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Paul Klees/Walter
Benjamins
Angelus Novus
© Thomas Frank
I. Paul Klee: Angelus Novus (1920)
© Thomas Frank
Leitfragen zur Bildbeschreibung:
1. Welche physiologischen Besonderheiten
kennzeichnen den Angelus Novus?
2. In welcher Beziehung steht die Figur
(Vordergrund) zum Grund (Hintergrund)?
3. Welche Rückschlüsse lassen sich aus (1) und (2)
hinsichtlich der Gesamterscheinung des Angelus
Novus ziehen?
4. Welche/r sozialgeschichtliche/r und
kulturgeschichtliche/r Kontext/e könnten mit dem
Angelus Novus verbunden sein?
© Thomas Frank
Klee orientiert sich an zwei scheinbar
entgegengesetzten Positionen:
1) An sogenannter kühler Abstraktion mit
mechanischen, stilisierenden Tendenzen
und ihrem Hang zum Rationalismus (Klee
als „Bauhaus“-Lehrer)
2) An einer alchimistischen Moderne der
Geheimlehren (Engel-Esoterik)
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„Man verläßt die diesseitige Gegend und
baut dafür hinüber in eine jenseitige, die
ganz ja sein darf. Abstraktion. Die kühle
Romantik dieses Stils ohne Pathos ist
unerhört. Je schreckensvoller diese Welt
(wie gerade heute), desto abstrakter die
Kunst, während eine glückliche Welt eine
diesseitige Kunst hervorbringt.“
(Paul Klee: Tagebücher. Hg. von Felix Klee. Köln
1957, S.323/Tagebuch 1915, Nr. 951)
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Kunstwelt als ein kristallines Gebilde I
„Heute ist der gestrig-heutige
Übergang. In der großen
Formgrube liegen Trümmer, an
denen man teilweise noch hängt.
Sie liefern den Stoff zur
Abstraktion.“
(Paul Klee, Tagebücher
S.323/Tagebuch 1915, Nr. 951)
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Kunstwelt als ein kristallines Gebilde II
Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung.
Ein Beitrag zur Stilpsychologie. München, Zürich
1987 [1908]
Ansatz Worringers:
• Kristallin-abstrakte Kunstform bildet den
Gegenentwurf zu einer fatalen, feindlichen
Wirklichkeit  theoretische Begründung der
nichtmimetischen Bildform
• Verwandlung der Dinge ins Anorganische der
Kunstform
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Kunstwelt als kristallines Gebilde III
„Kunst gibt nicht das Sichtbare
wieder, sondern macht sichtbar.“
(Paul Klee: Beitrag für den Sammelband
‚Schöpferische Konfession’. In: P.K.:
Schriften, Rezensionen und Aufsätze. Köln
1976, hg. von Christian Geelhaar, S.118)
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Kunstwelt als kristallines Gebilde IV
Walter Gropius über das Kristallmotiv:
„Das Endziel aller bildenden Tätigkeit ist der Bau! Bauen
wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die
klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige
Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten
wollte! Wollen, denken, erschaffen wir gemeinsam den
neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein
wird: Architektur und Plastik und Malerei, die aus
Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel
steigen wird als kristallines Sinnbild eines neuen
kommenden Glaubens.“
(zit. bei Hans M. Wingler: Das Bauhaus. Bramsche/Köln
1962, S. 39)
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Bauhaus Dessau
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Kunstwelt als kristallines Gebilde V
„Kristalline Architekturen“
• Lyonel Feininger, der „klarste Kristalliker“ (Däubler)
seiner Generation:
Lässt Häusermassen und Luftraum prismatisch
miteinander verschmelzen; die zarthäutigen,
zersplitterten Architekturen sind transparent gegen
sich selbst und gegen den Malgrund  Festigkeit und
Bodenständigkeit fehlen
• In den kristallinen Strukturen offenbart sich das
Geistige und Immaterielle
• Ideale der deutschen Frühromantik: Kristall als
spirituelles Sinnbild (Friedrich Schlegels Domschau;
Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen)
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Kunstwelt als kristallines Gebilde VI
Kristallines Medium als Hoffnung
• Verbindung von Künstlertum,
Aeronautik und Engelsflug
(Leonardo; Swedenborg)
• Fliegen als Künstlermetapher
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Kunstwelt als kristallines Gebilde VII
„Um mich aus den Trümmern
herauszuarbeiten, musste ich
fliegen. Und ich flog. In jener
zertrümmerten Welt weile ich nur
noch in der Erinnerung, wie man
zuweilen zurückdenkt. Somit bin ich
‚abstrakt mit Erinnerungen’.“
(Paul Klee, Tagebücher, S.323f/Tagebuch
1915, Nr. 952)
© Thomas Frank
Resümee
Bildform:
unbestimmt, mehrfach lesbar,
überdeterminiert
↓
trägt zwei Gesichter der Moderne: 1.
Tendenz zur Berechnung Kalkulation;
2. Mythische Figurationen und
irrationale Kontexte
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Walter Benjamins Angelus Novus –
Der Engel der Geschichte
In den letzten Lebensjahren Benjamins
ballt sich das Bild zur Figuration eines
traumatischen Zusammenhanges:
• Flucht vor den Nationalsozialisten (Pariser
Exil ab September 1933)
• Entsetzen vor dem Hitler-Stalin-Pakt (23.
August 1939)
• Internierung in einem Sammellager bei
Nevers (1939)
© Thomas Frank
Benjamins Weg zum „Engel der Geschichte“
• Benjamin sah in der Geschichte nur noch das
Anwachsen der Zerstörung
• Erkenntnis der Unmöglichkeit, sich aktuell im
Rahmen des historischen Materialismus einen
Sinn und ein Ziel der Geschichte vorstellen zu
können
• Die traumatischen Erfahrungen bündeln sich in
Benjamins Text „Über den Begriff der
Geschichte“ (1940): 18 geschichtsphilosophische
Thesen mit zweiteiligem Anhang
• These IX: In Klees Angelus Novus spiegelt sich der
Engel der Geschichte wider
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Benjamins Angelus Novus
• Raumzeitliche Verhältnisse scheinen
verdreht zu sein: Vergangenheit vor Augen
und die Zukunft im Rücken
• Friedrich Schlegel: „Der Historiker ist ein
rückwärts gekehrter Prophet“ (F. Schlegel:
Fragmente. In: Athenäum. Ersten Bandes
Zweytes Stück. Berlin 1798, S. 196)
• Hebräisches Denken: Vergangenheit liegt
vor Augen, während die Zukunft hinter dem
Rücken liegt
© Thomas Frank
Benjamins Angelus Novus
Blick in die Vergangenheit ist trotzdem nicht resignativ:
„Bekanntlich war es den Juden untersagt, die Zukunft
nachzuforschen.
Die
Thora
und
das
Gebet
unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses
entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind,
die sich den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden
wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur
homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede
Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias
treten konnte.“
(W. Benjamin: Anhang zu den Thesen ‚Über den Begriff der
Geschichte‘, Fragment A, Frankfurt 1980, S. 704)
© Thomas Frank
Bereiche des technopolitischen Netzwerks, das auf den Engel
projiziert wird
• Nochmal zurück zu Klee: Engel als kristallines,
maschinenhaftes Wesen jenseits eines integrierten
Organismus
• Spätaufklärerische Rede vom ‚ganzen Menschen’ in
Leib-Seele-Zusammenhängen ist um 1900
zurückgetreten zugunsten eines Apparatebegriffs im
Kontext von maschinellen
Produktionszusammenhängen
Menschen wird von seinen Aufschreibesystemen
dominiert: Subjekt ist vermessbar, ‚aufschreibbar‘ und
lässt sich in statistisches Zahlenwerk auflösen
• Psychoökonomen und Experimentalpsychologen
übertragen ihre Ergebnisse auf die Arbeitswelt 
Formierung der Arbeitswissenschaften
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Technopolitisches Netzwerk II
Taylorismus/Fordismus
• Auswirkung auf die Arbeitswelt 
Berufskörper werden in der
verinnerlichten Abfolge von
Tätigkeiten und ihrem Einschleifen von
Zeit und Rhythmus durchdrungen, sei es
am Fabrikband oder an anderen
Produktionsstätten. Bsp.: Charlie Chaplin:
Modern Times (1936)
• Auswirkung auf das gesellschaftliche
Leben  Kollektivmotorik des Tanzes:
Bsp.: Tiller girls
© Thomas Frank
Technopolitisches Netzwerk III
• Fordismus wird im Alltag erlebbar und
scheint auch Teil dessen zu sein, was
Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz
als Ästhetisierung von Politik (als
Strategie der Rechten) beschreibt: eine
stilisierte Massenveranstaltung, die im
schlimmsten Fall in den Faschismus
mündet
•Taylorismus als ästhetisches Programm
© Thomas Frank
Trauma
• Sigmund Freud: „Traumdeutung“ (1900);
Jenseits des Lustprinzips (1920);
• Benjamins Erweiterung des Trauma-Begriffs:
Trauma als modernetypisches Chock-Erlebnis
mit besonderem Anlass im Großstadtleben:
Bedrohliche Entindividuierung in der
„amorphe[n] Menge der Passanten“ (GS I,
618), die sich richtungslos umherstoßen und
insofern einer Reizüberflutung ausgesetzt
sind
© Thomas Frank
Trauma II
„Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis“
Trauma der Moderne: Taylorisierung bzw. Bestreben nach
größtmöglicher Optimierung und Ökonomisierung der
Arbeitsabläufe:
„[Wird] die natürliche Verwertung der Produktivkräfte durch
die Eigentumsordnung hintangehalten, so drängt die
Steigerung der technischen Behelfe, der Tempi, der
Kraftquellen, nach einer unnatürlichen. Sie findet sie im
Kriege, der mit seinen Zerstörungen den Beweis dafür
antritt, daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die
Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht
ausgebildet
genug
war,
die
gesellschaftlichen
Elementarkräfte zu bewältigen.“ (GS I, 468)
© Thomas Frank
Verlust der Erfahrung und der Erzählung
•
Zeit eines persönlichen Erzählens, der mündlichen
Weitergabe authentischer Erfahrung sowie Reihungen
von Geschichten scheint vorbei zu sein
• Kunsttempo soll dem Lebenstempo angepasst werden
• Kino ermöglicht statt der Erfahrung das Erlebnis: „Da
kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem
Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir
nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern
gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.“ (GS I,
499f)
• Verunsicherung des Auges  Möglichkeit, die
Wahrnehmung zu schulen, um sich gegenüber
technischen Neuerungen emanzipiert zu verhalten und
diese in das politisch-demokratische Leben
einzugliedern
© Thomas Frank
Benjamin und die „kristallinische Konstruktion“
• Kristalline Form zeigt ein Neues, das zwar die
persönliche Spur unsichtbar macht, die Handschrift löscht
oder die Faktur tilgt – ohne dessen Aktivität jedoch eine
zukünftige Gesellschaft nicht denkbar ist
• An Klees Ästhetik arbeitet Benjamin einen solchen
dialektischen Stellenwert heraus:
„Und dieses selbe Vonvornbeginnen hatten die Künstler im
Auge, als sie sich an die Mathematiker hielten und die Welt
wie die Kubisten aus stereometrischen Formen aufbauten,
oder als sie wie Klee sich an Ingenieure anlehnten. Denn
Klees Figuren sind gleichsam auf dem Reißbrett entworfen
und gehorchen, wie ein gutes Auto auch in der Karosserie
vor allem den Notwendigkeiten des Motors, so im Ausdruck
ihrer Mienen vor allem dem Innern.“ (GS II, 215f)
© Thomas Frank
Selbstverständnis als Historiograf I
• Historiograf erscheint selbst als ein „rückwärts
gewandter Prophet“; er „erschaut seine eigene
Zeit im Medium von verflossenen Verhängnissen.“
(GS I, 1250)
• Arbeit gegen die vorgeschriebene Zeittaktung 
Geschichtsschreiber wird zu einer Gegenfigur:
„der Historiker wendet der eigenen Zeit den
Rücken, und sein Seherblick entzündet sich an
den
immer
tiefer
ins
Vergangene
hinschwindenden
Gipfeln
der
früheren
Menschengeschlechter. Dieser Seherblick eben ist
es, dem die eigene Zeit weit deutlicher ist als den
Zeitgenossen, die ‚mit ihr Schritt halten’.“ (GS I,
1237)
© Thomas Frank
Selbstverständnis als Historiograf II
• Vergangenheitsschau als Möglichkeit der
Zukunftsgestaltung: Krise genau bezeichnen, ins
Extrem treiben, um aus den Trümmern die
Zeichen des Neuen zu lesen
• Hinter der Katastrophendarstellung wären also
ähnlich wie bei Klee in den künstlerischen
Möglichkeiten die Chancen für Neuentwürfe zu
sehen, mit der man der Katastrophe nicht nur
begegnet, sondern sie sogar ästhetisch nutzt
© Thomas Frank