FolienzurEinfhrung

Download Report

Transcript FolienzurEinfhrung

Latein für Juristen

Einige Sprichwörter und Texte zur Einführung

Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 1

Latein für Juristen

A) Begriff des Rechts; Einteilung des Rechts

I. Ulp.-Cels. D. 1, 1, 2 pr. Ius est ars boni et aequi. • • • • • Das Recht ist die Kunst des Guten und Angemessenen. Ius, iuris n.: das Recht, vgl. Rechtswissenschaft in Österreich oder den Begriff Justiz; bei uns Iura (Pl.: ursprgl. weltliches und kirchliches Recht) ars, artis f.: Kunst, Kenntnis, Wissenschaft; auch Handwerk bonus, -a, -um: gut, rechtmäßig; vgl. bon (franz.), buono (ital.) aequus, -a, -um: billig, angemessen; bonum et aequum: die Rechtlichkeit und Billigkeit; vgl. equity im englischen Recht Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 2

Latein für Juristen

II. Inst. 1, 1, 4 Publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat, privatum, quod ad singulorum utilitatem pertinet. • • • • • • • • Öffentliches Recht ist, was sich auf den Zustand des römischen Staates bezieht, privates Recht ist, was das Interesse der Einzelnen betrifft. Publicus, -a, -um: öffentlich; vgl. public (engl./franz.), in Art.6 EGBGB den ordre public- Vorbehalt res Romana: der römische Staat; wörtlich: die römische Sache spectare: schauen; daher: Spektakel privatus, -a, -um: selbsterklärend; privare = befreien singulus: der Einzelne; daher: Single, Singularität utilitas, utilitatis f.: Nutzen Vgl. heute Einteilung öffentliches und privates Recht vgl. Interessentheorie zur Normqualifizierung bei § 40 I VwGO / § 13 GVG Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 3

Latein für Juristen

III. Inst. 1, 2 pr. Ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit. • • • • • • Naturrecht ist, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat. Omnis, -e: alles, ganz; Omnibus: für alle animal, animalis n.: das Lebewesen, das Geschöpf Begriff entstammt der griechischen Philosophie (Aristoteles, Pythagoras) in Rom: Naturrecht ~ ius gentium (das für alle Menschen verbindliche, auf der Amtsgewalt des Prätors beruhende Recht) vgl. Naturrechtsepoche in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Grotius, Pufendorf) vgl. heute § 90a BGB Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 4

Latein für Juristen

IV. Inst. 1, 2, 12 Omne autem ius, quo utimur, vel ad personas pertinet vel ad res vel ad actiones. • • • • • Alles Recht aber, das wir anwenden, bezieht sich auf Personen oder Sachen oder Klagen/A nsprüche. Uti, utor, usus sum: benutzen, anwenden res, rei f.: die Sache Actio, actionis f.: Die Klage i.S. eines subjektiven Rechts, eines Anspruchs; vgl. den historischen Streitgegenstandsbegriff im Zivilprozessrecht Dreiteilung des Privatrechts, sogenanntes Institutionensystem 5 Bücher des BGB : Personen Sachen Ansprüche • AT FamilienR SachenR ErbR SchuldR vgl. ursprüngl. Dreiteilung des Code civil (F) und des ABGB (A) Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 5

Latein für Juristen

V. G. 3, 88 Omnis enim obligatio vel ex contractu nascitur vel ex delicto. • • • • • Denn jede Verpflichtung entspringt entweder aus einem Vertrag oder aus einem Delikt. Obligatio, obligationis f.: Verpflichtung, Schuldverhältnis, Verbindlichkeit; vgl. obligation in F und GB contractus, contractus m.: der Vertrag; vgl. contract in GB und contrat in F delictum, delicti n.: die unerlaubte Handlung, das Vergehen/Verbrechen; daher der Delinquent oder das corpus delicti (die Tatwaffe, generell das Beweismittel) im röm. Recht kaum strafbare Delikte, dafür zivilrechtliche Strafklagen, oft auf das Doppelte oder Vierfache der Schadenssumme (z.B. actio furti: Diebstahlsklage) Vgl. heute: Vertragliche und gesetzliche Schuldverhältnisse Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 6

Latein für Juristen

B) Rechtswissenschaft

I. Inst. 1, 1, 1 Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia. • • • • • • Die Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, das Wissen vom Rechten und Unrechten. Prudentia: eigentlich Klugheit; in jur. Zusammenhängen iurisprudentia = Rechtswissenschaft divinus, -a, -um: göttlich; vgl. divine (GB) humanus,-a,-um: menschlich; vgl. Humanismus, Human Resources (modisch für Personal) notitia: die Kenntnis; vgl. Notiz scientia: das Wissen, das Bewusstsein; vgl. Science und Conscience (GB) vgl. Gen. 3, 5 (Vulgata): Eritis sicut deus scientes bonum et malum Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 7

Latein für Juristen

II. Ulp. D. 1, 1, 1, 1 Cuius merito quis nos sacerdotes appellet: iustitiam namque colimus et boni et aequi notitiam profitemur, aequum ab iniquo separantes, licitum ab illicito discernentes […]. • • • • • • Mit Grund kann man uns Priester der Gerechtigkeit nennen: Denn wir dienen der Gerechtigkeit und lehren das Wissen vom Guten und Gerechten, indem wir Recht von Unrecht trennen und Erlaubtes von Unerlaubtem scheiden. Ulpian: Hochklassischer Jurist, viele Digestentexte von ihm Sacerdos, sacerdotis m.: Priester colere, colo, colui, cultum: pflegen, verehren; daher: Kult, Kultur, culture etc. profiteri, profiteor, professus sum (Deponens): bekennen, erklären, angeben separare: trennen (hier als Partizip Präsens Aktiv) licitus, -a, -um: erlaubt, daher z.B. illicite (F) Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 8

Latein für Juristen

III. Just. C. 7, 45, 13 Non exemplis, sed legibus iudicandum est.

• • • • • • Nicht nach Präzedenzfällen, sondern nach den Gesetzen muss geurteilt werden. Justinian: spätantiker Kaiser, hat Corpus Iuris Civilis veranlasst Exemplum: Beispiel; hier: Präzedenzfall; vgl. example (GB) und exemple (F) lex, legis f.: das Gesetz; vgl. legal, Legaldefinition, Legalzession, …; legal (GB) und légale (F) iudicare: urteilen; iudex: der Richter; iudicium: das Urteil; vgl. Judiz vgl. Common Law (vorwiegend Präzedenzfälle) und Civil Law (vorw. gesetztes Recht) vgl. Art. 97 I und 20 III GG einerseits und die gerichtliche Praxis andererseits Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 9

Latein für Juristen

IV. Cels. D. 1, 3, 17 Scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem.

Die Gesetze zu kennen bedeutet nicht, sich an ihre Worte zu halten, sondern an ihren Inhalt und an ihre Bedeutung. • • • • • Celsus: Hochklassischer Jurist, bekannt für seine eleganten Definitionen, z.B. oben A I Scire → Scientia, s.o. Vis, vis f.: eigentlich Kraft, Gewalt; auch: Inhalt; vgl. vis absoluta potestas, potestatis f.: eigentlich Macht, Wirkung, Bedeutung; vgl. patria potestas vgl. teleologische Auslegung; vgl. auch § 133 BGB Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 10

Latein für Juristen

V. Ner. D. 1, 3, 21 Et ideo rationes eorum, quae constituuntur, inquiri non oportet: alioquin multa ex his quae certa sunt subvertuntur. • • • • Und darum soll man nicht nach den Gründen für das, was (an Recht) eingeführt worden ist, forschen: Sonst wird vieles von dem, was gesichert ist, umgestoßen. Ratio, rationis f.: Grund, Vernunft constituere, -uo, -ui, constitutum: festsetzen, bestimmen, anordnen, einführen, begründen; vgl. Konstitution, Constitution (GB) subvertere, -o, -i, subversus: umstoßen, umstürzen Die Rechtsgeschichte denkt manches auf, was von der herrschenden Dogmatik ignoriert wird; Beispiele: Die PVV und die angebliche Lücke vor 2002; die Zweckvereinbarung bei der condictio ob rem Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 11

Latein für Juristen

C) Gerechtigkeit

I. Ulp. D. 1, 1, 10 pr. Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. • • • Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zuteil werden zu lassen. Vgl. Aristoteles: die verteilende Gerechtigkeit (hier) und die ausgleichende Gerechtigkeit Was ist der Verteilungsmaßstab? – – Demokraten: Freiheit Oligarchen: Reichtum – Aristokraten: Adel „Jedem das Seine“ wurde 1937 am Tor des KZ Buchenwald angebracht, damalige Deutung: Jedem das, was er verdient -> Gemeinplatz ohne materiellen Richtigkeitsmaßstab Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 12

Latein für Juristen

• • • • II. Fiat iustitia, pereat mundus (Wahlspruch Kaiser Ferdinands I.) fieri: geschehen perire: zugrunde gehen mundus: Welt Zwei Übersetzungsmöglichkeiten: 1) Es soll Gerechtigkeit geschehen, und mag die Welt dabei zugrunde gehen (Luther) – blinder Gerechtigkeitsfanatismus – vgl. Kants Inselbeispiel für die absolute Straftheorie 2) Es soll Gerechtigkeit geschehen, und mag die weltliche Hochmut dabei zunichte werden. – Auf persönliche Interessen der weltlichen Großen (Adel, Bürgertum) darf es bei der Durchsetzung der Gerechtigkeit nicht ankommen – in dem Sinne wird Papst Hadrian VI der Spruch zugeschrieben – vgl. die Darstellungen der Iustitia als blinde Gerechtigkeitsgöttin Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 13

Latein für Juristen

III. Cicero, de off. 1, 33 Summum ius summa iniuria.

Das höchste Recht ist die höchste Ungerechtigkeit. • • • • mehrere Deutungsmöglichkeiten: – Spannung zwischen der abstrakt formulierten Rechtsnorm und der Billigkeit, die die angemessene Lösung im Einzelfall anstrebt – Die objektive Rechtsordnung kann Folgen haben, die als ausgesprochenes Unrecht angesehen werden müssen – – die rücksichtslose Durchsetzung eines Rechtsanspruchs, Rechtsmissbrauch strenges Zivilrecht vs. prätorische Rechtsbehelfe im römischen Recht moderne Lösung: Generalklauseln, z.B. § 226 BGB; § 242 BGB vgl. auch Common Law vs. Equity im englischen Recht auch höchste Billigkeit kann zur summa iniuria werden! Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 14

Latein für Juristen

D) Verhältnis zwischen dem Recht als Ganzem und der einzelnen Regel

I. Paul. D. 50, 17, 1 Non ex regula ius sumatur, sed ex iure, quod est, regula fiat.

• • • • • • • Das Recht wird nicht aus einer Regel abgeleitet, sondern aus dem bestehenden Recht wird eine Regel. Fieri, fio, factus sum: geschehen, (gemacht) werden Sumere, sumo, sumpsi, sumptum: nehmen, ableiten Regula: Regel, Grundsatz; hier speziell die Rechtsregel Chiasmus ex regula ius – ex iure… regula Steht in den Digesten zu Beginn eines ganzen Titels voller Rechtsregeln!

römische Methode der Rechtsfindung: Gerechte Lösung im Einzelfall versuchen, nicht die Lösung eines Falls schematisch aus Regeln ableiten Es gibt keine Rechtsregel ohne Ausnahme: Beispiele: Relativität der Schuldverhältnisse und Vertrag mit Schutzwirkung, NC der Sachenrechte und Anwartschaften, Abstraktionsprinzip und „Fehleridentität“, … , … Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 15

Latein für Juristen

• • • • • • • • • • • II. Iavol. D. 50, 17, 202 Omnis definitio in iure civili periculosa est; rarum est enim ut non subverti possit.

Jede Begriffsbestimmung im Zivilrecht ist gefährlich; denn selten ist sie unwiderlegbar.

Omnis, -e: ein jeder, alle (vgl. Omnibus = für alle) definitio, -ionis f.: Begriffsbestimmung, Definition (finis: die Grenze) civilis, -e: die Bürger betreffend, aber auch ihr Gemeinwesen ius civile: das Recht der römischen cives, also der Bürger <-> ius gentium (das für alle Menschen geltende Recht) periculosus, -a, -um: gefährlich (etymologisch: Suffix –osus bei Adj. = reich an, vgl. auch studiosus etc.) rarus, -a, -um: selten (dt. rar, Rarität, Rara [Nom. Pl. Neutr.] = die Seltenheiten) Enim: nämlich subvertere, pass. subverti: umkehren; widerlegen posse (pot-esse): können Vgl. schon soeben: Skepsis der röm. Juristen gegenüber Definitionen und Systemen Bsp.: Die guten Sitten (§§ 138, 826 BGB) als Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden → kaum eine Definition! Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 16

Latein für Juristen

III. Cels. D. 1, 3, 24 Incivile est nisi tota lege perspecta una aliqua particula eius proposita iudicare vel respondere. Es ist unjuristisch, ohne das Gesetz als Ganzes zu berücksichtigen, nach irgendeinem sich vorgenommenen Teil desselben zu urteilen oder ein Gutachten zu erteilen. • • • • • • Perspicere, -icio, -exi, -ectum: durchschauen, untersuchen, berücksichtigen; hier lege perspecta = Ablativus absolutus Aliquus, -a, -um: irgendeiner/eine/eines Particula, -ae f.: kleiner Teil, Teilchen; Diminutiv von pars: Teil; vgl. Partikel Eius: Genitiv von is, ea, id: dieser, diese, dieses (Demonstrativpronomen) respondere: eigentl. antworten; im jur. Zusammenhang: ein Gutachten erteilen Proponere: ausstellen, darstellen, sich vornehmen Aufruf zu systematischer Auslegung: Äußeres System (Stellung im Gesetz) und inneres System (Wertentscheidungen, Axiome) Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 17

Latein für Juristen

E) Wie sollen Gesetze sein?

• • • • I. Ulp. D. 1, 3, 8 Iura non in singulas personas, sed generaliter constituuntur. Rechte werden nicht für einzelne Personen, sondern allgemein geschaffen. Constituere: s.o., im jur. Zusammenhang: eine Norm erlassen, etwas beschließen Verbot des Einzelfallgesetzes, des Privilegiums privare: trennen, befreien privilegium privilegium: Vorrecht, ius singulare; lex Gegensatz: commune ius civium Romanorum Vgl. heute: Art. 19 I 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 18

Latein für Juristen

II. Seneca, Epistulae 94, 38 Lex iubeat, non disputet.

• • • • • Ein Gesetz soll befehlen, nicht erörtern. iubere: befehlen, gebieten; iussum: der Befehl; vgl. den Iussiv (hier vorliegend!) disputare: diskutieren, erörtern; vgl. die Disputation zur Erlangung eines akademischen Grades (z.B. Inaugural-Disputation: Doktorprüfung) Der ideale Gesetzgeber entscheidet Fragen und entwirft keine Theorien Bsp. BGB: keine Definition der Willenserklärung, wurde Wissenschaft überlassen (s. Protokolle); aber: Entscheidung der Problemfälle, §§ 116-144 Wird von der EU und dem heutigen Gesetzgeber kaum beherzigt, stattdessen seitenlange Begriffsbestimmungen und Mustererklärungen mit Gesetzeskraft (z.B. Anlagen 1-7 zum EGBGB) • Gleichsinnig: Lex moneat, non doceat. Ein Gesetz soll anweisen und nicht belehren. Beispiel: § 498 S. 2 BGB: Darlehensgeber soll Darlehensnehmer ein Gespräch anbieten → keine klare Anweisung, Rechtsfolge streitig Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 19

Latein für Juristen

III. Marcian C. 1, 14, 9 Leges ab omnibus intellegi debent.

• • • • Die Gesetze müssen von allen verstanden werden. Intellegi: Infinitiv Passiv von intellegere: verstehen, erkennen Gebot der Rechtsklarheit, Teil des Rechtsstaatsprinzips Ein ewiges Dilemma: Richtet sich das Gesetz an den Rechtsanwender (Fachsprache) oder an den Bürger (Umgangssprache)? Beispiele: BGB -> Rechtsanwender; ALR (Preußen) -> Bürger; ZGB (Schweiz) -> Bürger, aber technisch besser Fachsprache → abstrakt-generelle Regelung, Umgangssprache → Kasuistik IV. Seneca, Epistulae 94, 38 Leges breves esse oportet. • • • Gesetze müssen kurz sein. brevis, -e: kurz Oportet: es gehört sich, es ist nötig Vgl. Friedrich der Große zum 1. Entwurf des ALR: „Es ist aber sehr dicke, und Gesetze müssen kurtz und nit weitläufig seyn“ Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 20

Latein für Juristen

F) Grundprinzipien des Zivilrechts

I. Scaev. D. 42, 8, 24 i.f. Ius civile vigilantibus scriptum est.

• • • • Das Zivilrecht ist für die Wachsamen geschrieben worden. Ius civile: vielschichtiger Begriff – Persönlicher Geltungsbereich: ius civile – ius gentium – Inhalt: ius civile – ius publicum – Geltungsgrundlage: ius civile – ius honorarium Vigilis, -e: wachsam; vigilantes: die Wachenden (PPA); vigiles: staatliche Feuerwehr in Rom seit Augustus; vgl. heute die Feuerwehr in Italien: vigili del fuoco Scribere, scribo, scripsi, scriptum: schreiben; daher das Scriptorium im Kloster oder heute beim Repetitor das Skript Bedeutung: Im Zivilrecht ist Eigeninitiative gefragt, Privatautonomie nutzen; auf Einreden muss man sich berufen, im Zivilprozess gilt der Beibringungsgrundsatz; man muss seine Rechte aber auch kennen, um sie durchzusetzen Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 21

Latein für Juristen

II. Ulp. D. 2, 14, 7, 7 Pacta sunt servanda. • • • • • • • Verträge müssen eingehalten werden. Pactum: im römischen Recht ein formloser Vertrag oder eine Nebenabrede Servare: erhalten, bewahren; hier: servanda = Gerundiv Im römischen Recht keine Vertragsfreiheit wie im heutigen Sinn, nicht jede Vereinbarung ist durchsetzbar, Enumerationsprinzip Pacta werden aber als Nebenabreden mitberücksichtigt, wenn die Vertragsklage geltend gemacht wird → exceptio pacti = Einrede des Vertrags Bsp.: A und B einigen sich über einen Kaufvertrag (emptio venditio). Verkäufer A stundet Käufer B formlos den Kaufpreis (pactum). B hat exc. pacti gegen actio venditi (= § 433 II BGB) In der Spätantike praktisch Durchsetzbarkeit des Pactums durch Aufgabe der Stipulationsform Ab dem Kirchenrecht (Moraltheologie) gilt der Satz ohne Einschränkung, Dekretalen 1, 35, 1; mit Grotius ist er ins weltliche Recht übernommen worden, vgl. heute § 311 I BGB Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 22

Latein für Juristen

III. Ulp. D. 2, 14, 1, 3 Nullum est contractum, nulla obligatio, quae non habeat in se conventionem. • • • • Es gibt keinen Vertrag, kein Schuldverhältnis, das nicht eine Übereinkunft in sich trägt. Contractus: der Vertrag; techn. Einer der typischen Verträge im röm. Recht; – von contrahere: zusammenziehen, techn. ein Rechtsverhältnis begründen; vgl. Kontrakt, kontrahieren, Kontrahierungszwang (Daseinsvorsorge, Monopolstellungen, AGG) Obligatio: s.o., das Schuldverhältnis; vgl. Obligation, obligatorisch, Obligationenrecht (CH) Conventio: die Übereinkunft, eigentlich auch der Vertrag, aber bezogen auf die inhaltliche Einigung; – Von convenire: zusammenkommen, übereinkommen, vereinbaren Vgl. heute die Anforderungen an das Angebot (essentialia negotii), § 150 II BGB und §§ 154 f. BGB (Dissens) Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 23

Latein für Juristen

IV. XII-Tafeln 5, 3 Uti legassit suae rei, ita ius esto.

• • • • • • • • So wie er über sein Vermögen testiert hat, so soll es rechtens sein. 12 Tafeln: erste schriftliche Niederlegung römischer Gesetze, 450 v. Chr.; im Konflikt zwischen Patriziern und Plebejern entstanden Ausgangspunkt der römischen Rechtswissenschaft: Interpretation der 12 Tafeln; die ersten Juristen schrieben Kommentare zu diesen Enthielten aber nur Zivilrecht, nicht auf Vollständigkeit ausgelegt Rechtsgebiete geordnet: jede Tafel enthält ein bestimmtes Rechtsgebiet Denken in Voraussetzungen und Rechtsfolge Legare: testamentarisch über sein Vermögen verfügen; vgl. Legat: Das Vermächtnis; Damnationslegat: Vermächtnisanspruch, § 2174 BGB Esto: alter Imperativ von esse Testierfreiheit, heute von Art. 14 I GG geschützt Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 24

Latein für Juristen

V. Inst. 1, 3, 1 Et libertas quidem est, ex qua etiam liberi vocantur, naturalis facultas eius quod cuique facere libet, nisi si quid aut vi aut iure prohibetur. • • • • Und die Freiheit, libertas, ist freilich, weshalb ja auch die freien Menschen liberi genannt werden, die natürliche Möglichkeit eines jeden das zu tun, was ihm beliebt, sofern es nicht durch Gewalt oder durch das Recht verhindert wird. faktische Grenze (Gewalt) wird mit rechtlicher Grenze gleichgestellt Vgl. heute Art. 2 I GG: allgemeine Handlungsfreiheit Vgl. auch Art. 2 II HChE: anderen nicht schadet.

: Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was Vgl. auch Art. 4 der franz. Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte von 1789: „La liberté consiste à faire tout ce qui ne nuit pas à autrui“ Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 25

Latein für Juristen

VI. Inst. 1, 2, 2 Iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur.

• • • • • • Denn nach Naturrecht wurden am Anfang alle Menschen frei geboren. Ius naturalis: das Naturrecht, s.o. A III Initium, initii n.: der Anfang; vgl. Initiationsritual; initial (Adj., GB); initialement (Adv., F) Nasci, nascor, natus sum: entstehen, geboren werden; vgl. natale (Adj., F) Stammt ursprüngl. aus der griechischen Philosophie (Humanitätsgedanken) Bei den Römern gab es trotzdem Sklaverei, wird nur im Nachhinein mit der Einführung des ius gentium gerechtfertigt Vgl. Art. 2 I HChE: Alle Menschen sind frei.

Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 26

Latein für Juristen

VII. Ulp. D. 50, 17, 32 Omnes homines aequales sunt. • • • Alle Menschen sind gleich. Auch dies nur ein naturrechtliches Ideal, im röm. Recht werden Freie und Unfreie, Männer und Frauen unterschiedlich behandelt Vgl. Art. 3 I GG ( „vor dem Gesetz“) Amerik. Unabhängigkeitserklärung: „All men are created equal“ Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 27

Latein für Juristen VII. Ulp. D. 41, 2, 12, 1 Nihil commune habet proprietas cum possessione.

• • • Das Eigentum hat mit dem Besitz nichts gemein.

Strikte Trennung von rechtl. (Eigentum) und tats. Sachherrschaft (Besitz) 2 Arten von Besitz im röm. Recht: – – possessio ad Interdictas • • possessio civilis • • Interdikte: Besitzschutzansprüche, heute § 861 f. BGB Interdiktenbesitz haben: Eigenbesitzer (Eigentümer, gutgl. Eigenbesitzer, bösgl. Eigenbesitzer, d.h. auch der Dieb!) und bestimmte Fremdbesitzer (z.B. der Verwahrer oder der Pfandgläubiger beim Faustpfand) Erfordert eine iusta causa possessionis (einen Rechtsgrund), z.B. Kauf, Schenkung Erforderlich für Ersitzung (usucapio) und für den Eigentumserwerb durch traditio (Übergabe) Aus dem röm. Recht stammt unsere heutige Eigentumskonzeption, § 903 BGB Sebastian Schneider, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Finkenauer, M.A. 28