreute Wohnstrukturen
• ev. sofortige Trennung d. Opfers v. d. Betreuungsperson
Ambulante Dienste:
• mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Haushaltshilfen etc.
Entlastende Maßnahmen, „Respite Care“ Angebot:
• insb. bei Vernachlässigung durch überforderte Betreuer
• Tageszentren
Alternatives Wohn- u. Betreuungsumfeld, wenn nötig PH
Beratungsangebot für Betreuer, ev. Familientherapie
Fortbildungs-, Coaching-, Supervisionsangebot für Betreuer
Behördliche Intervention, z.B.: polizeiliche Maßnahmen, Wegweisrecht,
Sachwalterschaft bei finanzieller Ausbeutung...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 18

Intervention bei Gewalt an alten Menschen
einige Anmerkungen




Die Geriatrie könnte einen wichtigen Beitrag zu mehr Problembewusstsein,
mehr Wissen um Ursachen, Folgen und Interventionsmöglichkeiten leisten –
wie die Pädiatrie beim Thema Kindesmisshandlung.
Das Erkennen von Zeichen der Gewaltanwendung ist wichtig – denn
üblicherweise klagt die betroffene ältere Person nicht direkt – ein gewisse
Sensibilisierung dafür wäre insbesondere von ÄrztInnen, Pflegepersonen,
SozialarbeiterInnen, von geriatrischen Teams zu erwarten.
(McAlpine C: Elder Abuse and neglect. Editorial, Age&Ageing 2008; 37:132-133)





Es mangelt an unterstützenden, beratenden, intervenierenden, spezialisierten
Strukturen, wie z.B.:
• „Reporting Centers for Elder Abuse“ in 94% aller Gemeinden in den
Niederlanden
• „Adult Protection Services“ in den USA
„Strukturelle Gewalt, z.B. in Form institutioneller Missstände schweigend
hinzunehmen bedeutet, diese aufrecht zu erhalten und zu eskalieren.“
(R.Hirsch, 2003)



„Whistleblowing“ Recht in Strukturen des Gesundheits- u. Sozialsystems

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 19

Ansätze zur Prävention
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006
Präventionsebene
Allgemeine
Prävention

Selektive
Prävention

Intervention
• öffentliche Aufmerksamkeit, “Awareness“; Medien
• „generationsübergreifende Solidarität“ schaffen
• professionelle Aus- u. Fortbildung der involvierten
Berufsgruppen
• Schaffung adäquater gesetzlicher u. struktureller
Rahmenbedingungen (adäquate Versorgungsstrukturen, soziale Dienste, Qualitätsstandards für
die extra- u. intramurale Betreuung...)
potentielle Opfer, Risikogruppen:
• Screening
Personen mit Risiko der Täterschaft:
• unterstützende Maßnahmen, „caregiver support“:
• Stressmanagement, Burnout Prävention,
Deeskalationstraining...
• Angehörigenberatung
• Prävention von / Intervention bei Risikofaktoren
wie soziale, finanzielle, Wohn- Probleme, Alkoholabusus, psychiatrische Probleme...
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 20

Evidenz
• keine Daten
• “Awareness“
besser
• keine Daten

• keine Daten

• effektiv

• keine Daten

Ansätze zur Prävention Forts.
nach Pillemer K et al: Prevention of Elder Mistreatment. In: Doll LS et. Al. (Ed.): Handbook of
Injury and Violence Prevention. Springer, 2006

Präventionsebene
Indizierte
Prävention

Intervention

Evidenz

Gewaltopfer:
Screening
obligate Meldung
soziale Unterstützung, Selbsthilfegruppen
„Adult Protection Services“
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive
TäterIn:
psychiatrische Intervention
Deeskalationstraining, Beratung
Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen
Heimbesuche durch Sozialdienste + Exekutive

• keine Daten
• ev. pos. Ergebnisse
• negativer Effekt

• effektiv
• negativer Effekt

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 21

Was braucht die Geriatrie?
Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness.
JAGS 44:1125-1127,1996

Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche
Dimension notwendig:
“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der
Nächstenliebe ('guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen
sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch:
Nächstenliebe (Güte) auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die
Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie
zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness')
könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur
auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die
praktische Ausbildung der Ärzte finden..."
Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem,
empathischem Handeln wäre wohl ideal...

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 22

Danke!



T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 23

Erich Fried „Die Gewalt“
Auszug

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Ich liebe dich:
Du gehörst mir!"
Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
"Du bist krank:
Du musst tun was ich sage!"

T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 24

Gewalt an alten Menschen
weitere Definitionsversuche


Eine systematische, nicht nur einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem
Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des
älteren Menschen.
Niederfranke, Grewe, 1996



Handlungen oder Unterlassungen, die eine negative Auswirkung auf die
Gesundheit oder auf die Befindlichkeit einer älteren Person haben.
American Medical Association, 1992



Absichtliche Handlung einer Betreuungsperson, oder einer anderen Person,
die in einem Vertrauensverhältnis zum betroffenen, vulnerablen älteren
Menschen steht, die diesem/dieser einen Schaden zufügt, oder das Risiko für
einen Schaden herbeiführt.
Oder: Das Versäumnis einer Betreuungsperson, die Grundbedürfnisse des
alten betreuungsbedürftigen Menschen zu befriedigen beziehungsweise ihn/sie
vor einem Schaden zu schützen.
National Research Council, 2003



Jedes Verhaltensmuster, welches einer älteren Person körperlichen,
psychischen oder materiellen Schaden verursacht.
Australian Society for Geriatric Medicine, 2003
T.Frühwald, 18.Nov.2008
Seite 25