Prof. Dr. Moser: Stadtanthropologische Perspektiven 3

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Stadtanthropologische
Perspektiven 3
Prof. Dr. Johannes Moser
Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie
Sommersemester 2010
Stadtanthropologische Perspektiven
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Anfänge der Stadtforschung
• Entstehung der Großstadt im Industriezeitalter
weckt sozialwissenschaftliches Interesse
• Vorläufer an Stadtforschungen im 18. Jh.
• Louis Sébastien Mercier: „Tableau de Paris“
1781 – 12 Bände bis 1788, angebliche Auflage
100.000 Exemplare
• Ihn interessierte das Dunkle, das Hintergründige, die Schattenseiten der Stadt Paris
• Wollte die Gegenwart beschreiben und verfasste dafür 1.000 sozialkritische Reportagen.
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Themen waren u.a.: Ekel und grausige Speisen, Perückenmacher, Wasserträger, Bücherverleiher, Tischgänger, Kolporteure, Almosensammlerinnen, Spitzel, Straßendirnen, Kurtisanen, das Backen und Braten, die kleine Post,
der Schweizer von der Rue de l'Ours, das Geschäft mit dem Wasser, der Guckkasten, der
Lakritzenwasserverkäufer
Beschreibt den Schmutz, die Rattenplage, die
Wanzen und Flöhe
ethnographischer Einblick in den Alltag und die
Probleme einer Großstadt
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Lorenz von Westenrieder (1748-1829)
• Historiker und Schriftsteller (Abb.)
• Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt
München (im gegenwärtigen Zustande) – 1783
• Geschichte Münchens und erste frühe Stadtvolkskunde
• beschreibt Straßen, Plätze und Baulichkeiten
• Versuchte im 3. Teil eine Bestandsaufnahme
des Münchner Alltagslebens
• Freizeitverhalten der Münchner, Brauchtum,
Lebensgewohnheiten, sprachliche und charakterliche Besonderheiten
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Lorenz von Westenrieder
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London ist die andere Metropole, die früh zum
Gegenstand von Untersuchungen wird
Monster Metropole der viktorianischen Ära –
doppelt so groß wie Paris
Königin Victoria regierte von 1837- 1901
London wies eine starke räumliche Segregation der sozialen Klassen auf
Im Westen wohlhabende Menschen, im Osten
Industrieanlagen und Massenquartiere für Arbeiter und Arme
Der Osten Londons als „dunkler Kontinent“
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Frühe Stadtforschung kontrollierte und observierte
Kartographie (mapping) sollte Problembereiche
identifizieren
Heilsarmeegründer William Booth sprach vom
Londoner „Urwald“ und „eigenen Pygmäen“
Ziel war Missionierung der „Wilden“ in der
eigenen Gesellschaft
Gleichzeitig verspricht die Erforschung und
Untersuchung des „dunklen Kontinents“ in der
eigenen Stadt ein Abenteuer
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Viele Forscher überwanden die Kontrollfunktion und zeigten ein besonderes Interesse an
den „Anderen“
Stadtforschung ist daher nicht zuletzt eine Geschichte der Obsessionen und Leidenschaften
der Forscher
Anfang der 1830er Jahre durchwanderte Alexandre Parent-Duchâtelet sämtliche Kloaken
von Paris
Bei der Betrachtung der anderen Seite der
Stadt werden Assoziationen von Schmutz,
Armut, Laster miteinander verbunden
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Schmutz und Unrat stellen eine moralische Kategorie dar, mit der u.a. auf Unanständiges, sexuell Anstößiges, Schuld, Verbrechen oder
Laster verwiesen wird
Überbevölkerung und Ansteckung sind wichtige Begriffe – Bebauungsdichte & Epidemien
Diskurse kreisen um Ordnung und Unordnung
Ansammlung von Menschen als Zusammenrottung, Ansteckung auch als geistige Infiltration
Wohnstätten der Armen werden zu Brennpunkten von Krankheit, Kriminalität und politischer
Abweichung
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Sie werden als Nester, Höhlen, Gruben oder
Brutstätte bezeichnet
Man sprach von einer race apart, einer eigenen Kultur, die sich durch moralische Laxheit,
Trägheit, Sorglosigkeit, Unmäßigkeit und sexuelle Freizügigkeit auszeichnete
Frühe Sozialreformen waren moralische Kreuzzüge zur Verbesserung des Charakters der
Bewohner
Es gab keine eine Analyse der ökonomischen
Faktoren der Wohnungsnot
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Henry Mayhew (1812-1887)
• Schriftsteller und Journalist
• Erste ethnographische Berichte aus einer Stadt
• verstand sich als Reisender in das unentdeckte
Land der Armen
• Mayhew gab den Menschen ein Gesicht, eine
Stimme und eine Persönlichkeit
• Ab Oktober 1849 erschien im „Morning Chronicle
die Serie „Labour and the Poor“
• detaillierte Darstellung des sittlichen, geistigen,
materiellen und physischen Zustands der arbeitenden Armen in England war geplant
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Mayhew ließ die Armen selbst zu Wort kommen
Stellt unterschiedliche Gewerbe vor
Lässt die Menschen über Arbeit, Wohnen und
Familie berichten
„Labour and the Poor“ ist ein frühes Meisterwerk der Sozialforschung im städtischen Raum
Verbindung von Statistik, Beobachtungen und
Lebensgeschichten
Serie wurde auf Druck von Anzeigenkunden
eingestellt
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Mayhew setzte das Unternehmen in kleinen
Fortsetzungsheften fort
Titel: „London Labour and the London Poor. Eine Enzyklopädie der Lebensbedingungen und
Einkommen von denen, die arbeiten wollen,
denen, die nicht arbeiten können und denen,
die nicht arbeiten wollen“
Mayhew nannte es eine Enzyklopädie des Fleißes, der Not und des Lasters in der Metropole
London
Ethnograph des Londoner Straßenvolks
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Transportkahn
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Penny Gaff - eine Art Volkstheater
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Interessierte sich für nomadische Gruppen
Unterschied sie nach der Kopfform von den
Siedlern
Diese Rassentheorie ist aus heutiger Sicht die
Schwäche des Werks, während die ethnografische Leistung seiner Zeit weit voraus war
Abhandlung über Costermonger
Straßenhändler von Gemüse, Obst und Fisch
Interesse an Einkommen, Märkten, Handelsrechten, Politik, religiöser Einstellung, Erziehung und Amusements
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Mayhew schildert Gewohnheiten, Glücksspiele,
die Rolle von Ehe und Konkubinat, Wohnen,
Kleidung, Lektüre und Spitznamen
Ihr Slang ist ihm Beweis für die Zwei-RassenTheorie
Zählt die Londoner Märkte – 3.800 Costermonger
Geschäftsleben auf der Straße, Vergnügungen
in Kneipen, Tanzlokalen und Theatern
Glücksspiele, insbesondere Karten spielen,
werden hoch geschätzt
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Beliebt waren auch „Blood Sports“ wie Hundekämpfe und Rattentöten
Costermonger waren Anhänger der Chartisten,
die für allgemeines Stimmrecht, geheime Abstimmung, gegen politischen Privilegien der
Besitzenden, für eine Arbeitszeitverkürzung
und für bessere Arbeitsbedingungen plädierten
Darstellung der Costermonger war nach Rolf
Lindner eine Subkulturanalyse lange bevor es
eine Vorstellung von Subkultur gab, weil er sich
für den Stil einer Gruppe, ihre Kleidung, ihre
Sprache etc. interessierte
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Charles Booth (1840-1916)
• Reeder und Reformer
• Initiierte und leitete eine 17bändige Studie über
Armut in London
• Hatte als Kaufmann die Angewohnheit, Daten
als Entscheidungsgrundlage zu sammeln
• Startete seine Untersuchung nicht aus philantropischen Gründen, sondern wollte mit statistisch-exakten Methoden beweisen, dass die
Londoner Bevölkerung nicht arm sei, wie ein
Sozialdemokrat behauptet hatte
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Charles Booth
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Diese Widerlegung misslang Booth
Nach seiner Untersuchung lebten mehr als
30% der Londoner Bevölkerung in Armut
3 Schwerpunkte seiner Untersuchung:
1. Die poverty series: Untersuchung und Lokalisierung
von Armut und Verelendung im städtischen Raum
2. Industry series: Überblick über die Menschen bei
ihrer Arbeit inkl. Gehalt und dessen Auswirkungen
auf die Lebensführung
3. Religious influences: Einfluss der kirchlichen und
anderer sozialer Einrichtungen auf die Bevölkerung
– Vergleich mit der Bedeutung von Einrichtungen
wie Wirtshaus, Music Hall oder Spielhöllen
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Bevölkerungsstatistiken, Einzelbefragungen
und Beobachtungen
Berichte der Kontrollore der Schulbehörde
Expertenwissen von Lehrern, Gesundheitsbehörden, Pfarrern, Fürsorgebeamten, Stadtmissionaren, Wohltätigkeitsorganisationen
Klasseneinteilung von A bis K
Arbeitende Klassen sind nicht moralisch minderwertig
55 % der Armutsfälle aufgrund von fehlenden
Arbeitsangeboten und niedrigen Löhnen
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Auch Booth kartographierte (Mapping)
Erfasste Straße für Straße gemäß der sozialen
und moralischen Merkmale ihrer Bewohner
Farbsystem, um die sozialen Klassen im
städtischen Raum sichtbar zu machen
Booth Survey war sehr einflussreich und diente
vielen späteren Untersuchungen als Vorbild
Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es einen
weiteren frühen volkskundlichen Zugang zur
Stadt
Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897)
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Wilhelm Heinrich Riehl
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Begründer der Volkskunde als Wissenschaft
Großstadt war für ihn kein Feld volkskundlicher
Forschung
Riehl sah die Großstadt als etwas Negatives,
musste sich für diese Argumentation urbaner
Aspekte annehmen
Sieht die Stadt als neuen Mikrokosmos mit
eigenen Gesetzlichkeiten
„Weltstädte sind riesige Encyklopädien der
Sitte wie der Kunst und des Gewerbefleißes
des ganzen civilisierten Europas“
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Großstädter müssen nicht durch die Stadt
wandern, sondern lassen die Welt kommen
Benennt die Problemlagen Wohnen und
Stadtplanung sowie Verkehr
Sieht auch Phänomene wie „Junggesellenwirtschaft“
Riehls Ausführungen zur Stadt sind ein Seitenstrang seiner umfassender auf Land und Leute
abzielenden konservativen wissenschaftlichen
Produktion
Nach Riehl für Jahrzehnte keine volkskundliche
Großstadtforschung
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Settlement-Bewegung
• Suchte sozialreformerische Antworten auf die
urbane Klassengesellschaft
• Bürgerliche Akademiker zogen in Arbeiter- und
Armutsquartiere
• Häufig religiöser Hintergrund
• Nähe zu Missionsstationen und Missionierung
daher nicht zufällig
• Auch in Deutschland entstand eine solche
Bewegung – etwa in Berlin und Hamburg
• Hamburger Volksheim von Walter Classen
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Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost
Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969)
Zog 1911 als junger Pfarrer von Potsdam nach
Friedrichshain
Hatte davor in London Bekanntschaft mit der
Settlement-Bewegung gemacht
Gründete die erste „Niederlassung Gebildeter
inmitten ärmster Bevölkerungskreise“ im Deutschen Reich
Strebte soziale Reformen mit kulturellen Mitteln
an durch:
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Bildungs- und Erziehungsinitiativen
Anleitung zu sinnvoller Freizeitgestaltung
soziale Einbindung der „sittlich gefährdeten“
Arbeiterbevölkerung der Städte
„Siedler“ der Arbeitsgemeinschaft wollten einen
„Brückenkopf“ der Moral und der Nächstenliebe errichten
männliche Arbeiterschaft sei gefährdet und
geistlich krank
Gottesfeindschaft sei epidemisch
schwarzer Tod habe roten Tod abgelöst
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Unterschied zu London war das Interesse an
der Arbeiterschaft und weniger an den Armen
Vorläufer Paul Göhre »Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche«
Arbeitsgemeinschaft suchte Mitarbeiter aus
dem Umfeld der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung
Mitarbeiter suchten persönlichen Kontakt zu
Arbeitern und wollten Einblick in deren Denkart
erhalten
Erhebungen in der Nachbarschaft:
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über die Arbeits- und Lebensbedingungen in
bestimmten Berufen
über die Wohnverhältnisse
über Wohlfahrtseinrichtungen
Besonderes Augenmerk wurde auf kommerzielle und private Vergnügungsstätten gelegt:
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Cafés, Kneipen, Tanzlokale
Kinos, Variétés, Theater
Rummelplatz
Feste und Feiern
Stätten verborgenen Lasters wie Animierkneipen,
Homosexuellen-Cafés oder „Kokainhöllen“
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Wenzel Holek – Mitarbeiter der SAG Berlin-Ost
fiel die Kneipenhäufigkeit auf
Erkannte darin soziale Bedürfnisse, weil Arbeitsbedingungen & Wohnverhältnisse das gesellige Leben nach außen verlagerten
Jens Wietschorke: Arbeiterfreunde. Eine historische Ethnographie der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ 1911-1933
historischen Ethnografie der Einstellungen und
Wertorientierungen der darin engagierten Bildungsbürger
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Rekonstruktion der Bedeutungen dieses sozialen Engagements für diese Akteure
Skizziert das integrative Konzept einer gesellschaftlichen Führung
Rekonstruktion und Interpretation einer „Kultur
der Eliten“ in Auseinandersetzung mit der
„Unterschicht“
Blick auf eine protestantische Bildungs-Elite
eine spezifische Form der Gesellschaftsgeschichte in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts