Wissenschaftstheorie und die Pluralität der Wirtschaftswissenschaft

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Transcript Wissenschaftstheorie und die Pluralität der Wirtschaftswissenschaft

Wissenschaftstheorie und die Pluralität der
Wirtschaftswissenschaft – ein historischer
Aufriss
Prof. Dr. Arne Heise, Zentrum für Ökonomische und
Soziologische Studien, Uni Hamburg
Gliederung
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Einführung
Erkenntnistheoretische Grundlagen
Pluralität versus Variation
Die paradigmatische Entwicklung der
Wirtschaftswissenschaft
Anmerkungen zur De-Pluralisierung seit 1970
Fazit
Einführung
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Ist Pluralität wissenschaftstheoretischer Konsens?
Da es nur eine Realität gibt, erscheint es naheliegend, dass es
auch nur eine wahre/richtige theoretische
Erklärung/Annäherung/Analogie gibt  Monismus als
wissenschaftstheoretisches Ideal der ‚Suche nach Wahrheit‘
Aber: Wissenschaftstheoretische Grenzen (Induktionsproblem,
kognitive Dissonanzen, Duhem-Quine-Kritik) lassen eine
eindeutige Diskriminierung von Theorien/Paradigmen entlang
der Linie ‚Wahr/Falsch‘ nicht zu
 Wir verfügen nur über ‚Vermutungswissen‘, welches sich
der Realität mittels empirischer Überprüfung stellen muss
(kritischer Realismus)
 alle Theorien/Paradigmen, die nicht widerlegt (empirisch
oder deduktiv falsifiziert) sind, haben Existenzberechtigung
(Wissenschaftsfreiheit als Pluralismusgrundlage)
Erkenntnistheoretische Grundlagen
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Wissenschaftstheoretische Zugänge zur Entwicklung
einer wissenschaftlichen Disziplin:
- Thomas Samuel Kuhn‘s ‚Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen‘:
- Paradigmen als wissenschaftliche Strukturen, die die
Arbeit einzelner Wissenschaftler verknüpfen und
eine Disziplin erkennbar machen (Lehrbücher +
Kanon, Grundkonventionen)
- Reifegrad einer Disziplin erkennbar daran, ob
Paradigma bereits ausgebildet und wieviele in
Konkurrenz existieren
 Pluralität als Zeichen des Übergangs (Revolution)
oder der Unreife (noch keine ‚Normalwissenschaft‘)
Erkenntnistheoretische Grundlagen
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Imre Lakatos‘ ‚Wettkampft der
Forschungsprogramme‘ und Paul Feyerabends
‚anything goes‘:
- Wissenschaftliche Forschungsprogramme (‚Paradigmen‘)
kämpfen um den Status der ‚Progressivität‘, da ansonsten als
‚degeneriert‘ betrachtet (Lakatos)
- Rationale Einteilung in progressive und degenerierte
Forschungsprogramme unmöglich (Feyerabend)
 ‚Kampf der Paradigmen‘ notwendiger und gesunder
Zustand einer fortschreitenden Wissenschaft
 Herausbildung eines Paradigmenmonimus muss
entgegengewirkt werden
Erkenntnistheoretische Grundlagen

Der ‚Kampf der Paradigmen‘ findet in einem ‚Machtfeld‘
statt (Pierre Bourdieu), dessen Dispositive durch die
Ausstattung der Forschungsprogramme mit
verschiedenen Kapitalarten (soziales, ökonomisches,
kulturelles und symbolisches) bestimmt wird
 ungleiche Ausstattung kann leicht zu einem
Mainstream führen, der weitere Prozesse der
Mainstreamisierung in Gang setzt (‚Matthäus-Prinzip‘)
Pluralität versus Variation

Zum Verständnis des ‚Kampfes der Paradigmen‘ nach
Lakatos/Feyerabend muss zunächst eine Klassifikation
erarbeitet werden, die eine Einteilung in Paradigmen
ermöglicht:
- Klassifikation geht auf die Dimensionen von
Forschungsprogrammen nach Lakatos zurück
- Es soll eine duale Unterteilung nach Orthodoxie –
Heterodoxie bzw. Mainstream – Non-Mainstream
ermöglicht werden
- Es soll erkennbar werden, worin der Unterschied
zwischen Pluralität (inter-paradigmatische Pluralität) und
Variation (intra-paradigmatische Pluralität) besteht.
Pluralität versus Variation
Tabelle 1: Klassifikation der ökonomischen Paradigmen
Kernannahmen Methodik
Heuristik
Paradigma
Kennzeichen ‚echter‘
Pluralität ist die Akzeptanz
verschiedener Heuristiken
Eine Reihe von
paradigmatischen (?)
Alternativen (Dissenter)
schaffen allenfalls Variation,
nicht aber ‚echte‘ Pluralität
- Rationalitätsannahme
- Ergodizitätsannahme
- Substitutionalitätsannahme
Infragestellung
einiger der
Kernannahmen
- Rationalitätsannahme
- Ergodizitätsannahme
- Substitutionalitätsannahme
- Rationalitätsannahme
- Ergodizitätsannahme
- Substitutionalitätsannahme
- Asymmetrische
Informationsverteilungsannahme
Infragestellung
einiger der
Kernannahmen
- Rationalitätsannahme
- Ergodizitätsannahme
- Substitutionalitätsannahme
Theoretische
Schule
Formal-mathemtisch
deduktiver,
positivistischer
Reduktionismus +
hochentwickelter
Empirismus/
Expertimentalismus
Formalmathematisch
deduktiver,
positivistischer
Reduktionismus +
hochentwickelter
Empirismus/
Expertimentalismus
Ablehnung des
formalmathematisch
deduktiven,
positivistischen
Reduktionismus
Formal-mathemtisch
deduktiver
Reduktionismus +
hochentwickelter
Empirismus/
Expertimentalismus
Akzeptanz der
Stabilität der
Markträumung als
‘Musterlösung’
DSGM
- Neue Klassische
Makroökonomie
- Neokeynesianismus
- Standardkeynesianismus
Akzeptanz der
Stabilität der
Markträumung als
‘Musterlösung’
Dissenter des
DSGM
- Verhaltensökonomie
- Neuroökonomie
- Komplexitätsökonomie
-evolutorische
Ökonomie
Akzeptanz der
Stabilität der
Markträumung als
‘Musterlösung’
Dissenter des
DSGM
Zurückweisung der
Stabilität der
Markträumung als
‘Musterlösung’
Dissenter/
Heterodoxie
- Ordnungsökonomie
- Österreichische
Schule
- Kritische
Neoklassik
- Informationsökonomie
Akzeptanz von
formalmathemtischer
Deduktion +
narrativer Analyse
Zurückweisung der
Stabilität der
Markträumung als
‘Musterlösung
Heterodoxie
Formal-mathemtisch
deduktiver
Reduktionismus +
hochentwickelter
Empirismus/
Expertimentalismus
Zurückweisung der
Stabilität der
Markträumung als
‘Musterlösung
Heterodoxie
- Postkeynesianismus
- Sozialökonomie/
sozialökonomischer
Institutionalismus
- Regulationstheorie
- Historische Schule
- Neoricardianismus
Die paradigmatische Entwicklung der
Wirtschaftswissenschaft
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Die Wirtschaftswissenschaft (‚Nationalökonomie‘,
Politische Ökonomie) entwickelt sich erst seit den
1950er zu einer monoparadigmatischen, monistischen
Wissenschaft (unter dem Schlagwort ‚We are all
Keynesians now‘).
Die USA (bzw. einige Elite-Unis) übernehmen eine
hegemoniale Führungsrolle bei der weltweiten
Durchsetzung des Standardkeynesianismus als Mainstream
In Deutschland findet nach dem 2. Weltkrieg eine
‚Amerikanisierung‘ der Ökonomik statt:
- Mathematisierung
- Empirische Orientierung (Positivismus)
- Übernahme des US-Mainstreams
Die paradigmatische Entwicklung der
Wirtschaftswissenschaft

Ab den 1960er Jahren fallen dann einige Entwicklungen
zusammen:
- enormer quantitativer Ausbau (1960 gab es 78 VWLProfessuren, Mitte der 1970er Jahre waren es 250
Professuren, heute etwa 600)
- mit dem Ausbau des Universitätssystems setzte eine
Reformierung ein:
- Zurückdrängung der Ordinarienuni zugunsten der
Gruppenuni (‚Drittelparität‘)
- Reformziele wie Praxisbezug, andere Lehrformen
und gesellschaftliche Relevanz
- ‚Kampf der Paradigmen‘, nachdem Keynes neuentdeckt
wird (‚What Keynes really meant‘) und nach Sraffas Kritik
Anmerkungen zur De-Pluralisierung
seit 1970
Ausbau der (Reform-)Universitäten und
Studierendenbewegung schaffen Raum für Alternativen
(‚Marx an die Uni‘).
Es kommt tatsächlich zu einer quantitativ geringen (<
10% aller VWL-Professuren) und regional sehr
ungleichmäßigen Pluralisierung

Anmerkungen zur De-Pluralisierung
seit 1970
Abbildung 1: Verteilung der heterodoxen Ökonomen im universitären Feld
Quelle: Eigene Berechnungen
 An den beiden Reformunis mit gesellschaftspolitischem Anspruch (U
Bremen + HWP) und den Reformunis mit Praxisbezug (GHs) fanden sich
etwa 50% aller heterodoxen Professuren
Anmerkungen zur De-Pluralisierung
seit 1970

Gründe für die De-Pluralisierung:
- Es gab keinen Mangel an theoretischen Ansätzen
(Monetärkeynesianismus, Neoricardianismus,
sozialökonomischer Institutionalismus,
Linkskeynesianimus); einige heterodoxe Schulen fanden
sogar keine Verbreitung in Deutschland
(Regulationstheorie, SSA-Ansatz)
- das ‚Machtfeld‘ der Ökonomik war sehr ungleich
ausgestaltet:
- heterodoxe Ökonomen hatten praktisch keinen
Zugang zur DFG
- heterodoxe Ökonomen hatten praktisch keinen
Zugang zu A-Journals
Anmerkungen zur De-Pluralisierung
seit 1970
- heterodoxe Ökonomen waren in ihrer
Reproduktion eingeschränkt:
- die Ausstattung ist deutlich schlechter als
durchschnittliche Ausstattung
- ‚Schülerproduktion‘ häufig hinter politischer
Transferleistung zurückgestellt
- mit dem Übergang des Uni-Systems von der
Gremienuniversität zur Wettbewerbsuniversität
entstanden Steuerungsinstrumente (‚objektive‘
Messbarkeit der Qualität durch Publikationen,
Drittmittel, etc.) mit klarem Mainstream-Bias
Fazit
Jede Wissenschaft entwickelt sich in spezifischen
Konstellationen, die das ‚Machtfeld‘ beschreiben
 Die Entwicklung der VWL in Deutschland wurde geprägt:
- von einem Kulturimport aus den USA (US-Hegemonie +
Markt als zentrale Gesellschaftsinstitution)
- von einem deutlichen Übergewicht der ‚orthodoxen‘
VWL mit Hinblick auf ökonomischen und
kulturelles/sympolisches Kapital
- durch die zunehmende Standardisierung, die einen
klaren Mainstream-Bias besitzt
 Es sind Pfadabhängigkeiten entstanden, die eine
Pluralisierung der Ökonomik aus sich selbst heraus nicht
wahrscheinlich erscheinen lassen
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Neoklassik forever?
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Wenn sich das DSGM innerakademisch kaum verdrängen
lässt, heißt dies noch nicht, dass die Ökonomik
unverändert bliebe:
- es wird hochwahrscheinlich einen deutlichen
Aufschwung von ‚Dissentern‘ geben:Verhaltensökonomik,
Komplexitätsökonomik, Evolutorische Ökonomik,
Neokeynesianismus
- es hat sich ein ‚Window of Opportunity‘ für echte
Pluralisierung aufgetan, das genutzt werden muss
- Diskussion über Pluralisierung verstärken
- Anreize setzen (z.B. DFG oder LOMI-Verfahren)
- Institutionalisierungen (‚Pluralisierungsbeauftragten‘,
‚Kodex wissenschaftlicher Pluralisierung‘