Einführung in die Literaturwissenschaft

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Transcript Einführung in die Literaturwissenschaft

Einführung in die
Literaturwissenschaft
Tutorien
Di
18:00-20:00 (LG 2/114)
Mona Jasmin Auth, Wiebke
Meeder
Di
16:00-18:00 (LG 1/247b) Marlen Freimuth, Florian
Stolle
Mi
18:00-20:00 (LG 2/133)
Do
08:00-10:00 (LG 1/247a) Katrin Becker, N.N.
Josefine Seyfarth, Juliane
Heucke
Themenübersicht
1
Literarizität
2
Zeichen und Referenz
3
Rhetorik
4
Narration
5
Autorschaft und sprachliches Handeln
6
Intertextualität und Intermedialität
Literatur und die Frage der sprachlichen Funktionen
Šklovskij: »Autos werden folgendermaßen studiert: Die größten
Idioten gehen zum Automobil und drücken einmal auf die
Hupe. Das ist der erste Grad der Dummheit. Diejenigen, die
ein klein wenig von Autos verstehen, aber ihre Kenntnis nicht
richtig einzuschätzen wissen, kommen zum Auto und spielen
am Schalthebel. Ds ist nicht weniger dumm und sogar
schädlich, denn man sollte nichs anfasen, für das die
Verantwortung bei einem anderen Arbeiter liegt.
Der Kundige erforscht das Auto eingehend und versteht, ›was
für was ist‹: warum es so viele Zylinder und so große Räder
hat, wo das Getriebe ist, warum das Heck spitz zuläuft und
der Kühler nicht poliert ist.
Genau so muß man lesen.«
(Zitiert nach: Wolfgang Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis
des Films im russischen Formalismus. Frankfurt/Main 2005, S. 396.)
Sprachliche Funktionen nach
Roman Jakobson
Kontext (referentielle Funktion)
Mitteilung (poetische Funktion)
Sender ----------------------------------------------------Empfänger
(emotive Funktion)
(konative Funktion)
Kontakt (phatische Funktion)
Kode (metasprachliche Funktion)
Sprachliche Funktionen nach Jakobson
Jeder sprachlichen Äußerung liegen alle diese sechs
sprachlichen Funktionen zugrunde. Die Verschiedenheit
von Äußerungen ergibt sich daraus, daß sie diese
Funktionen jeweils anders gewichten.
Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß die poetische
Funktion deutlich akzentuiert ist. Dies geschieht, indem
›Resonanzen‹ in der Abfolge von Worten oder Zeichen
hervorgebracht werden, etwa in der Weise des Reims.
Die poetische Funktion nach Jakobson
»Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der
Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der
Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven
Verfahren der Sequenz erhoben.« (S. 94)
Das heißt: Wenn man generell einen Satz dadurch bildet,
daß man aus Gruppen von einander ähnlichen/äquivalenten
Worten jeweils eins auswählt und dann die ausgewählten
Worte zu einem Satz kombiniert, so führt die poetische
Funktion dazu, daß sich in der Abfolge des Satzes selbst
Ähnlichkeiten ergeben.
ottos mops (von Ernst Jandl)
ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso
otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft
ottos mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott
Ottos Mops mit Jakobson
Jandls Gedicht folgt einem Prinzip lautlicher Ähnlichkeit. Der
einzige verwendete Vokal ist ›o‹. Dieser Laut verbindet Mann
und Hund.
Es gibt auch ein Spiel mit Konsonanten, etwa mit ›s‹ und ›z‹.
Wenn Otto mit Mops ist, ist auch ein ›s‹ da (Ottos Mops).
Wenn Otto ohne Mops ist, ist auch das ›s‹ weg (Otto). Im
»soso« von Otto klingt es ein letztes Mal nach
Das ›s‹ hängt mit dem Genetiv zusammen; Otto hat nichts
ohne das ›s‹. Er muß etwas holen (Koks, Obst). Schließlich
ruft er den Mops.
Das ›z‹ ist stets krisenhaft. Wenn es auftaucht, will Otto den
Mops nicht (wenn er trotzt oder kotzt).
Ottos Mops mit Jakobson
Zu den zwei Bauprinzipien jeder sprachlichen Äußerung –
Selektion und Kombination, der Auswahl von Zeichen und der
Bestimmung ihrer Abfolge – tritt hier eine weitere Notwendigkeit
hinzu: daß sich Entsprechungsverhältnisse zwischen den
ausgewählten und miteinander kombinierten Worten ergeben
müssen. Das ist die poetische Funktion. (Diese Funktion ist
auch in nichtliterarischen Texten wirksam – etwa wenn ich sage:
»Ottos Mops mit Jakobson«. Sie ist dann aber nicht so stark
ausgeprägt.)
Wichtig ist nicht, WAS das Gedicht sagt (wie bei der Tierfabel
des 18. Jahrhunderts), sondern WIE es verfährt. Die Zeichen
werden spürbar, und der Abstand zwischen den Zeichen und
den Objekten, auf die diese sich beziehen, wird vergrößert.
Noch einmal Herta Müller:
»Die Straßenkehrer«
»Die Straßenkehrer haben Dienst.
Sie kehren die Glühbirnen weg, kehren die Straßen aus der
Stadt, kehren das Wohnen aus den Häusern, kehren mir
die Gedanken aus dem Kopf, kehren mich von einem Bein
aufs andere, kehren mir die Schritte aus dem Gehen.
Die Straßenkehrer schicken mir ihre Besen nach, ihre hüpfenden mageren Besen. Die Schuhe klappern mir vom Leib.
Ich gehe hinter mir her, falle aus mir heraus, über den Rand
meiner Vorstellungen.«
»Die Straßenkehrer« nach Jakobson
• Durch das wiederkehrende Verb kehren werden
innerhalb der Sätze und zwischen ihnen Äquivalenzen
erzeugt. Alles wird vom kehren erfaßt.
• Durch die Wiederholung wird der Abstand zwischen den
Worten und den Kontexten, auf die sich die Worte
beziehen, vergrößert. Es geht z.B. nicht um die
Darstellung ›realer‹ oder auch nur vorstellbarer
Straßenkehrer.
• Die ›Straßenkehrer‹ selbst erfüllen in Herta Müllers
Texten eine ›poetische Funktion‹: Sie verbinden das
Lebende mit dem Toten, das Immaterielle mit dem
Materiellen, das Städtische mit dem Ländlichen usw. Der
gewöhnliche Sinn dieser Unterscheidungen wird ›weggefegt‹ (Verfremdung).
Jakobson und Šklovskij: Gemeinsamkeiten
Jakobson knüpft an Šklovskij an.
• Es geht ihm ebenfalls um das Wie des Sagens und nicht
um das Was des Gesagten, das heißt er fragt nach
Verfahren.
• Dabei strebt er eine strenge linguistische Formalisierung
sprachlicher Verfahren an.
• Indem die Zweiteilung von Zeichen und Objekten vertieft
wird, findet auch im Zusammenhang mit Jakobsons
poetischer Funktion eine Entautomatisierung des
Verstehens, eine Verfremdung stand.
Jakobson und Šklovskij: Unterschiede
• Die strikte Trennung zwischen literarischer Sprache und
praktischer Sprache wird von Jakobson relativiert. Beide
unterscheiden sich nur graduell, indem auch an der
praktischen Sprache die poetische Funktion teilhat und
indem die poetische Funktion in der Literatur nur in
besonders hohem Maße verwirklicht wird.
• Zugleich differenziert Jakobson deutlicher zwischen
poetischen Verfahren und metasprachlichen Funktionen.
Tolstojs Erzählung »Leinwandmesser«, die Šklovskij als
Beispiel nimmt, ist stark von der metasprachlichen
Funktion geprägt (immer wenn das Pferd fragt: »Was
bedeutet das?«). Bei »Ottos Mops« spielt Metasprache
hingegen nur eine untergeordnete Rolle.
Metasprache und Literatur
Bei Šklovskij sind metasprachliche und literarische
Verfahren nicht deutlich getrennt.
Dagegen Jakobson: »Dichtung und Metasprache sind […]
diametral entgegengesetzt: in der Metasprache dient die
Sequenz zur Aufstellung einer Gleichung, in der
Dichtung hingegen dient die Gleichung zum Bau einer
Sequenz.«
Was die poetische Funktion NICHT ist
Die Bestimmung der poetischen Funktion geht bei
Jakobson mit einer Reihe von Ausschlüssen einher:
• Die poetische Funktion bringt NICHT die persönliche
Stimmung eines Subjekts zum Ausdruck: ≠ emotive Funktion
• Sie soll NICHT eine bestimmte Stimmung des Rezipienten
erzeugen oder ihn zu etwas bewegen: ≠ konative Funktion
• Sie dient NICHT der Herstellung eines Kontakts zwischen
Autor und Leser: ≠ phatische Funktion
• Sie kommentiert NICHT den Kode: ≠ metasprachliche
Funktion
• Sie stellt NICHT Bezüge zu Kontexten her, sondern vertieft
die Kluft zwischen Zeichen und Objekten: ≠ referentielle
Funktion
Die Frage nach dem Zeichen
Sofern Jakobsons Konzept der poetischen Funktion die
Kluft zwischen Zeichen und Objekten vertieft, stellt
sich die Frage, wie Zeichen überhaupt auf Objekte
Bezug nehmen.
Wie stellt sich diese Bezugnahme von Zeichen auf
Dinge (Referenz) in literarischen Texten dar?
Literarizität: Resümee der Grundbegriffe
(klausurrelevant)
Verfahren
metasprachliche Funktion
Automatisierung/Entautomatisierung
Selektion/Kombination
Verfremdung
referentielle Funktion
poetische Funktion
emotive Funktion
phatische Funktion
konative Funktion
Projektion des Prinzips der
Äquivalenz von der
Achse der Selektion auf
die Achse der Kombination
Verhältnis von Metasprache
und Dichtung nach
Jakobson
Themenübersicht
1
Literarizität
2
Zeichen und Referenz
(Wie stellen literarische Texte den Bezug
sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?)
3
Rhetorik
4
Narration
5
Autorschaft und sprachliches Handeln
6
Intertextualität und Intermedialität
Ferdinand de Saussure (1857-1913)
Begründer der modernen Sprachwissenschaft
zugleich Begründer des Strukturalismus (Jakobson)
Cours de linguistique générale
(dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft)
Ferdinand de Saussure
• Unterscheidung von ›langue‹ und ›parole‹: Es gibt
einerseits das Sprachsystem mit seinen allgemeinen
(z.B. grammatischen) Regeln und Festlegungen, und
andererseits die Praxis des Sprechens, in der das
Sprachsystem in konkreten sprachlichen Äußerungen
umgesetzt wird.
• Unterscheidung von ›Synchronie‹ und ›Diachronie‹:
Ein Sprachsystem läßt sich einerseits in seiner
gleichzeitigen Ordnung, andererseits in seinem
historischen Wandel betrachten.
• Bestimmung der Natur des sprachlichen Zeichens
Saussure: Die Natur des sprachlichen
Zeichens
»Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine
Nomenklatur, d. h. eine Liste von Ausdrücken, die
ebensovielen Sachen entsprechen.«
: Baum
: Pferd
usw.
: usw.
Dies erinnert an das Dichtungsprinzip des 18. Jahrhunderts,
die »Poetische Mahlerey«: Der Fuchs liest seine Geschichte
UND sieht sein Bild.
Saussure: Die Natur des sprachlichen
Zeichens
»Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine
Nomenklatur, d. h. eine Liste von Ausdrücken, die
ebensovielen Sachen entsprechen.«
»Diese Ansicht gibt in vieler Beziehung Anlaß zur Kritik.
Sie setzt fertige Vorstellungen voraus, die schon vor den
Worten vorhanden waren«.
Saussure: Die Natur des sprachlichen
Zeichens
• Saussure beginnt seine Erörterung der Natur des sprachlichen
Zeichens mit dem Problem der Referenz. Das heißt er
problematisiert die Beziehungen von ›Worten‹ und ›Dingen‹,
von Zeichen und ›Objekt‹.
• Saussure bestreitet, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung
mit Sprache von der Annahme ausgehen kann, daß es vor den
Worten fertige Vorstellungen gibt, denen man einfach nur
Worte zuordnen muß.
• Saussure weist die Annahme zurück, »daß die Verbindung,
welche den Namen mit der Sache verknüpft, eine ganz
einfache Operation sei, was nicht im entferntesten richtig ist.«
• ›Worte‹ und ›Vorstellungen‹ sind gleichzeitig gegeben, in
komplizierten Operationen. Dies ist nicht nur für die Sprach-,
sondern auch für die Literaturwissenschaft der wichtigste
Grundsatz.
Saussure: Die Natur des sprachlichen
Zeichens
Saussures Ausgangsthese bezieht sich auf die Doppelseitigkeit
des sprachlichen Zeichens.
Diese Doppelseitigkeit besteht aber NICHT in der Gegenüberstellung von ›Worten‹ und ›Dingen‹, ›Zeichen‹ und ›Objekten‹.
»Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und
eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.«
die Einheit des sprachlichen Zeichens:
Vorstellung
Lautbild
Bezeichnetes
Bezeichnendes
signifié
Signifikat
signifiant Signifikant
Saussure: Die Natur des sprachlichen
Zeichens
Das Signifikat, die eine Seite des Zeichens, ist keine ›wirkliche‹
Sache, sondern eine mentale Vorstellung. Diese Vorstellung ist
psychisch als ein Bestandteil des Zeichens gegeben.
Der Signifikant, die andere Seite des Zeichens, ist kein
tatsächlicher physikalischer Laut, sondern der psychische
Eindruck eines solchen Lautes. Saussure: »Der psychische
Charakter unserer Lautbilder wird ganz klar, wenn wir uns selbst
beobachten. Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen,
können wir mit uns selbst sprechen oder uns im Geist ein Gedicht
vorsagen.«
Saussure: Die Natur des sprachlichen
Zeichens
Wenn das Zeichen sich aus zwei Bestandteilen zusammensetzt,
die beide ›geistig‹ gegeben sind, wie kann dann noch ›Referenz‹
gedacht werden?
Ausgehend von sprachlichen Äußerungen hat es Saussure immer
nur mit Beziehungen zwischen Lautbildern und Vorstellungen zu
tun. Über Bezüge auf außersprachliche Sachverhalte, sogenannte
Referenzobjekte, läßt sich nichts sagen.
Auch für Jakobson ist die ›referentielle Funktion‹ der Sprache
streng genommen keine Bezugnahme auf ›Realität‹, sondern auf
Kontexte, das heißt auf andere sprachliche Äußerungen.
Texte und Folien im Netz unter:
www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/
(jeweils ab Dienstag nach der Vorlesung)
Paßwort für die Texte: