I. vs. UK - Dr. Helmut Graupner

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Helmut Graupner
Sexualtherapie – Modul 12
ÖGS-Sexualakademie
26.09. 2014 (Wien)
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I.
Europäischer Menschenrechtsgerichtshof:
• zentraler Gedanke der Menschenrechte ist der Respekt vor der
menschlichen Würde und Freiheit,
• die Anerkennung der persönlichen Autonomie ist ein bedeutendes
Auslegungsprinzip in der Anwendung des Rechts auf Achtung des
Privatlebens.
• Sexualität und Sexualleben gehören zum Kernbereich des Grundrechts
auf Schutz des Privatlebens. Staatliche Regulierung sexuellen
Verhaltens greift in dieses Recht ein; und solche Eingriffe sind nur
dann gerechtfertigt, wenn sie nachweislich notwendig sind, um von
anderen Schaden abzuwenden (dringendes soziales Bedürfnis,
Verhältnismässigkeit).
• Ansichten und Werthaltungen einer Mehrheit können Eingriffe in das
Recht auf Privatleben (wie auch in andere Grundrechte) jedenfalls nicht
rechtfertigen.
(Dudgeon vs. UK 1981, Norris vs. Ireland 1988, Modinos vs. Cyprus 1993, Laskey, Brown &
Jaggard vs. UK 1997, Lustig-Prean & Beckett vs. UK 1999; Smith & Grady vs. UK 1999; A.D.T.
vs. UK 2000, Christine Goodwin vs. UK 2002, I. vs. UK 2002, Fretté vs. France 2002, L. & V.
vs. Austria 2003, S.L. vs. Austria 2003)
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• Diskriminierung auf Grund sexueller Orientierung
– ist inakzeptabel
– ebenso schwerwiegend wie Diskriminierung auf Grund
von Rasse, ethnischer Herkunft, Religion und
Geschlecht
– Differenzierung bedarf besonders schwerwiegender
Gründe
(Lustig-Prean & Beckett vs. UK 1999; Smith & Grady vs. UK
1999; Salgueiro da Silva Mouta vs. Portugal 1999; L. & V. vs
Austria 2003, S.L. vs Austria 2003, E.B. vs France 2008, Kozak
vs Poland 2010, P.B. & J.S. vs Austria 2010, J.M. vs UK 2010)
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• Nicht bloß negative Rechte auf Freiheit von
staatlichen Eingriffen
sondern auch
• positive Rechte auf (aktiven) Schutz dieser
Rechte, gegenüber dem Staat wie auch
gegenüber anderen Individuen.
• Verpflichtung des Staates zu aktivem Tätigwerden
bei Beeinträchtigung des Rechts auf freie
Entfaltung und Entwicklung der eigenen
Persönlichkeit, und auf Aufnahme und Führung
zwischenmenschlicher Beziehungen
(Zehnalová & Zehnal vs. CZ 2002)
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•
Mitgliedstaaten:
•
Sexualstrafgesetzgeber
Pflicht zu
→ effektivem Schutz vor sexuellem Missbrauch & Gewalt
(Z. & Others vs. UK 2001, E. & Others vs. UK 2002, X. & Y. vs. NL 1985)
→ wirksamer Gewährleistung Freiheit zu gewollter Sexualität
(L. & V. vs. Austria 2003, S.L. vs. Austria 2003; A.D.T. vs. UK 2000)
→ nicht nur bei Erwachsenen, auch bei Minderjährigen
Fall S.L. gg. Österreich (2003): Schadenersatz für Jugendlichen wegen
Verbots (zwischen 14 und 18) sexueller Kontakte mit Erwachsenen (par.
49, 52)
muss beide Seiten des Rechts auf sexuelle
Selbstbestimmung wahren
→ Freiheit zu gewollter Sexualität
→ Freiheit von ungewollter Sexualität (Missbrauch, Gewalt)
→ angemessene Balance
→ einseitige Betonung einer Seite: Gefahr der Verletzung der menschlichen
Würde im zentralen Bereich der Sexualität
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•
Bundesverfassungsgericht (D):
→ der Minderjährige ist eine von vornherein und mit zunehmendem Alter
in immer stärkerem Maß durch das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit iVm dem Recht auf Achtung der Menschenwürde
geschützte Persönlichkeit (BVerfGE 47, 46 (74) = NJW 1978, 807)
→ Die Entscheidungsbefugnis des Minderjährigen wächst in dem Maß, in
dem die Selbstbestimmungsfähigkeit die Erziehungsbedürftigkeit
übersteigt (ebendort)
→ Gerade höchstpersönliche Rechte soll der schon urteilsfähige
Minderjährige eigenverantwortlich wahrnehmen können (BVerfGE in
NJW 1982, 1375 [1378])
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II.
Materielles Sexualstrafrecht
(Strafgesetzbuch StGB)
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Sexuelle Gewalt (§§ 201, 202, 205)
Sexuelle Belästigung (§ 218 Abs. 1)
Kinderschutz (§§ 206, 207, 208 Abs. 1 1. Fall, 208a)
Jugendschutz (§§ 207a, 208 Abs. 1 2. Fall, 212, 213)
Prostitutionsbezogene Delikte (§§ 214, 215, 215a, 216, 217)
Öffentlichkeitsbezogene Delikte (§§ 218 Abs. 2, 219, 220a)
„Blutschande“ (§ 211)
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Exkurs:
• Pornographiegesetz (§§ 1, 2)
• Verbreitung von Krankheiten (bspw Hiv, STDs) (§§ 178, 179)
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III.
Begleitende Regelungen
Tätigkeitsverbot (§ 220a StGB)
-> zusätzlich Berufsverbote nach berufsrechtlichen Vorschriften
(öff. Bedienstete [Bund: §§ 201-217 StGB immer)], Gewo,
Ärzte. Rechtsanwälte etc.)
• Sexualstraftäterdatei (§ 3 Abs. 2a StrafRG)
-> alle Verurteilungen gem. §§ 201-220a StGB
-> alle 6 Monate Überprüfung Wohnort/Anschrift (ZMR)
-> bei Änderung: Verständigung der Sicherheitsbehörde des
neuen Unterkunftsortes
• Sonderauskunft Sexualstraftäter (§ 9a StrafRG)
-> Strafgerichte, Familiengerichte (Adoption, Obsorge,
Umgangsrecht, Sachwalterschaft, Unterbringung),
Staatsanwaltschaften, Sicherheitsbehörden,
Strafvollzugsbehörden
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-> Jugendhilfeträger, Schulbehörden,
Dienstbehörden/Personalstellen v. Gebietskörperschaften iZm
Anstellung an Einrichtungen zur Betreuung, Erziehung oder
Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen
• Strafregisterbescheinigung Kinder- und Jugendfürsorge
(§ 10 Abs. 1a & b StrafRG)
-> auch Verurteilungen zu geringfügigen Strafen,
Tätigkeitsverbote und Weisungen
-> mit schriftlichem Verlangen eines möglichen Arbeitgebers
vom Verurteilten selbst zu beantragen
• Tilgungsgesetz
-> bis 1 Jahr Strafe: 5 J; bis 3 Jahre: 10 J; über 3 Jahre (oder
Anstalt f unzurechnungsfähige geistig Abnorme): 15 J; lebenslang:
keine Tilgung
-> Unbedingte Freiheitsstrafe nach §§ 201-207b: doppelt
-> Unbedingte Freiheitsstrafe nach §§ 208-220a: 1 ½ fache
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IV.
Prozessuales
• Prozessbegleitung (§ 66 Abs. 2 StPO)
-> für Opfer von Gewalt, gefährlicher Drohung und Verletzungen
der sexuellen Integrität
-> psychosozial & juristisch (AnwältIn)
-> beauftragt von Opferberatungsstelle
-> auf Kosten der Republik (Kostenbeitrag durch Verurteilten bis
max. EUR 1.000,--)
• Aussageverweigerungsrecht (§ 157 StPO)
-> Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen,
Bewährungshelfer, eingetr. Mediatoren, Mitarbeiter anerkannter
Einrichtungen zur psychosozialen Beratung und Betreuung über
das, was ihnen in dieser Eigenschaft bekannt geworden ist
-> dieses Recht darf nicht umgangen werden (zB durch
Beschlagnahmen, Vernehmung von Hilfskräften etc.)
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• Aussagerecht (ohne Entbindung durch Klienten)
-> Ärzte: ja (allenfalls Interessenabwägung)
(§ 54 Abs. 2 Z. 4 ÄrzteG)
-> Psychotherapeuten: nein (§ 15 PsychotherapieG)
• Anzeigepflicht (an Polizei)
-> uU § 286 StGB (Nichtverhinderung einer mit Strafe bedrohten
Handlung)
-> Ärzte (§ 54 ÄrzteG):
-> Tod, schwere Körperverletzung
(an sich oder mehr als 24 Tage Gesundheitsschädigung),
-> Misshandlung, Quälen, Vernachlässigung, sexueller
Missbrauch
-> Ausnahme: Opfer unter 18 im Familienkreis
(dann aber Anzeigepflicht an Jugendamt)
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• Anzeigepflicht (an Jugendamt)
-> Angehörige aller gesetzlich geregelten Gesundheitsberufe
-> bei Misshandlung, Quälen, Vernachlässigung, sexuellem
Missbrauch oder anderer erheblicher Kindeswohlgefährdung
(unter 18j)
-> wenn die Gefährdung nicht anders verhindert werden kann
(§ 37 B-KJHG)
• Anzeigepflicht von Behörden (zB Jugendamt) (an Polizei)
-> jede Straftat, die ihren gesetzmäßigen Wirkungsbereich betrifft
-> Ausnahme:
-> Beeinträchtigung einer amtlichen Tätigkeit, deren
Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses
bedarf
-> jedenfalls aber Maßnahmen zum Opferschutz
-> wenn Opferschutz erfordert: trotzdem Anzeigepflicht
(§ 78 StPO)
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• Anzeigerecht (unter Bruch der Verschwiegenheit)
(wenn keine Anzeigepflicht)
-> grundsätzlich: jeder (§ 80 StPO), außer besondere
Verschwiegenheitspflichten
-> Ärzte: ja (allenfalls Interessenabwägung)
(§ 54 Abs. 2 Z. 4 ÄrzteG)
-> Psychotherapeuten: nein (§ 15 PsychotherapieG)
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• Bedingte Entlassung (Freiheitsstrafe) (§ 48 StGB)
-> Probezeit 1-3 Jahre (bei Strafrest über 3J: 5 Jahre)
-> bei §§ 201-220a StGB: immer 5 Jahre
-> §§ 201-220a: verpflichtende Einholung einer Äußerung der
Begutachtungsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BESt) des
BMJ (§ 152a Abs. 2 StVG)
• Gerichtliche Aufsicht (§ 52 StGB)
-> §§ 201-220a StGB
-> oder Tat gegen Leib, Leben oder Freiheit zur
geschlechtlichen Erregung oder Befriedigung
-> Freiheitsstrafe oder vorbeugende Maßnahme
-> bei bedingter Entlassung für Dauer der Probezeit
-> wenn aus spezialpräventiven Gründen notwendig oder
zweckmäßig
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• Elektronisch überwachter Hausarrest (Fußfessel)
-> bei §§ 201-207b StGB: frühestens nach Halbstrafe
-> bei §§ 201-220a StGB & Tat gegen Leib, Leben oder Freiheit
zur geschlechtlichen Erregung oder Befriedigung: aus
besonderen Gründen Gewähr geboten, dass kein Missbrauch
des Hausarrests
(§ 156c StVG)
• Weisungen (bedingte Strafe, Entlassung) (§ 51 StGB)
-> keine unzumutbare Beeinträchtigung der
Persönlichkeitsrechte oder der Lebensführung
-> Entwöhnungs-, psychotherapeutische oder medizinische
Behandlung nur mit Zustimmung des Verurteilten
-> Operative Eingriffe absolut unzulässig
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V.
Vorbeugende Maßnahmen
• Anstalt für gefährliche Rückfalltäter (§ 23 StGB)
-> kaum angewandt
• Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher
(§ 22 StGB)
-> selten angewandt
• Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (§ 21 StGB)
-> 1980: ca 200 Untergebrachte
-> Heute: über 900 (1/2 § 21Abs.1, ½ § 21 Abs. 2)
-> § 21 Abs. 2: ca 50% Sexualstraftäter
(0,85% aller Delikte sind Sexualdelikte)
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-> Begutachtung durch mindestens einen psychiatrischen
Sachverständigen (§ 429 Abs. 2 Z. 2, § 436 StGB)
-> es ist so gut wie immer nur einer
-> Entlassungsverfahren in Wien:
immer zwei Sachverständige …
• Gesetzliche Voraussetzungen (für Einweisung und
Aufrechterhaltung):
mit voller Bestimmtheit
-> höhergradige geistige oder seelische Abartigkeit
-> unter deren Einfluß Tat mit Strafdrohung über 1 Jahr
-> hohes Risiko für Schwerkriminalität
-> keine Möglichkeit der Hintanhaltung des Risikos extra muros
(ambulant)
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Fallbeispiele
• Geistig abnormer Exhibitionist
• Kindesmißbrauchstäter
• Sexueller Sadismus
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„Soll er strafen oder schonen
Muß er Menschen menschlich sehen“
(Johann Wolfgang von Goethe)
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