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Die Motette
von
Guillaume de Machaut
bis
Johann Sebastian Bach
„Mit großer Pracht und
starckem Gethön“
***
Musik an San Marco
Venedig
Adrian Willaert
Andrea Gabrieli
Giovanni Gabrieli
Heinrich Schütz
Basilika San Marco, Venedig
Musik an San Marco
Die Musik an der Basilika San Marco zu
Venedig hat eine bedeutende Tradition
entwickelt, die sich in ganz Europa
ausbreitete.
Sie war maßgeblich für die musikalische
Entwicklung ab der zweiten Hälfte des
16. und in der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts.
Musik an San Marco
Schrittmacher der musikalischen
Entwicklung waren die Kapellmeister
und Organisten der Basilika:
Adrian Willaert – Kapellmeister
Andrea Gabrieli – Zweiter Organist
Giovanni Gabrieli – Hauptorganist
Schüler: Heinrich Schütz
Claudio Monteverdi - Kapellmeister
Willaert – Salmi spezzati
Willaert war ab 1527 Kapellmeister an
San Marco in Venedig.
1550 erscheint bei Antonio Gardano in
Venedig ein Druck mit Salmi spezzadi
(heute zumeist Salmi spezzati), zu
deutsch etwa „zerrissene Psalmen“.
Die Psalmen werden doppelchörig
aufgeführt, jeder Psalmvers wird einem
Chor zugeordnet.
Willaert – Salmi spezzati
Der Name leitet sich vom Druckbild her.
Denn durch den abwechselnden
Vortrag der Psalmverse durch die
beiden Chöre werde in den
Stimmdrucken, die jeweils nur eine
Stimme enthalten, die Verse durch
Pausen „zerrissen“.
Bsp.: Stimmbuch des Tenors von Chor I
Willaert – Salmi spezzati
Eine Verteilung der beiden Chöre auf
die Orgelemporen in San Marco liegt
nahe.
Dies war auch offenbar eine spezifische
Musikpraxis von San Marco.
Allerdings dürften die Orgelemporen
nicht der Grund für die Aufteilung der
Psalmverse sein, dieser ist eher in der
liturgischen, also antiphonalen Praxis
zu suchen.
(vgl. Wolfgang Horn, Art. Willaert, MGG2)
Willaert – Salmi spezzati
Die Faktur der Psalmen ist einfach:
- Weithin „akkordische“ Deklamation des
Textes, wie in der liturgische Psalmodie
üblich
- Ebenso wird jeder Ganz- und Halbvers
durch eine Kadenz markiert
- Der vierstimmige Satz wird am Initium
und der Mittelkadenz, bisweilen auch
sonst durch imitative Strukturen etc.
aufgelockert.
Willaert – Salmi spezzati
Willaert, sowie die ebenfalls im Druck
versammelten Komponisten Jaches
de Wert, Finot etc. legen mit diesen
Salmi spezzati den Grundstein für die
mehrchörige Musizierpraxis – nicht
nur an San Marco, sondern auch in
Deutschland, etwa bei Heinrich
Schütz und Michael Praetorius.
Andrea Gabrieli - Bußpsalmen
Andrea Gabrieli
- geb. 1532/33 in Cannareggio?
- gest. 1586 in Venedig
- 1560 bei Orlando die Lasso in München
- 1556 zweiter Organist an San Marco
- Onkel von Giovanni Gabrieli
- Sein Œuvre umfasst Messen, Motetten,
Madrigale u.a.
Andrea Gabrieli - Bußpsalmen
1583 veröffentlicht Gardano in Venedig
die Psalmi Davidici von Andrea
Gabrieli.
Gabrielis Alterswerk enthält die sieben
Bußpsalmen, die in mehrteiligen
Motetten (bis zu fünf Partes) zu sechs
Stimmen vertont sind.
Ein vergleichbares Werk erscheint 1584
mit den Psalmi Davidis Poenitentialis
von Orlando di Lasso (München 1584)
Andrea Gabrieli - Bußpsalmen
Das Frontispiz der Stimmendrucke gibt
die Psalmen als für „omnis generis
Instrumentorum, tum ad vocem
modulationem accomodati“ aus.
Damit ist deutlich zum Ausdruck
gebracht, dass Gabrieli nicht mit einer
a cappella-Aufführung rechnet, sondern
mit obligaten Instrumenten.
Dennoch könnte der Satz a cappella
musiziert werden, ein Generalbass ist
nicht vorhanden.
Andrea Gabrieli
Domine, ne in furore tuo
Andrea Gabrieli – Psalm 6
Gabrieli teilt den Psalmtext in drei Teile
auf:
Prima pars VV. 2-5
Secunda pars VV. 6-8
Tertia pars VV. 9-11
Die Versgrenzen werden zumeist
gekennzeichnet, i.d.R. durch:
- Kadenz
- Fakturwechsel
- Generalpause
Andrea Gabrieli – Psalm 6
Gegenüber der „klassischen Vokalpolyphonie“ eines Palestrina finden sich bei
Gabrieli charakteristische Änderungen:
- Nicht jeder Soggetto bzw. jeder Versteil
wird in allen Stimmen durchgeführt.
Bereits zu Beginn fehlen Quintus,
Sextus und Bassus.
- Für denselben Vers können zwei
verschiedene Soggetti verwendet
werden.
Andrea Gabrieli – Psalm 6
- Typisch für den sechsstimmigen Satz
ist die Teilung in Hoch- und Tiefchor,
wie in Mens. 16ff zu „Miserere mei“
- Die vielfach akkordische Deklamation in
den Teilchören (z.B. Mens. 16ff) oder
im vollen Satz (z.B. Mens. 116ff bzw.
118f) leitet sich aus der liturgischen
Praxis der Psalmodie ab.
(so auch bei Lasso)
Andrea Gabrieli – Psalm 6
Bei Gabrieli finden sich einige den Text
musikalisch ausdeutende Elemente:
- Mens. 16ff: Lamentoschritt d-es-d bei
„Miserere mei“, ebenso in Mens. 93ff
bei „gemitu meo“ a-b-a
- Phrygische Tenorklausel (clausula in
mi) zu „Laboravi“ Mens. 89ff
- In Mens. 43f wird eine g-Kadenz
vorbereitet, der Satz weicht jedoch in
einen A-Klang aus, dann
Generalpause: usquequo! Wie lange!
Andrea Gabrieli – Psalm 6
- Sehr tiefe Lage bei „in inferno autem“
Mens. 83ff. Das f‘ im Superius wird
durch f‘‘ in Mens. 80 und 87 kontrastiert
- Beschleunigung der Bewegung in
Mens. 174ff zu „velociter“ („schnell“) mit
Semiminimen, die im Stück nur hier
vorkommen.
Gabrieli legt offensichtlich Wert auf die
Textausdeutung mit musikalischen
Mitteln
Giovanni Gabrieli
-
geb. 1554-57 in Venedig
gest. ebd. 12. August 1612
Neffe von Andrea Gabrieli
Wie Andrea einige Zeit bei Orlando di
Lasso a.d. Hofkapelle, bis 1579?
- Ab 1585 Organist an San Marco und San
Rocco in Venedig
- Tätigkeit als Komponist und Organist
- G. hatte einen bedeutenden Schülerkreis,
u.a. aus Deutschland und Dänemark. Der
bedeutendste ist Heinrich Schütz.
G. Gabrieli – Symphoniae sacrae
Gabrieli komponierte eine Anzahl groß
besetzter, mehrchöriger Motetten für
die Hauptfeste des Kirchenjahres an
San Marco.
Weiterhin für die Messen und Vespern,
bei denen der Doge anwesend war
bzw. für dessen Amtseinführung.
Die Werke sind in einem großformatigen
Stil verfasst, der dem Repräsentationsbedürfnis der Republik entsprach.
G. Gabrieli – Symphoniae sacrae
Die Motetten Gabrielis erreichen einen
Umfang von bis zu 19 Stimmen in vier
Chören, wie das Buccinate in neomenia
tuba.
Zumeist werden die Gesangstimmen bzw.
Vokalchöre durch instrumental besetzte
Chöre ergänzt.
Für die Instrumentalbesetzung gibt Michael
Praetorius in seinem Syntagma musicum
Bd. III, Wolfenbüttel 1619, S. 153
verschiedene Möglichkeiten an, u.a.
Querflöte, Zink, Violine etc.
G. Gabrieli – Symphoniae sacrae
Der Bass ist in Gabrielis Symphoniae
sacrae zumeist noch nicht als echter,
also selbständiger Generalbass
ausgeführt, sondern als „basso
seguente“, d.h. die Bassinstrumente
gehen mit dem Vokalbass colla parte.
Dies ändert sich bei einigen Werken in
der zweiten, posthum erschienen
Sammlung Symphoniae sacrae II,
Venedig 1615.
Giovanni Gabrieli
In ecclesiis
aus: Symphoniae sacrae II,
1615
Giovanni Gabrieli – In ecclesiis
Gabrielis Motette In ecclesiis ist ein
großformatiges Werk mit drei Chören
zu 15 Stimmen und 129 Mensuren
Länge.
Die 15 Stimmen gliedern sich in drei
Chöre:
4 vokale Solostimmen SATB
4 vokale Ripienostimmen SATB: Capella
6 Instrumentalst.: 3 Cornetti, Vl, 2
Posaunen
Giovanni Gabrieli – In ecclesiis
Der selbständig geführte Generalbass
gibt Gabrieli die Möglichkeit, die vokale
Solostimme im Kontrast zu einem
einzelnen Chor oder zum Gesamtklang
einzusetzen.
Der eigenständige Instrumentalchor gibt
ihm die Möglichkeit zu einer
instrumentalen Sinfonia in den Mens.
31ff.
Giovanni Gabrieli – In ecclesiis
Die instrumentale Sinfonia dient
zusammen mit den verschiedenen
Kombinationsmöglichkeiten der Chöre
als Gliederungsmoment der langen
Motette.
Hinzu kommt ein insgesamt fünf Mal
erklingendes „Alleluia“, das auf dieselbe
Musik gesungen wird und somit
Ritornellcharakter erhält.
Aufbau der Motette
I „In ecclesiis ...“
S+Bc
II „Alleluia“
S+Cap.+Bc
III „in omni loco“
B+Bc
IV „Alleluia“
B+Cap.+Bc
V Sinfonia
Instrumentalchor
VI „in Deo salutari“ AT+Instr.+Bc
VII „Alleluia“
AT+Cap.+Instr.+Bc
VIII „Deus noster“ SB+Bc
IX „Alleluia“
SB+Cap.+Bc
X „Deus adiutor“
Tutti
XI „Alleluia“
Tutti
Giovanni Gabrieli – In ecclesiis
Die Motette zeigt damit einen klar
gegliederten Aufbau. Das als Ritornell
verwendete „Alleluia“ gewährt den
Zusammenhalt des Werkes.
Zugleich ist das „Alleluia“ durch das
Tempus perfectum hervorgehoben.
Die Abschnitte zwischen den „Alleluia“Blöcken werden von den Solostimmen
bestritten, so dass sich auch hier klar
Abstufungen in der Dynamik ergeben.
Giovanni Gabrieli – In ecclesiis
Der musikalische Satz ist weithin
syllabisch bzw. akkordisch, was bei
einer so großen Stimmenanzahl auch
nicht anders möglich ist.
Auch die Solostimmen tragen den Text
weithin syllabisch vor.
An einzelnen Stellen finden sich bei ihnen
jedoch reiche Verzierungen, wie in
Mens. 57ff. Ebenda finden sich auch in
den Cornetti virtuosere Verzierungen.
Giovanni Gabrieli – In ecclesiis
Form, Faktur und Charakter dieser
Motetten sind vor allem auf
Repräsentation angelegt, weniger auf
Kontrapunkt oder theologische
Aussage hin.
So schreibt Heinrich Schütz in seinem
Vorwort zu den Psalmen Davids 1619:
Dass „hingegen die Capellen zum
starcken Gethön / und zur Pracht
eingeführet werden.“
Heinrich Schütz
-
geb. am 8. Oktober 1585 in Köstritz
gest. am 6. November 1672 in Dresden
Ab 1599 an der Kasseler Hofschule
Ab 1607 Jurastudium in Marburg
1609-1612 durch Stipendium des
Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel
Studium bei Giovanni Gabrieli in
Venedig
- 1615 in Dresden, ab 1619 als
Hofkapellmeister
Heinrich Schütz
- 1628/29 in Italien
- 1633-35 u. 1642-44 in Kopenhagen
- Schuf mit Heinrich Opitz zusammen die
erste deutsche Oper Dafne – u.U. auch
nur ein Schauspiel mit Musik
- Nach dem Madrigalbuch op. 1, Venedig
1611 hauptsächlich geistliche Musik, die
im Druck erhalten ist.
- Die weltlichen Hofmusik von Schütz ist
verloren, da er sich um ihre
Veröffentlichung nie gekümmert hat.
Schütz
Psalmen Davids
Ach Herr, straf mich nicht in
deinem Zorn (Ps 6)
Schütz – Psalmen Davids 1619
Als Reaktion auf die großangelegten
Symphoniae sacrae seines Lehrers
Giovanni Gabrieli komponierte Schütz
mehrchörige Psalmen, die er 1619 als
Psalmen Davids veröffentlichte.
Schütz verwendet am lutherischen Hof
die ins deutsche übersetzte Psalmen
der Lutherbibel.
Vertont sind die Psalmen für zwei bis vier
Chöre, d.h. bis zu 17 Stimmen (4x4
Stimmen + Generalbass).
Schütz – Psalmen Davids 1619
In seiner Vorrede zum Druck, in der sich
Schütz auf seinen Lehrer Gabrieli
bezieht, gibt er relativ genaue Angaben
zur Aufführung der Psalmen:
- Einteilung in Favorit- und Capell-Chor
- Aufstellung über Kreuz
- Instrumentierung: hohe Stimmen mit
Zinken etc.
- Angemessenes Deklamationstempo
Schütz – Psalm 6
- Der Psalmtext wird über weite Strecken
deklamatorisch vorgetragen
- Der Wechsel der Chöre erfolgt jedoch
nicht mechanisch von Vers zu Vers,
sondern eher der Betonung der
Textaussage gemäß.
- Schütz gestaltet den Sprachrhythmus in
sehr großer Nähe zur Betonung des
Deutschen.
- Einzelne Worte werden durch
Höhe/Tiefe oder Länge hervorgehoben.
Schütz – Psalm 6
- So Mens. 26ff „gedenket“ durch eine
Semibrevis, „dein“ durch relativen
Hochton und „[in der] Hölle danken“
durch Tiefton, der im Cantus (h) an der
absoluten Untergrenze liegt
- Oder: „Mein Gebet nimmt der Herr an“
mit Hochton f‘‘ im Cantus in Mens. 47
- Als rhetrotische Steigerung dient der
Aufstieg der Stimmen, bes. des Cantus
von c‘‘ über d‘‘ zum e‘‘ bei „Herr sei mir
gnädig“ Mens. 7ff.
Schütz – Psalm 6
- Weitere Ausdrucksmittel sind der
Quart-Sextklang mit folgendem H-Klang
bei „ich bin schwach“ in Chor I, Mens.
14f
- Der Quart-Sext-Klang wird auch bei
„Weinen“ und „Flehen“ Mens. 45f
eingesetzt.
- Der Quartfall zu Beginn bei „Ach Herr“
folgt dem Sprachfall eines Seufzers
- Die Inkongruenz von Textaussage und
Kadenzziel unterstreicht die Aussage
Schütz – Psalm 6
- Ein vergleichbares Stilmittel ist die
Generalpause nach „sehr erschrocken“
in Mens. 18 bei Verwendung kurzer
Notenwerte
- Das folgende „Ach Du Herr, wie lang“
ist analog in Minimen und Semibreven
notiert
- Ach der e-Modus unterstreicht den
Bußcharakter des Psalms
Schütz – Psalm 6
Die Besonderheit der Schütz‘schen
Psalmvertonung liegt in einer sehr
genauen Umsetzung der sprachlichen
Betonung des Deutschen in
musikalische Rhythmik.
Schütz gelingt es, den Psalmtext in
einen exakt dem Sinn nach betonenden
Prosarhythmus zu fassen.