Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit durch neue Medien?

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Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit durch neue
Medien?
Habermas revisited
24.10.2011
Forum offene Wissenschaft
Universität Bielefeld
Vorbemerkungen
•
Es geht um einen möglichen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit durch
neue, computergestützte Medien.
•
Öffentlichkeit wird damit im Rahmen eines Medienwandels betrachtet.
•
Allgemein wird das Neue gewandelter Medien durch einen Blick auf ältere
Medien deutlich.
•
Deshalb ist – allgemein und für unser Thema – die
Massenkommunikationsforschung wichtig, wenn es um das Internet geht.
•
Beides kommt demnach in den Blick: der Strukturwandel der Öffentlichkeit durch
Massenmedien (Jürgen Habermas) und die Frage eines neuen Strukturwandels
durch neue Medien.
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der Öffentlichkeit
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Verlauf
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Grundzüge von Öffentlichkeit
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Grundmerkmale der Öffentlichkeit
•
Strukturwandel der Öffentlichkeit
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Medienwandel
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Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?
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Grundzüge von Öffentlichkeit
Alltägliche Begriffe der Öffentlichkeit:
•
Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die nicht privat, sondern
öffentlich, d.h. auch Fremden zugänglich sind.
•
Meinungen der Mehrheit der Bürger => öffentliche Meinung
•
Massenmediale Öffentlichkeit
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Grundzüge von Öffentlichkeit
Auch wissenschaftlich ist Öffentlichkeit ein vielgestaltiger Zusammenhang.
Öffentlichkeit hat unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedlichen
wissenschaftlichen Disziplinen:
- Die Rechtswissenschaft fragt nach allgemeiner Zugänglichkeit,
- die Politologie fragt nach Partizipationschancen,
- die Soziologie fragt nach Systemgrenzen,
- die Kommunikationswissenschaft fragt nach Publika,
- die Meinungsforschung fragt nach Mehrheiten.
So kommen im Zusammenhang mit Öffentlichkeit je nach dem Offenheit,
Wähler, Kunden, Publizität, Presse usw. in den Blick.
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Grundzüge von Öffentlichkeit
•
Öffentlichkeit bildet einen zentralen Bereich des gesellschaftlichen Lebens.
•
Öffentlichkeit ist heutzutage vor allem massenmedial erzeugte Öffentlichkeit.
•
Mediatisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Gesellschaftliche Teilbereiche
und Gesellschaftsmitglieder sind zunehmend abhängig von Öffentlichkeit. Was
wir erfahren und wissen, erfahren und wissen wir zunehmend aus zweiter Hand,
aus den Medien.
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Grundzüge von Öffentlichkeit
Auf der einen Seite erscheint Öffentlichkeit als ein komplexer, schwer
durchschaubarer Kommunikationsraum:
Was wann auf welche Weise auf mehr oder weniger ausgeprägte Resonanz
stößt, lässt sich oft kaum nachvollziehen, scheint „irrational“ und kaum planbar
zu sein.
Beispiele:
•
Die Entlassung oder der Rückzug eines deutschen Fußball-Nationaltrainers vermag in der
öffentlichen Wahrnehmung ohne weiteres die Entstehung einer gefährlichen politischen
Krise zu verdrängen.
•
Es fällt immer schwerer, einigermaßen zuverlässige Wahlprognosen zu erstellen.
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Grundzüge von Öffentlichkeit
Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Kriterien, an denen sich die
öffentliche Resonanz orientiert.
Das bekannteste Beispiel sind die sogenannten Nachrichtenwerte, die angeben,
an was die Auswahl einer guten, d.h. öffentlichkeitswirksamen Nachricht
orientiert sein muss: u.a. Neuheit, Überraschungen, Konflikte, lokale Bezüge,
Skandale.
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Grundmerkmale der Öffentlichkeit
•
Öffentlichkeit ist ein spezifisches Kommunikationssystem auf der Basis des
Austauschs von Informationen und Meinungen.
•
Die Grenze des Systems ist offen: Grundsätzlich alle Mitglieder einer
Gesellschaft dürfen teilnehmen, das Publikum ist unabgeschlossen.
•
Öffentlichkeit umfasst sowohl Interaktionen (Kommunikationen unter
Anwesenden) als auch massenmediale Kommunikationen (Bsp.: Talkshow im
Fernsehen).
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Grundmerkmale der Öffentlichkeit
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Öffentliche Kommunikation ist Laienkommunikation: Da es keine
spezifischen Zugangsbedingungen gibt, kommt öffentliche
Kommunikation nur an, wenn sie möglichst allgemein verständlich ist
(darauf spezialisiert sich die Öffentlichkeitsarbeit).
•
Öffentliche Kommunikation orientiert sich nicht an Wahrheit oder
Vernunft, sondern sie stellt Allgemeinheit her.
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Grundmerkmale der Öffentlichkeit
Die zentrale Funktion der Öffentlichkeit wird in der Kontrolle des
politischen Systems gesehen.
Diese Engführung der Funktionsbestimmung ist problematisch.
Öffentlichkeit ist für viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens
bedeutsam.
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Strukturwandel der Öffentlichkeit
•
In modernen Gesellschaften vollzieht sich öffentliche Kommunikation am
folgenreichsten als Massenkommunikation.
•
Dieser Umstand wurde in der für lange Zeit wichtigsten soziologischen Theorie
der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas kritisch analysiert.
•
Habermas untersucht im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) die
Entstehung und die Bedeutung bürgerlicher Öffentlichkeit.
•
Bürgerliche Öffentlichkeit trägt in Prozessen diskursiver Auseinandersetzung zur
freien politischen Meinungsbildung bei.
•
Die Massenmedien unserer Tage drängen dagegen das Publikum in die
Privatheit passiv rezipierender Subjekte zurück. Diese Analysen richten sich am
Ideal aufgeklärter Öffentlichkeit emanzipierter Bürger aus.
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Strukturwandel der Öffentlichkeit
•
Den Hintergrund für Habermas‘ Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit
bildet Theodor W. Adornos Theorie der Kulturindustrie.
•
In dieser Theorie diagnostiziert Adorno einen allgemeinen Kulturzerfall, der
wesentliche Ursachen in der Vereinnahmung von Kultur durch das System der
Massenmedien hat.
•
Kultur muss nun den Kriterien der Vermittelbarkeit durch die Medien und der
Konsumierbarkeit durch das Publikum genügen. Sie wird zur Massenware,
produziert und reproduziert durch die herrschende Kulturindustrie.
•
Kultur wird durch Massenkommunikation standardisiert und trivialisiert.
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Strukturwandel der Öffentlichkeit
•
In dieser Tradition beschreibt Habermas den Wandel vom kulturräsonierenden
zum kulturkonsumierenden Publikum.
•
Das kulturräsonierende Publikum eignet sich Kultur aktiv an und bildet eine
kritische Öffentlichkeit. Es trifft sich in Debattierkreisen und Lesezirkeln.
•
Durch die marktförmige Organisation und massenmediale Zurichtung und
Verbreitung von Kultur zerfällt diese Öffentlichkeit in einzelne, passiv
konsumierende Rezipienten.
•
„Mit der privaten Form der Aneignung entfällt auch die öffentliche Kommunikation
über das Angeeignete.“ (Habermas)
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Strukturwandel der Öffentlichkeit
•
Selbst öffentliche kulturräsonierende Debatten, so Habermas weiter, werden
nun massenmedial organisiert und verbreitet (Podiumsdiskussionen, Talks etc.).
•
Es setzt sich die Logik der Massenkommunikation durch: Die neuen,
elektronischen Medien „beschneiden, im Vergleich zu gedruckten Mitteilungen,
eigentümlich die Reaktionen des Empfängers.“
•
Sie nehmen dem Publikum die „Distanz der ‚Mündigkeit‘, die Chance nämlich,
sprechen und widersprechen zu können.“
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Medienwandel
•
Diese Phase des Strukturwandels der Öffentlichkeit durch Massenmedien
mündet mittlerweile in Entwicklungen neuer Medien.
•
Frage: Gibt es einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit durch neue
Medien?
•
Aktueller Medienwandel: Alte Massenmedien und neue „interaktive“ Medien
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Medienwandel
•
Die vielfältigen Kritiken an den traditionellen Massenmedien, vor allem am
Leitmedium Fernsehen, setzen an der einseitigen Kommunikationsform an.
•
Stichworte: Massenmediale Kulturindustrie und Selbstinszenierungslogik;
Vereinzelung, Isolation, Eskapismus; die Inszenierung, Konstruktion und
Manipulation von Wirklichkeit.
•
Nur eine Aufhebung der Trennung von Sender und Empfänger (von
„Medienproduzenten“ und „Medienkonsumenten“) könnte diesen Kritiken zufolge
die massenmedialen Wirkungen der Entfremdung, der Manipulation, der
Überwältigung und der dumpfen Zerstreuung des Publikums überwinden.
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Medienwandel
•
Es müssten Rückkopplungsmöglichkeiten geschaffen werden.
•
Genau diese Möglichkeiten bieten neue technische Entwicklungen, die neue
Formen der Medienkommunikation entstehen lassen.
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Es vollzieht sich ein Wandel von den alten Medien in Form von
Einwegkommunikation zu den neuen, computergestützten Medien in Form von
Netzkommunikation.
•
Die Kommunikation läuft nicht mehr von einem Sender an alle Empfänger,
sondern von allen an alle, die potentiell sowohl senden als auch empfangen
können.
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Medienwandel
•
Im Internet gibt es vielfältige neue Möglichkeiten in den Bereichen Information
(z.B. Datenbanken, Wikipedia), Kommunikation (email, Facebook, Chat, Twitter)
und Unterhaltung (z.B. PC-Spiele, YouTube).
•
Aus dem zuschauenden, lesenden oder hörenden Publikum werden „User“, also
Nutzer und Mitgestalter der Angebote.
•
Es werden große Erwartungen mit der Entwicklung der Netz-Kommunikation
verknüpft: Nach den Beschränkungen der Kommunikation von einem Sender an
viele Empfänger werden Möglichkeiten des gleichberechtigten wechselseitigen
Austausches sichtbar.
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Medienwandel
•
Neue Medien bieten vielfältige Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten für die
Nutzer, weshalb sie auch als „interaktive“ Medien bezeichnet werden.
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Nach den vielfach behaupteten Überwältigungen durch Prozesse der
Massenkommunikation sollen die Subjekte Befreiung in den neuen,
"interaktiven" Medien finden.
•
Schon der schiere Umstand, dass traditionelle Kommunikationsbarrieren
überwunden werden können, soll für Demokratie ebenso wie für Gemeinschaft
von grundlegender Bedeutung sein.
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•
Es könnte sich demnach also tatsächlich ein neuer Strukturwandel der
Öffentlichkeit durch neue Medien vollziehen.
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Angesichts der Möglichkeiten neuer Medien scheint sich Habermas‘ Hoffnung
des Wandels eines (Kultur) konsumierenden zum aktiv beteiligten und
gestaltenden Publikums zu erfüllen.
•
Für eine Einschätzung dieser Vermutung sind folgende Grundlagen wesentlich:
•
Keine Ablösung alter durch neue Medien, sondern Differenzierung des
Mediensystems.
•
Die Gesellschaft kann auf die massenmedial erzeugte Form von Öffentlichkeit
nicht verzichten.
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•
Hinsichtlich der aktiven Mediennutzung im Netz ist Skepsis angezeigt.
•
Wenn neue Medien zunehmende Rückkopplungs-, Eingriffs- und
Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, bedeutet dies noch nicht, dass diese
Möglichkeiten auch genutzt werden.
•
Insbesondere das Schlagwort Web 2.0 verweist auf gesteigerte Möglichkeiten
der direkten aktiven Beteiligung an und Gestaltung von Internetangeboten.
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•
Das sogenannte „Mitmachnetz“ wird allerdings überwiegend massenmedial
genutzt (Ausnahme: Facebook).
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„Eine im Verhältnis geringe Anzahl aktiver Nutzer ’erschafft‛ also
massenattraktive Inhalte. Der Mehrwert ist für viele Nutzer offenkundig nicht die
Möglichkeit, selbst aktiv im Netz mitzumachen, sondern attraktive Inhalte passiv
konsumieren zu können.“ (Gscheidle/Fisch in Media Perspektiven 8/2007)
•
Dennoch etablieren sich neue Formen von Öffentlichkeit unter
Internetbedingungen, die zu den älteren Formen hinzutreten.
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•
Durch Weblogs, Foren, mobile Medien wie Handys usw. gibt es neue Formen
von Teilöffentlichkeiten.
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Allgemein gilt: Wenn prinzipiell alle nicht nur empfangen, sondern auch senden
können, werden wir nicht alle zu erfolgreichen Publizisten: nur wenige Angebote
werden öffentlichkeitswirksam verbreitet (z.B. Obama, der Internet im
Wahlkampf nutzte).
•
Es liegt ein breites Feld zwischen massenmedial hergestellter Öffentlichkeit und
einer begrenzten Öffentlichkeit, die auf Vernetzungen zwischen einigen
Beteiligten beruht.
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Aktuell werden Möglichkeiten der Mitsprache und Partizipation eingeklagt.
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Das Internet eröffnet vielfältige Möglichkeiten einer aktiven Beteiligung an
Prozessen politischer Willensbildung.
•
Diese Entwicklungen befördern den erstaunlichen Erfolg der Piratenpartei.
•
Die Frage, wie der Zusammenhang von neuen Medien, neuen Formen von
Öffentlichkeit und weiteren Entwicklungen der Demokratie letztlich
einzuschätzen ist, kann nur mit vorläufigen Hinweisen beantwortet werden.
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Die allerdings hängen nicht einfach in der Luft: Hierfür wurden einige
Grundlagen vorgestellt.
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•
Auch wenn neue Formen von Teilöffentlichkeiten die massenmedial erzeugte
Öffentlichkeit ergänzen, zeichnet sich kein tiefgreifender Strukturwandel der
Öffentlichkeit durch neue Medien ab.
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Öffentlichkeit als unverzichtbare gesellschaftliche Leistung des Mediensystems
hängt nach wie vor von massenmedialen Strukturen ab, die allerdings sowohl im
Internet selbst als auch in einer Kopplung von Massenmedien und Internet
hergestellt werden können.
•
Beispiele: Youtube, Wikipedia, Handyaufnahmen in Tagesschauberichten
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Schließlich können neue Formen einer politischen Öffentlichkeit durchaus auch
in herkömmlichen Massenmedien entstehen.
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Ein aktuelles Beispiel hierfür stellt die vom Fernsehen übertragene Schlichtung
„Stuttgart 21“ dar.
•
Mit Habermas wäre allerdings zu fragen, in welchem Verhältnis hier öffentlicher
Diskurs und fernsehspezifische Inszenierung stehen.
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Vielleicht könnte man abschließend sagen: „Immerhin…“
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