Änderung der Anklage - Juristische Fakultät Uni Basel

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Transcript Änderung der Anklage - Juristische Fakultät Uni Basel

Juristische Fakultät, Universität Basel
Advokatenkammer Basel
10. Februar 2012
Erste Erfahrungen mit der schweizerischen
Strafprozessordnung und aktuelle Brennpunkte
Akkusationsprinzip:
Ergänzung sowie Änderung
und Erweiterung der Anklage
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl, Advokat
Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Das Akkusationsprinzip im Allgemeinen
Akkusationsprinzip hier nicht in personeller Hinsicht (personelle
Trennung von Anklage und Gericht) gemeint, sondern im Sinne
einer Anklageschrift als Voraussetzung jeder gerichtlichen Beurteilung (vgl. Art. 9 Abs. 1 StPO, und schon Art. 6 EMRK).
1. Hauptfunktionen des Akkusationsprinzips:
●
●
●
●
Informationsfunktion
Umgrenzungsfunktion
Unveränderlichkeit der Anklage (Immutabilitätsprinzip)
Unwiderruflichkeit der Anklage
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Das Akkusationsprinzip im Allgemeinen
2. Informationsfunktion:
BGE 120 IV 348: Die Anklageschrift muss „mindestens erlauben, in objektiver und subjektiver Hinsicht zu bestimmen,
welche konkreten strafbaren Tatbeiträge dem einzelnen Angeklagten zur Last gelegt werden.
3. Umgrenzungsfunktion:
Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens kann nur sein,
was dem Angeklagten in der Anklageschrift vorgeworfen
wird (Art. 9 Abs. 1 StPO). Deshalb darf das Gericht den
angeklagten Sachverhalt auch nicht verändern.
Vgl. zu beidem neuestens BGer. 6B_344/2011, E. 3.
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Das Akkusationsprinzip im Allgemeinen
4. Unveränderlichkeit der Anklage:
Eine wirksame Fixierung des Prozessgegenstandes ist nur
möglich, wenn der Gegenstand der Anklage nicht laufend
angepasst werden kann. Deshalb hält Art. 350 StPO die
Bindung des Gerichts an den in der Anklage umschriebenen
Sachverhalt fest = Grundlage des Urteils.
5. Unwiderruflichkeit der Anklage:
Nach eröffneter Hauptverhandlung kann nach Erledigung
von Vorfragen die Anklage nicht mehr zurückgezogen werden (Art. 340 Abs. 1 lit. b).
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Ergänzung und Berichtigung sowie Änderung
und Erweiterung der Anklage
Absolut verstandenes Akkusationsprinzip
contra
Pflicht zur Suche nach der historischen Wahrheit
=> Durchbrechungen des strikten Akkusationsprinzips ist zulässig, um offensichtlich ungerechtfertigte Freisprüche zu
vermeiden. Es handelt sich um:
● Ergänzung und Berichtigung der Anklage (Art. 329 Abs. 2)
● Änderung und Erweiterung der Anklage (Art. 333 Abs. 1)
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Ergänzung und Berichtigung der Anklage (Art.
329 Abs. 2 StPO)
1. Zuerst Vorprüfung der Anklage durch die Verfahrensleitung
(Art. 329 Abs. 1 StPO). Ergibt diese, dass ein Urteil (bezüglich der ganzen oder von Teilen der Anklage) nicht ergehen
kann, weist das Gericht, sofern erforderlich, die Anklage zur
Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück.
2. Die Zuständigkeit dafür liegt allein beim Gericht, nicht bei
der Verfahrensleitung, was nach der Vorprüfung durch die
Verfahrensleitung an sich wenig einsichtig ist und in der
Praxis oft falsch gemacht wird, aber deshalb so ist, weil das
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während des gesamten Hauptverfahrens möglich ist.
Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Ergänzung und Berichtigung der Anklage (Art.
329 Abs. 2 StPO)
3. Vorprüfung ist keine materielle Prüfung der Anklage (d.h.
keine Prüfung der Begründetheit der Anklage aufgrund der
Akten/Beweise, also kein Anklagezulassungsverfahren),
sondern eine bloss formelle, auf den Inhalt der Anklageschrift beschränkte (gleicher Straftatbestand).
4. Gründe für Ergänzung und Berichtigung der Anklage:
● objektive oder subjektive Tatbestandselemente der entsprechenden Strafnorm werden nicht geschildert (z.B.
Betrug: es fehlt die Behauptung, dass das Vorgehen arglistig war oder was die Arglist ausmachte).
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Ergänzung und Berichtigung der Anklage (Art.
329 Abs. 2 StPO)
● umstritten: ungenügende Schilderung des Tatvorgehens,
insbesondere bei Seriendelikten (allgemeine Schilderung
des modus operandi, danach Anfügen einer Liste nach
Ort, Zeit, Datum, Geschädigte, Deliktsgut, aber ohne Detailschilderung).
● Einholen fehlender Strafanträge (sofern Frist nicht schon
abgelaufen)
● denkbar: fehlendes psychiatrisches Gutachten.
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Änderung und Erweiterung der Anklage (Art.
333 Abs. 1 + 2 StPO)
Der Änderung und Erweiterung der Anklage liegt, anders als bei
der Ergänzung und/oder Berichtigung, keine ungenügende Anklageschrift zugrunde, sondern es geht um weitere, noch nicht
angeklagte Delikte (Erweiterung der Anklage) oder um einen anderen als den angeklagten Straftatbestand (Änderung der Anklage).
Auch hier liegt die Kompetenz, das Verfahren zur Änderung
oder Erweiterung der Anklage einzuleiten, einzig beim Gesamtgericht, nicht bei der Verfahrensleitung.
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Erweiterung der Anklage
(Art. 333 Abs. 2 StPO)
Erweiterung der Anklage (Art. 333 Abs. 2):
1. Die Erweiterung der Anklage ist unproblematisch und war
schon unter den kantonalen StPO‘s BS und BL möglich:
Bekanntwerden neuer Straftaten der beschuldigten Person.
2. Dient der Vereinfachung des Verfahrens (keine zweite HV
nötig, keine Zusatzstrafe) und liegt oft im Interesse auch der
beschuldigten Person (weniger Kosten als wenn zweite HV,
keine weitere Verfahrensverzögerung etc.).
3. Die Erweiterung setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft
voraus, der vom Gesamtgericht bewilligt werden muss. 10
Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Änderung der Anklage (Art. 333 Abs. 1 StPO)
Änderung der Anklage (Art. 333 Abs. 1):
1. Allgemeines
Die Änderung der Anklage ist der problematische Fall: der in der
Anklageschrift umschriebene Sachverhalt (gleicher Sachverhalt)
könnte einen anderen Straftatbestand als den angeklagten erfüllen, die Anklageschrift genügt aber den gesetzlichen Anforderungen nicht, sodass eine Verurteilung wegen des anderen
Straftatbestandes nicht möglich wäre (i.d.R. sind die notwendigen objektiven und/oder subjektiven Tatbestandselemente des
anderen Straftatbestandes in der Anklage nicht geschildert). 11
Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Änderung der Anklage (Art. 333 Abs. 1 StPO)
2. Voraussetzung: gleicher Sachverhalt
Der angeklagte Sachverhalt darf sich nicht verändert haben!
3. Beispiele:
3.1 Anklage: Betrug / Gericht: Veruntreuung. Fehlt die Arglist
beim angeklagten Anlagebetrug, so ist das Vermögen der
Geschädigten den Tätern oft anvertraut worden mit der Abmachung, das Vermögen in einem bestimmten Sinn anzulegen, was nicht geschah. Sachverhalt gleich, aber zusätzlich
Anvertrautsein anklagen.
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Änderung der Anklage (Art. 333 Abs. 1 StPO)
3.2 Anklage: Veruntreuung / Gericht: ungetreue Geschäftsbesorgung1. Das Anvertrautsein ist bei beiden gegeben (wohl
i.d.R. aufgrund Rechtsgeschäft), aber für die Veruntreuung
fehlt die Aneignung oder Verwendung in eigenem/fremdem
Nutzen, dennoch tritt wegen einer Pflichtverletzung (die bei
der Veruntreuung sowieso gegeben ist) ein Schaden ein,
dann kann ungetreue Geschäftsbesorgung gegeben sein.
Sachverhalt gleich, ev. noch Pflichtverletzung anklagen.
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Gemäss der Konkurrenzlehre geht Veruntreuung der ungetreuen Geschäftsbesorgung immer
vor (vgl. etwa BGE 111 IV 22 f.), Art. 158 StGB erscheint in gewissen Konstellationen somit als
Auffangtatbestand gegenüber Art. 138.
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Änderung der Anklage (Art. 333 Abs. 1 StPO)
3.3 Anklage: Veruntreuung / Gericht: Betrug: ist umstritten.
Im Anklagesachverhalt steht nichts zur Arglist => setzt für
Änderung der Anklage Ergänzung des Sachverhaltes voraus und damit dessen Änderung => nicht mehr derselbe
Sachverhalt, sondern ein anderer: Verstoss gegen Art. 350
Abs. 1 StPO1. Wenn in Anklage bspw. bereits erwähnt, dass
Täuschung mittels gefälschter Urkunde etc., dann Änderung
wohl zulässig, effektiv aber eher ein Fall von Art. 329 Abs. 2.
Was, wenn sich die Täuschung mittels Urkunde erst in der
HV ergibt?
1 anders
BSK StPO-STEPHENSON/ZALUNDARDO, Art. 333 N 2 und ZHK StPO-GRIESSER, Art.
333 N 3, und Botschaft StPO 1280.
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Strafprozessrecht
Prof. Dr. iur. Niklaus Ruckstuhl
Änderung der Anklage (Art. 333 Abs. 1 StPO)
3.4 Anklage: Vorsatz / Gericht: Fahrlässigkeit: nein, die Sorgfaltspflichtproblematik war weder Gegenstand des Untersuchungsverfahrens noch der Anklage, bislang musste sich der Angeschuldigte dagegen nicht verteidigen und eine Verteidigung dagegen erst
in der HV ist kaum möglich ohne Verletzung der Verteidigungsrechte (Recht auf genügend Zeit zur Vorbereitung der HV und auf
eine wirksame Verteidigung, ev. das Beweisantragsrecht und der
Anspruch auf rechtl. Gehör).
Dennoch ist diese Schlussfolgerung heikel und fraglich, ob nicht bloss eine andere rechtliche
Würdigung vorliegt, die das Gericht immer vornehmen darf (Art. 344 und 350 Abs. 1 StPO). Dennoch geht das meist nicht ohne zusätzliche Beweiserhebung zum Sachverhalt, insbesondere
der Sorgfaltspflichtverletzung. Eine Sachverhalts- und Beweisergänzung ist aber in diesem Verfahrensstadium gerade nicht zulässig (vgl. BSK StPO-STEPHENSON/ZALUNARDO, Art. 333 N 6),
deshalb geht es nicht. Heikle Abgrenzung zwischen bloss anderer rechtlicher Würdigung und
Änderung des Sachverhalts, was eine Verletzung des Akkusationsprinzips wäre (vgl. Bei- 15
spiel in BGer. 6B_344/2011, E. 3.2).