VO GEDICHTE 3: Wie versteht man ein Gedicht?

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Transcript VO GEDICHTE 3: Wie versteht man ein Gedicht?

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DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
5
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
10
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
VO GEDICHTE 3:
Wie versteht man ein Gedicht?
Paul Celan (1920-1970):
DU LIEGST im großen Gelausche (1967)
Neologismus (-en): Wortneubildung
1
5
10
DU LIEGST im großen Gelausche,
a
umbuscht, umflockt.
b
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
c
geh zu den Fleischerhaken,
d
zu den roten Äppelstaken
d
aus Schweden –
e
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
c
er biegt um ein Eden –
e
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
f
mußte schwimmen, die Sau,
f
für sich, für keinen, für jeden –
e
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
a
Nichts
x „Waise“
stockt.
b
Paarreim
Paarreim
aa: Gelausche/rauschen:
unreiner Reim
cc: Havel/Gaben:
Assonanz
1
DU LIEGST im großen Gelausche,
a
umbuscht, umflockt.
b
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
5
c
geh zu den Fleischerhaken,
d
zu den roten Äppelstaken
d
aus Schweden –
e
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
c
er biegt um ein Eden –
e
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
f
10 mußte schwimmen, die Sau,
f
für sich, für keinen, für jeden –
e
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
a
Nichts
x
b
stockt.
Peter Szondi (1929-1971):
Eden [1971]. In: Ders.:
Celan-Studien. Frankfurt:
Suhrkamp 1972, S. 113125, 133-135
ED: 1968
[ohne Titel; Datierung: 22./23. 12. 1967]
in: „Schneepart“, 1971
[ohne Titel und Datum]
Gedenkstätte
Plötzensee
Claus Graf Schenk
von Stauffenberg
(1907-1944):
Hitler-Attentat,
Hinrichtung in
Plötzensee
Rosa Luxemburg (1871-1919)
Karl Liebknecht (1871-1919)
LUCILE.
Es ist doch was wie Ernst darin. Ich will einmal nachdenken. Ich fange an
so was zu begreifen. Sterben – Sterben –
Es darf ja Alles leben, Alles, die kleine Mücke da, – der Vogel. Warum
denn er nicht? Der Strom des Lebens müßte stocken, wenn nur der eine
Tropfen verschüttet würde. Die Erde müßte eine Wunde bekommen von
dem Streich.
Es regt sich Alles, die Uhren gehen, die Glocken schlagen, die Leute
laufen, das Wasser rinnt und so so Alles weiter bis da, dahin – nein! es
darf nicht geschehen, nein – ich will mich auf den Boden setzen und
schreien, daß erschrocken Alles stehn bleibt, Alles stockt, sich nichts
mehr regt.
(sie setzt sich nieder, verhüllt sich die Augen und stößt einen Schrei aus.
Nach einer Pause erhebt sie sich.)
Das hilft nichts, da ist noch Alles wie sonst, die Häuser, die Gasse, der
Wind geht, die Wolken ziehen. – Wir müssen’s wohl leiden.
aus: Georg Büchner (1813-1837): Dantons Tod (1835)
Orte:
- Eden (mythologisch)
- Berlin (entstehungsgeschichtlich)
- Schweden (utopisch)
Zeiten:
- 1793: Terror der frz. Revolution
- 1919: rechter Terror
- 1944: NS-Terror
- 1967 (entstehungsgeschichtlich)
Peter Szondi (1929-1971):
Eden [1971]. In: Ders.:
Celan-Studien. Frankfurt:
Suhrkamp 1972, S. 113125, 133-135
„Wieviel also muß man wissen?“
Hans-Georg Gadamer (1900-2002):
Nachwort. In: Ders.: Wer bin Ich
und wer bist Du? Ein Kommentar
zu Paul Celans Gedicht
‚Atemkristall‘. Frankfurt: Suhrkamp
1973, S. 110-134
Auch wer „weiß“, woran der Dichter gedacht hat, weiß
er dadurch schon, was das Gedicht sagt? Mag er es
vielleicht gar als einen Vorzug empfinden, daß er nur
an das „Richtige“ denkt und an nichts anderes – er
wäre nach meiner Überzeugung in einem schrecklichen
Irrtum befangen, den am allerwenigsten Celan selbst
unterstützt hätte. Er hat darauf bestanden, daß ein
Gedicht in sein eigenes Dasein gestellt und von seinem
Schöpfer abgelöst ist. Wer nicht noch mehr versteht als
das, was der Dichter auch ohne zu dichten sagen kann,
versteht nicht genug. (117f.)
Marlies Janz: Vom Engagement
absoluter Poesie. Zur Lyrik und
Ästhetik Paul Celans [1971].
Königstein: Athenäum 1984,
S. 190-200, S. 234f.
1
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
5
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
10
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
1
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
Anapher
geh zu den Fleischerhaken,
5
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
10
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
1
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
5
geh zu den Fleischerhaken,
Antithetik
zu den roten Äppelstaken
Farbsymbolik
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
10
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
1
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
5
Präsens
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
10
mußte schwimmen, die Sau,
Präteritum
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Futur
Nichts
stockt.
1
DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.
Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
5
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –
Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –
Der Mann ward zum Sieb, die Frau
10
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
Zeilenstockt.
bruch
Wenn er [der Landwehrkanal] nicht stockt, so stockt
doch das Gedicht. Sofern sich das „Gelausche“ auf
den Landwehrkanal richtet, nimmt es nur wahr, daß
„Nichts / stockt“, aber indem das Gedicht zur
Sprache bringt, daß dieses Nichts das Nichtsein von
etwas, nämlich der Erinnerung an Rosa Luxemburg
ist, stockt ihm am Ende die Sprache, ihr Fluß. Die
negative Aussage, daß nichts stocke, schlägt also um
– die Zeilenbrechung hebt das hervor – in eine
positive. Das Gedicht stockt und will auf diese Weise
zum Ausdruck bringen, daß der Widerstand von Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht noch nicht vergessen
sei. (Janz 192f.)
Man muß nichts Privates und
Ephemeres wissen. Man muß sogar,
wenn man es weiß, von ihm
wegdenken und nur das denken, was
das Gedicht weiß. Aber das Gedicht
will seinerseits, daß man alles das
weiß, erfährt, lernt, was es weiß –
und all das fortan nie vergißt.
(Gadamer 128)